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Heft Ili.


Beleuchtung, die gewissermaßen auf den Feierabend var-
bereitet. Stille umschwebte das Gehöft. Was saust
Haus und Has fröhlich belebte, weilte nach draußen
auf Feld und Weide. Frau Dörte befand sich mit den
beiden, die Milchgefäße tragenden Mägden auf dem
Wege nach der Stelle, iva die Kühe ihrer bereits harr-
ten. Bräuer selbst und sein Sahn schritten hinter dein
Pflug einher, wozu das in der Nachbarschaft die Schafe
hütende Bürschchen sein lustiges Stückchen pfiff.
Der Wanderer war dem Strandwcgc hinter dem
Waldstreifen so weit nachgefolgt, bis er sich dem Bar-
werk beinah gegenüber befand. Dort trat er zwischen
Bäumen und Buschwerk hindurch in's Freie hinaus.
Er hatte indessen kaum den ersten Blick auf das Ge-
höft geworfen, als er betroffen stehen blieb. Wie einer
Sinnestäuschung wehrend, strich er mit der Hand über
die Augen, allein es änderte sich nichts: die Baulich-
keiten waren und blieben neu. Was von den ver-
morschten Baracken dem Niederreißen entrann, das lag
so versteckt hinter dein weißen, von braunrothem Ge-
bälk durchkreuzten Kalkputz, daß es vertrauter Augen
und eines scharfen Blickes bedurfte, um es herauszuer-
kennen. Und dazu das Storchncst, von welchem das
seit Jahren nicht gehörte unmelodische Klappern so selt
sam anheimelnd, gleichsam grüßend herübertänte. Er
konnte es nicht fassen. Sein Erstaunen wuchs, indem
er über die Feldmark hinspähte, wo statt der früheren
öden Brachfelder überall die Merkmale einer mit Fleiß
und Umsicht betriebenen Landwirthschaft sprechend her-
vortraten. Ueber sein gebräuntes, bärtiges Antlitz glitt
ein Ausdruck peinlichen Befremdens. Sollte Jonas
die letzte ihm gebliebene Scholle dennoch, wenn auch
nur zur Nutznießung an Waterfuhr abgetreten haben?
fragte er sich zweifelnd. Er konnte es nicht glauben,
hielt es für unmöglich. An dein Vorwerk vorbei
schweiften seine Blicke bis dahin, wo, in bläulichem
Äbendduft schwimmend, die langen Scheunen, das hoch-
ragende Herrenhaus und das Kirchlein, halb versteckt
von Parkbäumen, in seinem Gesichtskreise lagen, jene
vertraute Stätten, auf denen er seine Kindheit in glück-
licher Sorglosigkeit verlebte. Dort hatte sich nichts
geändert. Alles war wie damals, als er es zum letzten
Mal sah. Ob da ein anderer Besitzer waltete, das be-
einflußte nicht den äußeren Charakter. Doch das Vorwerk,
das Vorwerk! Unerhört erschien ihm, daß Jemand sich
irgend welche Eingriffe in sein Eigenthum erlaubt haben
sollte, und doch war es geschehen. Wo aber weilte
Jonas, daß dergleichen überhaupt ausführbar gewesen
war? Lebte er noch als Einsiedler in seiner Waldes-
klause oder hatte man ihm jedes Anrecht an das Vorwerk
hinterlistig abgestritten, infolge dessen er verzog? War
er gar gestorben? Seit bald drei Jahren hatte er, der
Vereinbarung gemäß, nichts von ihm gehört: was konnre
in diesem Zeitraum auf ihn und seinen Schützling
hereingebrochen sein. In seinem Kopfe schnurrte Alles
wild durcheinander. Als Hütte er die seiner harrende
Erklärung gefürchtet, ließ er sich auf einem der den
Landweg begrenzenden Prellsteine nieder. Die van
seiner Schulter nicderhängende Reisetasche auf den
Knieen, stützte er Hände und Kinn auf den Wander-
stab. Schon früher, vor langen Jahren, hatte er dort
gesessen und gerastet, wenn er, zu den Ferien hcimkehrcnd,
jubelnden Herzens denselben Weg und dieselbe Art des
Reisens wählte. Nicht frohe Jugendlaune trieb ihn
heut, wie damals, thcure Angehörige und die nicht
minder geliebte Gespielin zu überraschen: sondern un-
bemerkt wollte er in sein eigenes zerfallenes Heim
schleichen, um auszuruhen nach langer mühevoller Welt-
fahrt: und jetzt, da er es vor sich sah, erkannte er es
nicht wieder. Er zagte, es zu betreten, fürchtete die
Nachrichten, die seiner vielleicht harrten. Hinter ihm
rauschte und schnarchte die Brandung dagegen befreun-
det, wie in alten Zeiten. Auch die Dohlen behaupteten
noch immer ihre angestammten Horste. Schreiend flat-
terten sie zwischen den Wipfeln der Tannen, auf ihren
weiteren Ausflügen die Nähe des Gehöftes mißtrauisch
meidend. Was anderen Augen schmeichelte, das erschien
ihnen beängstigend.
Nach kurzer Rast erhob er sich schwerfällig. Lang-
sam schritt er auf das freundlich beschattete Wohnhaus
zu. Vor der sauber gezimmerten Thür blieb er aber-
mals stehen. Mit Widerwillen betrachtete er den neuen
Schloßgriff. Zögernd streckte er die Hand nach ihm
aus, ließ sie aber sinken, als auf der anderen Seite
das Knurren eines Hundes laut wurde.
„Kusch Dich!" ertönte eine Helle, glockenreine Stimme.
Die Thür öffnete sich, und auf die Schwelle trat Eva.
Ja, Eva selber: und doch meinte Lionel eine Andere
vor sich zu seheu. Ja, da stand sie, groß und schlank
herausgewachsen, wie eine junge Tanne. In dem knapp
anschließenden Leibchen, dem kleidsamen faltigen Rock,
der weißen Latzschürze mit den beiden Taschen, dem
vom Gürtel niederhängenden Schlüsselbund und auf
dem Kopfe einen Strohhut groben Geflechtes bot sie
das Bild einer rührigen Wirthschafterin, deren Anmuth
und frische kräftige Haltung durch die rege Arbeit im
Freien noch eine gewisse Weihe empfing. Doch wie
der Körper, hatte auch das liebe vertraute Antlitz sich

Das Buch für All e.
wunderbar entwickelt, daß Lionel, wie kurz zuvor beim
Anblick des verjüngten Gehöftes, auch jetzt glaubte, die
Wirklichkeit bezweifeln zu müssen. Sprachlos vor Er-
staunen sahen Beide aufeinander hin. Während es
aber wie ein Centnergewicht von Lionel's Brust sank,
war die rosige Farbe von Eva's Wangen zurückgetreten.
Doch nur einige Sekunden, und ihr ganzes Antlitz er-
glühte wieder in überschwänglicher Freude.
„Ich konnte es nicht ahnen — ich war so erschrocken,"
stammelte sie in süßer Verlegenheit, und fie reichte
Lionel beide Hände, „einen Fremden vermuthetc ich —
der Hund knurrte feindselig — und da sind Sie selber.
Gott sei Dank" — und es schwand die letzte Spur
von Befangenheit — „nur haben so oft um Sie gesorgt
und gebangt," und als hätte es sich von selbst verstanden,
duldete sie willig, daß Lionel, wie einst beim Abschied,
sie jetzt beim Wiedersehen küßte.
„Ja, da bin ich," versetzte er, förmlich aufathmend
nach den ihn zuvor bestürmenden Befürchtungen, indem
sie in das HauS hincinschritten, dessen Flurgang eben-
falls eine überraschende Umwandlung erfahren hatte,
„da bin ich, und viel fehlte nicht, daß ich vorbei ging
oder umkehrte, so fremd war mir Alles geworden."
„Wie ich cs wohl hundertmal prophezeite, wenn
ich beobachtete, wie kaum ein Stein auf dem anderen
gelassen wurde," erwiederte Eva mit einem glücklichen
Lachen, „und ebenso oft vergegenwärtigten nur uns
Ihr Erstacmen über die Gewissenhaftigkeit, mit der Ihr
Eigenthum verwaltet worden."
„Und Onkel JonaS" — hob Lionel an, indem er
erwartungsvoll stehen blieb, als Eva zutraulich lebhaft
einfiel:
„Zum Förster gegangen, um noch einige Dutzend
Bohnenstangen zu taufen. Schade, er hatte sich so un-
endlich darauf gefreut, den ersten Eindruck zu beobachten,
den die vielen Neuerungen auf Sic ausüben würden,"
und rührender Eifer leuchtete aus ihren großen un-
schuldigen Kinderaugen, indem sic am liebsten Alles
auf einmal verkündet hätte. „Er wird mich beneiden —
ivic Sie braun und bärtig geworden sind! — Doch
kommen Sie in Ihr Zimmer. Bitte, geben Sie mir
die Reisetasche — so — Ihr Zimmer blieb freilich aus
übergroßer Pietät die alte Rumpelkammer," schaltete sie
wunderbar verschmitzt ein — „wogegen wir Anderen
uns in großem Styl einrichteten." Ohne sie zu unter-
brechen lauschte Lionel der kosenden Stimme, deren
jeder einzelne Ton wie Perlen von den blühenden
Lippen tropfte, als es in der Ueberstürzung der Freude
weiter hieß: „Hier rechts wohnen nach wie vor die
guten Bräuers: nebenan, uw eine Thür durchgebrochen
werden mußte, ihr Sohn, was der Kürassier ist" —
verstohlenes Lachen begleitete diese Bezeichnung —
„und der jetzt bei uns als Pferdeknecht dient. Das
eine Giebelzimmer oben wurde für mich ausgebaut:
in dein anderen schlafen die Mägde. Bitte, links,"
und sic öffnete eine Thür, Lionel höflich den Vortritt
in ein mit nur wenigen Möbeln ausgestattetes Gemach
einräumend. „Hier des Onkels Reich. Dort unser
Eßtisch. Drüben liegt sein Schlafkämmerchen. Alles
spartanisch einfach. Meine dringenden Vorstellungen,
für sich ebenfalls etwas zu thun, blieben stets erfolglos."
„Ich kenne ihn, Evchen," versetzte Lionel, der wie
im Traum neben der lieblichen Hausfee einherschritt,
„für Andere Alles, für sich selbst kaum das Noth-
dürftigste."
„Und doch so glücklich und zufrieden," fügte Eva
innig hinzu. Sie legte die Hand auf den Drücker der
zu dem einstigen Zimmer seines Vaters führenden Thür,
öffnete aber nicht, sondern ihre glückstrahlenden braunen
Augen voll auf die Lionel's gerichtet, bemerkte sie unter
zauberischem Erröthen: „Sie werden sehr vorlieb nehmen
müssen. Auch von Ihnen hieß es, Sie seien mit dem
Einfachsten zufrieden: da wollten nur nicht zu viel auf
den unbewohnten Raum verwenden."
„Mit dein Einfachsten, Evchen," bestätigte Lionel
gefällig, obwohl er hinter ihren Worten Verräthcrei
ahnte, „ich war nie verwöhnt, werde es auch jetzt nicht
mehr werden, wenn nicht durch die Beweise eines mir
treu bewahrten Andenkens."
„So treten Sie ein, Herr Lionel v. Nadelhain,"
versetzte Eva. Sie öffnete und wich mit einer ehrer-
bietigen Verneigung zur Seite. Dann überwachte sie
mit beinah athemloser Erwartung sein Antlitz.
Lionel war auf der Schwelle stehen geblieben.
Während seine Blicke durch das verhültnißmäßig ge-
räumige Gemach schweiften, wurde sein Antlitz ernster
und ernster, bis endlich nur allein noch tiefe Rührung
es beherrschte. Ja, es war dasselbe Zimmer, welches
der alte Herr während seiner letzten Lebensjahre be-
wohnte. Aber höher war es geworden und lichter
durch das Einfügen größerer Fenster, durch Helle Ta-
peten und weiße Gardinen, die, zierlich aufgerafft, bis
zum Fußboden niederhingen. An Möbeln entdeckte er
dagegen nur solche, die er von alten Zeiten her kannte,
die von Jochen Bräuer auf der Auktion hinterlistig
unterschlagen worden waren und an die sich für ihn
unzählige freundliche und ernste Erinnerungen knüpften.
So waren auch die Wände mit geretteten Geweihen

bedeckt. Sogar das Glasspinde mit den Büchern fehlte
nicht, >vie viele andere Dinge, die auf der Versteigerung
keine Kauflust anregten und daher zurückgestellt wurden.
Auf dem mit einer weißen Serviette bedeckten, durch
hohes Alter geweihten Tisch stand eine zierliche Por-
zellanvase mit einem Strauß frischer Rosen.
Lionel kehrte sich erstaunt Eva zu. „Und dennoch
wurde ich erwartet," bemerkte er freundlich, indem er
auf die Blumen wies.
„Gehen Sie nur hinein," bat Eva kindlich treuherzig,
„es ist ja Ihre eigene Wohnung — nein, nein, Ihr
Kommen ahnten wir nicht: die Rosen beweisen es am
wenigsten: denn seitdem wir einen Ueberfluß an Blu-
men ziehen, ließ ich es mir angelegen sein, sie gerade
hier regelmäßig zu erneuern. Onkel Jonas meinte sel-
ber, man könnte glauben, Sie wären überhaupt nicht
fortgegangen, höchstens auf's Feld hinaus, um dort
zum Rechten zu sehen, oder auf die Jagd."
„Eine Ueberraschung immer noch freundlicher als
die andere," sprach Lionel bewegt, indem er ablegte,
„wer ersann dies Alles und verwirklichte es in so
liebevoller Weise?"
„Wir, wir allein und ganz allmülig," antwortete
Eva stolz, „was mehr Kräfte erforderte, übernahmen
Onkel Ionas und Jochen Bräuer. Auf mich entfielen
dagegen die Gardinen, das Ordnen der Bücher, die zu
erhaltende Sauberkeit und die Einrichtung Ihres kleinen
Schlafgemaches. Alles weiß und frisch, wie Sie sich
überzeugen werden und wie es einem Herrn v. Radelhain
gebührt. Wäsche aller Art wurde ebenfalls so viel ge-
rettet, daß Sie in zehn Jahre nicht an neue zu denken
brauchen. Ebenso Porzellan und etwas Silberzeug —
Kommoden und Schränke bergen noch Schätze — ich
verlasse Sie jetzt auf eine Minute. Sie sind einen
weiten Weg gekommen und sehnen sich nach Erfrischung,"
und fort war sie, Lionel in einer Stimmung zurück-
lassend, von der er nicht wußte, ob er es Wachen oder
Träumen nennen sollte.
Langsam wandelte er auf und ab, bald einen Blick
über den Hof hinseudend, bald wieder vor einem Fa-
milienbilde stehen bleibend. In seinen Ohren vibrirte
noch immer die wohlklingende Stimme Eva's. Weder
ihm noch ihr selbst war aufgefallen, daß sie im warmen
Eifer das Wort allein führte, an nichts Anderes dachte,
als ihn zu bedienen, ihn über Alles zu unterrichten
und ihm die Heimkehr, den Eintritt in sein Haus so
freundlich wie nur immer möglich zu gestalten. In
seinem Herzen aber lebte es wie ein Segen, der dem
treuen Freunde galt und dessen lieblicher Schutzbe-
fohlenen, deren erste Begrüßung beim Ueberschreiten
der heimathlichen Schwelle ihm wie eine günstige Vor-
bedeutung erschien.
Flink, und doch geräuschlos und anmuthig schwebte
Eva wieder herein. Neben sich trug sie eine Kanne
Wasser, in der anderen Hand eine gefüllte Krystall-
flasche. Schweigend schlüpfte sie in die Schlafkammer.
Aus dem dort erzeugten Geräusch errieth Lionel, daß
sie den Waschtisch für ihn ordnete. Gleich darauf war
sie wieder da, und ein Fach der großen Kommode öff-
nend, entnahm sie demselben mehrere blendend weiße
Handtücher.
„Hier finden Sie Alles, dessen Sie bedürfen, und
so geordnet, daß Sie nicht zu suchen brauchen," belehrte
sie im Davonschreiten, und aus dem Schlafgemach zu-
rückkehrend, fuhr sie kindlich gesprächig, jedoch mit der
überlegenden Ruhe einer gereiften Hausfrau fort:
„Jetzt sollen Sie ungestört bleiben. Ich stelle mich
unterdessen auf die Lauer. Unabsichtlich verkümmerte
ich dem Onkel die Freude, Sie zu empfangen und in
Ihr Haus einzuführen. Dafür bin ich ihm eine Ent-
schädigung schuldig. Wenn Sie nur die Güte haben
wollten, sich nicht bemerklich zu machen. Er muß
übrigens bald heimkehren; der Zwang kann also nicht
lange dauern."
Lionel versprach das Beste. So lange hatte er das
Evchen früherer Jahre, die jetzt holdselig erblühte
Jungfrau schweigend beobachtet. Nicht die kleinste ihrer
überaus anmuthigen Bewegungen während des geschäfti-
gen Wirkens war ihm entgangen, kein Blick aus den
freundlichen großen Augen, die gewissermaßen überall
zugleich waren, und nichts Anderes hatte er, neben der
innigen Freude über seine Heimkehr entdeckt, als den
glühenden Eifer, ihm zu dienen, sich anspruchslos ihm
unterzuordnen. Jetzt aber konnte er nicht anders: als
sie so schlank vor ihm stand, so unbefangen und zu-
traulich zu ihm aufsah, da ließ er, wie in früheren
Tagen, seine Hand schmeichelnd über das liebliche Haupt
hingleiten.
„Evchen, Evchen, wie sind Sie schön herausgewachsen,"
sprach er gerührt, „verständig waren Sie ja von jeher;
aber die Gabe, einen einsamen Wanderer wieder mit
der Welt auszusöhnen, die, Evchen, hätte ich Ihnen
kaum zugetraut."
Ueber Eva's Antlitz flog eine Wolke der Enttäuschung,
und in flehendem Tone floß von ihren Lippen: „Bin
ich Ihnen so fremd geworden?. Früher nannten Sie
mich anders."
„Auch das noch, Evchen?" versetzte Lionel unendlich
 
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