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Das B u ch s ii r A l l c

Ljett Li.

er hatte ja auch keine Zeit dafür. Wenn er um sechs
Uhr früh Morgens fortging, würde er sich ebensowenig
mit der Kleinen freuen können, wie Abends, wenn er
heimkehrte. Blieb die kurze Mittagsstunde und da
störte das Kind ihm den gewohnten schlaf.
Jener warmen, selbstvergessenen Neigung, die solche
Kinder brauchen, war er überhaupt nicht fähig. Woher
auch? Hatte denn ihn jemals ein Mensch geliebt? War
ihm je einer wirtlich zugethan gewesen? Fm Gegen
theil: gefürchtet war er worden, seit er denken konnte.
Im Waisenhause, in der Kaserne, im Gefängnis; hatte
er immer nur ein
Ziel vor Augen
gehabte sich in Re¬
spekt zu setzen. Und
das macht man nicht
durch Liebe!
Also, das kleine
Ding kostete ihn
Geld, legte ihm
Verpflichtungen,
Rücksichten auf,
störte ihn, es hielt
seine Frau ab, wie
früher, etwas ne¬
benher zu verdie¬
nen — ja, man¬
chesmal mußte er
des Kindes wegen
sogar mit dem Essen
warten! Die Kleine
ärgerte ihn — war
ihm nn Wege.
Wenns noch ein
Junge gewesen
wäre, aus dem man
einmal einen for-
schenSoldaten hätte
machen können!
Aber ein Mädchen!
Was würde aus
der werden! Was
ihre Mutter war:
eine, die Klavier
klimpern und Ro¬
mane lesen möchte.
Noch war das
Kind kaum em hal¬
bes Jahr alt, und
schon war der Un¬
friede als bleiben¬
der Gast eingezogen
in die Wohnung
Konrad Helm's.
Die junge Frau gab
sich völlig der Pflege
des kränklichen Kin¬
des hin; beim besten
Willen geschah es
oft, daß sie ihren
Mann darüber ver¬
nachlässigte.
Er schaute finster
drein, kam wohl
auch nicht zu Disch
oder ging Abends
indie^neipe,wurde
immer unleidlicher.
Und als er gar eines
Tages den Dienst
um volle zehn Mi¬
nuten versäumt
hatte, weil Anna
mit dem Kinde zum
Arzt gegangen war,
und ihr Mann nicht
rechtzeitig den Disch
gedeckt fand, da
brach die lange zu
rückgehaltene Roh¬
heit seiner Natur
los. Er schalt und
beschimpfte die arme Frau, er wurde so grob, daß auch
die sanftmüthige, geduldige Anna sich zusammenrasfte und
ihm entgegenhielt: „Es ist ja Dein Kind, wegen dessen
ich mich verspätete!"
Diesmal schwieg er betroffen: sie hatte ihm noch nie
widersprochen.
Aber sic that das nun öfter; und immer nut jener
überlegenen etliche, die ihn so sehr reizte, die ihn außer
sich gerathen ließ.
Häufiger und heftiger wurden die Zwistigkeiten
zwischen den Beiden. Das kranke Kind erforderte Auf-
wendungen, welche sich bei aller Sparsamkeit nicht von
dem knappen Kostgelde machen ließen. Und jedesmal,
wenn Anna einen kleinen Zuschuß erbitten mußte, gab
es wüsten Lärm im Hause.
Bis zu jenem Tage, da es wieder ganz still ge

worden war. Als Konrad am Morgen jenes dienst-
freien Vormittags sich fertig machte, um einige Privat-
wege zu thun, fiel ihm ein, daß er auch zur Sparkasse
gehen, eiiic kleine Einzahlung machen wollte.
„Gib mir das Sparkassenbuch, Anna," sagte er.
Er sah nicht, wie seine Frau erschrak; er achtete
auch nicht daraus, daß sie zögerte. Erst, als er die
Mütze ausgesetzt halte, wurde er gewahr, daß das Buch
noch immer nicht bereit lag.
„Run — wo ist das Buch?" fragte er gereizt.
Anna mochte wohl gehofft haben, er würde nicht

darauf zurückkommen. Mit blassen Lippen stammelte
sie: „Ich — ich weiß es nicht!"
Er fuhr zusammen — er war in seinem Heiligsten
getroffen.
„Das lügst Du!" schrie er sie zornfunkelnden Blickes
an. „Das Buch her — oder —"
Sie raffte sich auf, ging zur Kommode und nahm
das Buch von der Stelle, wo es stets zu finden war.
Nun reichte sie es ihm hin, fest und sicher, als hätte
sie nichts zu fürchten.
Er aber hatte kaum einen Blick hineingeworfen, als
er, außer sich vor Wuth, ein rohes Schimpfwort aus-
stieß und einen Schlag nach ihr führte. Sic taumelte
zurück find in der Art, wie sie ihn ansah, lag etwas,
das ihn bändigte und von weiteren Mißhandlungen
zurückhielt. Mit einem halb erstickteil Fluch ging er

Draußen erst, als er das Buch einstecken wollte, fiel
ihm ein Blättchen Papier in die Hand: eine guittirte
Rechnung vom Bandagisten, der Fußschienen für die
kleine Kouradine angefertigt hatte. Der Rechnungs-
betrag stimmte auf den Pfennig mit jenem überein, der
von seinem Sparguthaben abgehoben war.
Als Konrad an diesem Mittag heimkehrte, hatte
Anna mit dem Kinde das Haus verlassen.
„Ich gehe," hatte sie auf einem Zettel hinterlassen,
„weil ich nicht länger Deine Rohheit ertragen kann.
Vergiß mich, mit der Du nichts gemeinsam hattest."
Er lachte nur
zornig auf. Diese
hochmüthige Per-
son, die ihm da noch
zu guter Letzt im-
poniren wollte!
Mochte sie gehen!
Mit Befriedigung
sah er, daß sie nichts
mitgenommen hatte,
als einiges Unent-
behrliche für die
Kleine. Ihm war's
recht. —
Ein paar Tage
schmeckte ihm die
neugewonnene
Freiheit. Er aß
wieder in derKneipe
neben dem Gefäng-
nis; und konnte sich
dannnocheine halbe
Ltunde auf's Ohr
legen, ohne daß ihn
das Kind weckte.
Und Abends
qualmte er aus sei-
ner langen Pfeife
die Stube voll, ein
Vergnügen, aufdas
er hatte verzichten
müssen, seit dieim-
merhüstelndeKleine
da ivar.
Soldatisch ge-
wöhnt und lange
genug Junggeselle
gewesen, konnte er
für leidliche Ord-
nung in seinen vier
Pfählen schon selbst
sorgen. Nur, daß
er bald bemerken
mußte, ivie er seit-
her erheblich mehr
als Ordnung ge-
nossen hatte. Die-
selbe Frau, die er
in den ganzen zwei
Jahren eigeinlich
nur ivie einen über-
flüssigen Lurus an-
gesehen hatte, be-
gann ihm auf
Schritt und Tritt
zu fehlen. Man-
chesmal zog er sich
spät Abends noch
an gmd ging in's
Wirthshaus. Aber
auch da fühlte er
sich nicht behaglich-
Erwußte, daß man
es nicht gerne sah,
wenn die Gefäng-
uißbeamtcn sich un-
ter das Publikum
mischten. Ueberdies
erging es ihm mit
diesem Publikum
fast, wie mit seiner
Frau: er hatte nichts gemeinsam mit jenen Leuten,
die über Politik sprachen - was er pflichtschuldigst
vermied —, die in ihrem Gcwerbslcben, in der Er-
ziehung ihrer Kinder, in ihren Wünschen, Hoffnungen
und Beschwerden tausend Berührungspunkte miteinander
fanden. Er kam sich ihnen gegenüber vor wie ein Frem-
der, der ihre Sprache nur mangelhaft verstand.
Von seiner Frau sah und hörte er nichts. Nun,
er würde sie nicht rufen! Er würde sich schon wieder
daran gewöhnen, allein zu sein. Hatte er doch so lanfck
Jahre ohne Jene gelebt — ohne diese einfältige, ein-
gebildete Närrin, die es viel zu gut bei ihm gehabt
hatte!
Ein Zwischenfall brachte Abwechslung in dieses öde
Einerlei. Konrad hatte Nachtdienst und saß stumm und

Die istermania-istieöekgruppe für das neue deutsche Iteichstagsgedäudc tu ZZerti». (S. 511)
 
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