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234

verhungern müssen, versprach ich, ihm noch selbige Nacht
Lebensmittel und 'nen festen Trunk zuzutragen.
Als ich nach der Stadt zurückkehrte, war das Erste,
was ich hörte, daß ein gefährlicher Raubmörder, Namens
Werbcland, auf dem kurz zuvor gelandeten Dampfer
cingetroffen sei und in der Stadt seinen Unterschlupf
gesucht habe. Mir fuhr's ordentlich in die Knochen;
denn gerade damals herrschte ein richtiges Detektivfieber,
so daß Altes in Bewegung gesetzt wurde, den Mörder
einzufangen, und ich, als Mitglied des Vigilance-
Komitö's, natürlich immer mit an der Spitze. Dadurch
wurde eS mir freilich erschwert, meinen Gefangenen vor
dem Hungertode zu bewahren; allein was in meinen
Kräften lag, das that ich gern, weil ich eine große An-
hänglichkeit für ihn gefaßt und selber meinen Kopf in
eine Schlinge gesteckt hatte, daß sie nur zugezogen zu
werden brauchte. Das dauerte drei Wochen, und Werbe-
land war sammt Mord und Todtschlag vergessen; ihn
aber unbemerkt aus der Stadt zu schaffen, war immer-
hin keine Kleinigkeit.
Während dieser Zeit befreundeten wir uns immer
enger, und manche Nacht verbrachte ich bei ihm auf
dem Hulk, wodurch ich zuerst auf den Plan gerieth,
später meine Wohnung daselbst einzurichten. Wenn ich
aber mit Werbeland beisammensaß, und wir spannen
über Dieses oder Jenes unser schwcrmüthiges Garn,
dann meinte ich, es sei unmöglich, daß solch' kluger
und mildherziger Gentleman sein Gewissen mit einem
schweren Verbrechen belastet haben könne. Das sagte
ich ihm gerade heraus; anstatt aber seine Schuld oder
Unschuld vor einem zuverlässigen Freunde zu bekennen,
erklärte er mit großer Bitterkeit: kein Mensch sei sicher
vor seinen eigenen Leidenschaften, wie er es nannte, daß
sie ihn bei Gelegenheit nicht überwältigten. Solche Rede
war mir ein Rnthsel und ist's geblieben bis auf den
heutigen Tag. Denn nicht mit einer Silbe sprach er
über sein Vorleben, und ihn viel d'rum zu befragen
erschien mir nicht angänglich. Wenn ich aber je einen
Menschen sah, der unter einer Last erfahrenen Leids
zusammenzubrechen drohte, so war er es.
Endlich kam die Zeit heran, daß ich glaubte, ihn
ohne große Gefahr aus der Stadt und deren Nachbar-
schaft herauslotsen zu können. Die Hauptschwierigkeit
bestand nur noch darin, daß er von wegen der großen
Last rind der freien Bewegung bis auf 'n paar tausend
Dollars sein Geld nicht mitnehmen konnte. Doch auch
dafür fanden wir Rath, indem er das Kistchen mit den
zehn- oder zwölftausend Dollars gehörig versicherte und
mir übergab. Oben drauf hatte er geschrieben: ,An
Herrn Careworn, St. Louis, auf der Post zurückzubehalten.'
Auch der Werth nebst Versicherung stand da verzeichnet,
daß es nicht verloren gehen konnte. Da ich es bald nach
seiner Flucht mit 'nem Dampfer abschickte, und er den
Careworn seinen treuesten Freund nannte, wird es ihm
wohl zu Händen gekommen sein. Mir wollte er ein Stück
Geld für meine Dienste zuwenden, ich erklärte aber, daß
Christenpflicht unbezahlbar sei, und so redeten wir nicht
weiter darüber. Wohin er sich zunächst wenden würde,
wußte er selber nicht. Das sollte nämlich vom Zufall
abhängig fein; er meinte aber, da 'ne Dampfergelegen-
heit gefährlich sei, möchte er sich wohl für die Ueber-
landreise entscheiden.
Es ivar am letzten Abend, den wir mitsammen
verbrachten, als er mir ein Packet Schriften übergab.
Darin befand sich Alles, was er an Aufschlüssen über
seine Vergangenheit besaß. Er würde es ungern ver-
lieren, sagte er, und doch dürfte er es nicht bei sich
tragen, wegen der Gefahr, daß fremde Augen auf
den Namen fielen und er dann nicht besser daran sei,
als jetzt, wenn er in die Hände des Vigilänce-Komitö's
geriethe. Auch könnte er sterben, und dann möchte
aus den Papieren viel Unheil für Andere herausgelesen
werden. Der Werbcland sei todt, behauptete er, wer
indessen an seiner Stelle weiter leben würde, das wüßte
er selber noch nicht. Auch glaubte er, Kalifornien oder
Oregon nie wieder zu betreten. Da es aber eine Mög-
lichkeit gab, gleichviel, wohin er verschlagen werde, daß
er die Schriften zurückzuerhalten wünschte, so hatte cr-
emen Weg ausgegrübelt, auf dem das zu bewirken sei,
ohne in eigener Person oder mit seinem Namen auf-
treten zu brauchen. Darauf zeigte er mir das Gold-
stück mit dem chinesischen Drachen. Ein sicheres Er-
kennungszeichen nannte er es, wenn Jemand mit dem
Dinge in der Hand vor mich hintrcten sollte, und daß
ich dem das Packetchen ohne Weiteres aushändigen möge.
Ferner trug er mir auf, wenn ich mein eigenes Ende
nahen fühle, das Packet in den Ofen zu werfen und so
lange zu beobachten, bis der letzte Fetzen als Asche aus
dem Schornstein geflogen sei.
Aus vollem Herzen gelobte ich Alles, und ehrlich
gesteh' ich's, hätte er ein halb Dutzend Morde begangen
gehabt, so wäre ich deshalb nicht anderen Sinnes "ge-
worden. Denn Mord und Mord ist ein Unterschied.
Der eine wird begangen aus Raubgier, und darauf
steht der Galgen; der andere um Frauenzimmer,
aus Nothwehr oder in der Uebereilung, und dann läßt
sich immer noch ein Wort darüber reden. Und so schieden
wir als gute Freunde von einander. Nächtens ruderte

Das Buch für Alle.
ich ihn eine Strecke in den Sakraments hinein. Sein
Gepäck bestand aus einer festen Jagdausrüstung, also
aus uicht mehr, als er mit sich forttragen konnte.
Ordentlich schwermüthig war mir um's Herz, als wir
landeten und uns zum letzten Mal die Hand drückten.
Mott segne Sie für Ihr Thun', rief er mir zu, als
er auf's Ufer sprang. Dort verschwand er im Dunkel,
und seitdem sah und hörte ich nichts mehr von ihm bis
zur jetzigen Stunde. Nur am zweiten Tage nachher
wurde ich noch einmal an ihn gemahnt, als ich das
Wandspinde da öffnete und auf dem untersten Brett
fünfhundert Dollars in Goldadlern aufgezählt vor
mir liegen sah. Das war freilich wider die Verein-
barung. Ich nahm's indessen hin als 'ne Art Segen
und Angedenken zugleich, weil ich nichts mehr d'ran
ändern konnte. — Verdammt! Wie Einem beim Erzählen
die Kehle trocken wird, und beim Zuhören gewiß nicht
weniger," und alsbald sprudelte der kostbare Madeira
wieder in die Gläser; „da ist's wohl in der Ordnung,
daß wir uns gegenseitig gut Glück zutrinken und —
es liegt oftmals nur an 'ner Kleinigkeit — dabei auch
unseres Freundes Werbeland gedenken."
Dann weiter, nachdem sie die Gläser geleert hatten:
„Einmal noch wurde ich freilich an ihn erinnert, und
das geschah ein paar Jahre später. Da war nämlich
ein gewisser Cenador, den sie wegen Mord verfolgten,
ebenfalls vom Kolumbiafluß herunter gekommen; der
fand aber Keinen, der sich seiner erbarmte. Auch
wär's 'ne Sünde gewesen; denn von dem galt's als
erwiesen, daß er aus wirklicher Mordlust Jemand um-
brachte, obwohl er selber ein schwer reicher Mann war.
Auch wollten ihn Manche als Jemand wieder erkennen,
der in früheren Jahren gemeinfam mit einigen Genossen
aus den Minen Mordbrennerei im oberen Kalifornien
betrieb, und da konnte ihn nichts vor dem Hängen
retten. Ich hätt's vergessen, aber damals gab's viel
Gerede d'rüber, weil er eine junge Frau hinterließ, die
sich in der Verzweiflung sammt ihrem einzigen Kinde
irgendwo in's Wasser stürzte. Kein Wunder, denn
welcher Mutter wäre es gleichgiltig, ihren Sohn mit
dem Namen eines Gehängten vor den Leuten einher-
gehen zu sehen. Doch das Packetchen —" schloß
Crawfish, indem er die Kajüte verließ. Als er nach
einer Weile zurückkehrte, händigte er Lilonel die wohl
verschnürten und versiegelten Papiere ein. „Das ist
nicht viel, aber Alles," bemerkte er dazu, „und daß es
so lange Jahre bei meinen Dollars verstaut gewesen,
kann ihm keinen Schaden gebracht haben. Sollten Sie
länger hier nm Orte bleiben und mich zu sprechen
wünschen, dann suchen Sie mich nicht abermals in
meinem Geschäft auf. Es ist nämlich kein Ort und
keine Gesellschaft für Sie, wo im Ucbermuth Pistolen
nbgeschossen werden und die Kugeln Einem um die Ohren
fliegen, wie die reifen Nüsse unter'm Baum beim Herbst-
sturm. Da findet auch wohl 'mal eine ihren Weg in
warmes Menschenfleisch, und gewöhnlich trifft's den Ehr-
lichsten und Harmlosesten. Vorkommenden Falls machen
Sie es wie heute, und so schnell läuft der Madeira
nicht aus, daß ich Ihnen in Jahr und Tag und dar-
über hinaus nicht einen wohlanständigen Trunk vor-
setzen könnte."
„Vor meiner Abreise besuche ich Sie auf alle Fülle.
Vielleicht entsinnen Sie sich bis dahin noch dieses oder
jenes Umstandes, der mir bei meinen Nachforschungen
förderlich sein könnte."
„Wohin werden Sie Ihren Kurs nehmen?"
„Nach Oregon hinauf. Ich will die Stätten be-
suchen, auf denen Werbeland muthmaßlich einst zu
Hause gehörte," antwortete Lionel. Er erhob sich und
sah nach der Uhr. „Die zweite Morgenstunde ist ab-
gelaufen," fuhr er fort, „wenn Sie daher die Güte
haben wollten, mich überzusetzen —"
„Gewiß, Herr, gewiß gern," fiel Crawfish bereit-
willig ein, „jedoch nicht, bevor wir einen Abschiedstrunk
gethan haben von wegen des unbestimmten Wiedersehens.
Mit den Papieren haben Sie mir 'ne rechte Last von
der Seele genommen, die um so schwerer wurde, je
flinker sich meine Jahre abspannen. Denn die Schriften
zu verbrennen fehlte mir der Muth, ich gesteh's ehr-
lich, mag ich mich immerhin schon eine Weile mit der
Absicht getragen haben."
Feierlich tranken sie sich gegenseitig zu, Crawfish
in dem erhebenden Bewußtsein, eine übernommene Ver-
pflichtung redlich erfüllt zu haben, Lionel mit den Em-
pfindungen eines mit neuen Verantwortlichkeiten Be-
lasteten. Je mehr er über die Vergangenheit seines
Freundes Jonas vernahm, um so dichter zogen die
Näthsel sich um ihn zusammen. Wo eins bis zu einem
gewissen Grade als gelöst erschien, tauchten andere um
so undurchdringlicher auf. Eindrücke der einander wider-
sprechendsten Art schwirrten in seinem Kopfe durchein-
ander. Wo sollte er den Schlüssel dafür suchen, daß
ein Charakter, der sich durch Menschenfreundlichkeit und
Milde im Urtheil auszeichnete, eine Blutschuld auf sich
geladen hatte, für die eine zügellos urtheilende Volks-
justiz nur die Sühne eines schmachvollen Endes ge-
kannt hätte? Er gedachte seines Schützlings, des Sohnes
jener unglücklichen Beatriz und ihres verbrecherischen

Heft 10.
Gatten, und Beklommenheit schnürte seine Brust ein.
Jetzt, nachdem die letzten noch waltenden Zweifel ge-
schwunden waren, fragte er sich, wie eS ihm gelingen
sollte, Vincenti dagegen zu schützen, daß ihm eines Tages
durch irgend einen verhängnißvollen Zufall die Kunde
des gewaltsamen Endes seines Vaters zu Ohren kam.
Und wenn er eS erfuhr: was stand bei seiner schwer
zu zügelnden Leidenschaftlichkeit zu befürchten, was zu
hoffen? Und er war ja keine Natur, die sich leicht
über einen Umstand himveggesetzt hätte, der für ihn
gleichbedeutend mit einer ihm bis in's Grab hinein
anhaftenden Brandmarke.
Schweigend verließ er den Hulk; schweigend ruderte
Crawfish ihn nach der Stadt hinüber. Dort trennten
sie sich wie langjährige vertraute Freunde von einander.
Als Lionel in dem Kosthause eintraf, begab Vin-
centi, der ihn mit wachsender Unruhe erwartet hatte,
sich auf seinen Rath zur Ruhe. Er selbst saß noch
lange bei brennender Lampe, vor sich auf dem Tisch
das Packetchen, welches er der Gewissenhaftigkeit des alten
Theers verdankte. Im Geiste wiederholte er sich immer
wieder dessen Schilderungen, die mehr geeignet waren,
ihn zu verwirren, als einen klaren Begriff von den Ein-
flüssen zu verschaffen, auf die Werbeland's träumerisches
Wesen zurückgeführt werden durfte. Wie gebannt hingen
seine Blicke an dem versiegelten Packet. Gleichsam un-
widerstehlich trieb es ihn, sich Kenntnis; von dem In-
halte zu verschaffen, und doch erschien es ihm wie ein
Frevel, wie ein Vertrauensbruch. Erst nach langem
Erwägen und Kämpfen mit sich selbst gelangte er zu
einem Entschluß. Hastig, wie um nicht wieder von
Zweifeln befangen zu werden, öffnete er die äußere Hülle,
und vor ihm lag eine Anzahl Briefe, und zwar, wie er
sich leicht überzeugte, nach der Zeitfolge geordnet. Und
abermals kostete es ihn Ueberwindung, mit dem Lesen
zu beginnen, bis er sich die letzten Worte vergegen-
wärtigte, die Jonas beim Ueberreichen des Talismans
an ihn richtete, und die doch nur als eine Bevollmächti-
gung gedeutet werden konnten.
Die ältesten Schriftstücke bezogen sich auf Geburt
und Namen. Briefe folgten, die, in freundlicher
Stimmung an den heranreifenden Sohn und Bruder-
geschrieben, Zeugniß von einem patriarchalisch regierten
Familienkreis ablegten. Mit einer weit zurückliegenden
Jahreszahl schlossen sie ab, als hätte jäher Tod Eltern
wie Geschwister fortgerissen oder das Geschick sie in
alle Welt zerstreut gehabt. Von da ab war eine Reihe
von Jahreszahlen gar nicht vertreten, bis endlich mit
Beatriz unterzeichnete Briefe auf die einst zwischen der
Schreiberin und Jonas bestehenden innigsten Beziehungen
hinwiesen. Nicht über zwei Jahre reichten diese hin-
aus. Andere, allerdings nur wenige, traten an deren
Stelle, Briefe, die, obwohl einen freundschaftlich tröst-
lichen Charakter tragend, dennoch hier und da, anscheinend
unabsichtlich, südlich glühende Leidenschaft durchblicken
ließen. Dabei fehlte in allen das Berufen auf be-
stimmte Thatsachen, die offen zu besprechen vielleicht
übergroße Vorsicht oder heimliche Scheu hinderten. Sie
schlossen ab mit einem Zettel kurzen Inhaltes von der-
selben Hand, der in krassem Widerspruch mit der Form
der vorhergehenden Briefe stand und jedem Anderen,
außer dem Empfänger, unverständlich bleiben mußte.
Briefe mit ausführlicheren Nachrichten über Dinge, die
vielleicht geheim gehalten werden sollten, schienen beim
Ordnender Schriftstücke ausgcschieden und vernichtet wor-
den zu sein. Darüber hinaus reichten Lionel's Muth-
maßungen nicht. Indem er aber den Zettel betrachtete,
immer wieder die dunklen Worte las, lugte es ihm
zwischen den Zeilen hervor wie Gespenster entgegen.
Wirre Bilder schuf die überreizte Phantasie, Bilder,
die weiter auszumalen er sich fürchtete. Was sollte cr
noch erfahren, was erkunden? Je lebhafter er sich mit
den sich vor ihm aufbauenden Rüthseln beschäftigte,
in um so höherem Grade wuchs seine Theilnahme für
Vincenti, wuchs sein ernster Wille, die Entschlossenheit,
das Aeußerste daran zu setzen, Licht in eine Sache zu
bringen, die ihm schon jetzt, im Falle des Mißerfolgs,
ein Gefühl der Nichtbefriedigung für spätere Tage ver-
hieß.
Der Morgen graute, als er sich endlich auf's Bett warf
und Uebermüdung ihm die Augen schloß. Bis in seine
Träume hinein verfolgten ihn die Mittheilungen des
alten Crawfish. Draußen regnete es in Strömen. Das
Rasseln der schweren Tropfen auf Dächern, gegen Fenster-
scheiben und in blechernen Rinnen ersetzte die heisere
Stimme des friedfertigen Klopffechters. —
Nicht in den nächsten Tagen wendete Lionel sich
nordwärts, sondern Wochen und Wochen, sogar Monate
dauerte es noch, bevor er sich zum Aufbruch rüstete.
Seine Bewegungen waren abhängig von den Nachrichten,
die Jurassic ihm gewissenhaft übermittelte. Als getreue
Freundin und Gehilfin bereitete sie gewissermaßen den
Boden für sein späteres Verfahren vor, und auf ihren Ein-
fluß war es namentlich zurückzuführen, daß er seinen
Aufenthalt in San Francisco bis zur äußersten Grenze
ausdehnte. Jeden neuen Tag, den Vincenti im alleinigen
engsten Verkehr mit ihm verbrachte, nannte sie einen Ge-
winn. Mit scharfem Verständniß behauptete sie, daß in
 
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