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Gesellschafterin handle, bedrängte sie die ehemalige Ver-
lobte ihres Schwagers mit Bitten, ihr zur Feier des
Wiedersehens ein Stündchen unter vier Augen zu
schenken.
„Ich weis; ja, daß Dich die Geschichten, die nach
Deiner Abreise da unten in dein Neste passirt sind,
nicht mehr zu kümmern brauchen/' plauderte sie in
ihrer redseligen Weise weiter, „aber vielleicht weiß ich
doch das Eine oder das Andere zu erzählen, das Dich
interessiren könnte. Am Ende thust Du auch ein gutes
Werk, denn ich habe in den zwei Tagen meines Hier-
seins noch keine einzige Halbwegs amüsante Bekannt-
schaft gemacht, und in dem Augenblick, da ein glück-
licher Zufall uns zusammenführte, war ich buchstäblich
nahe daran, vor Langeweile zu sterben."
Sicherlich war es nicht dies letzte Argument, welches
Hertha bestimmte, ihrer Aufforderung Folge zu leisten
und Frau v. Haller mit einigen freundlichen Worten
zu verabschieden. Aber die Geschichten aus dem „Neste
da unten", von denen Alexandra mit einem gering-
schätzigen Aufwerfen der Oberlippe gesprochen hatte,
schienen für sie nicht ganz so bedeutungslos zu sein,
als Jene es vorausgesetzt; denn die beiden Damen
saßen einander kaum in dem reizenden kleinen Boudoir
gegenüber, welches Alexandra nebst einem Schlafgemach
und einem Ankleidezimmer im ersten Stock des Hotel
de Nice bewohnte, als Hertha fast ungeduldig fragte:
„Du sagtest, daß es gerade mir nicht schwer fallen
könnte, die Beweggründe für Deinen überraschenden
Entschluß zu errathen — willst Du nicht die Güte
haben, mir das etwas deutlicher zu erklären?"
Frau Alexandra zündete sich eine Eigarette an, und
lächelnd, daß all' ihre weißen, spitzigen Vorderzühnchen
zwischen den rothen Lippen hervorschimmerten, erwie-
derte sie: „Aber glaubst Du denn, Du Närrchen, daß
ich nicht so gut wie alle Welt wüßte, weshalb Du
Deine Verlobung nut dem armen Werner so plötzlich
löstest; und wähnst Du, ich Hütte es Dir nicht nachthun
dürfen, nur weil ich bereits durch festere Bande an
diese ehrenwerthe Familie gefesselt war? Jetzt, da das
Alles glücklicherweise weit hinter uns liegt, brauchen
wir uns doch wahrhaftig keine Komödie mehr vor-
zuspielcn."
„Eine Komödie? Ich verstehe Dich nicht, Alexandra!
Deine Beweggründe sind gewiß von sehr schwerwiegen-
der Art gewesen, da sie Dich ja zu einem so außer-
ordentlichen Entschluß getrieben; aber was sie mit den
meinigen zu schaffen haben sollten, vermag ich wirklich
nicht zu begreifen."
Wie ehrlich auch der Ausdruck des Erstaunens auf
ihrem Antlitz sein mochte, Frau Alexandra wiegte doch
mit etwas spöttischer Miene das Haupt.
„Du bist eine allerliebste Schauspielerin, mein
Herz! Aber ich will nicht indiskret sein, obwohl wir
heute, und da wir ganz unter uns sind, recht gut mit
voller Offenheit darüber reden könnten. Ich für meine
Person wenigstens will mich gar nicht besser machen,
als ich bin, und will ganz offen einräumen, daß ich
vielleicht noch heute das zweifelhafte Glück genösse, des
Herrn Bruno Flemming Gattin zu heißen, wenn nicht
die große Katastrophe neben allein Anderen auch das
ohnedies nicht sehr fest gefügte Gebäude unserer Ehe
zertrümmert hätte."
„Was für eine Katastrophe ist es, von der Du da
sprichst? Ist denn dem Hause Flemming ein besonderes
Unglück widerfahren?"
Frau Alexandra richtete sich aus ihrer bequemen
Stellung auf und neigte den Oberkörper vor, um der
jungen Wittwe besser in's Gesicht sehen zu können.
„Du weißt also wirklich nicht, daß das Haus Flem-
ming, soweit darunter die kaufmännische Firma zu ver-
stehen ivar, überhaupt nicht mehr existirt, und daß es
nur durch eine Reihe unvorhergesehener Glücksumstände
vor dem Bankerott bewahrt worden ist? Du hättest
von der verzweifelten Lage des Herrn Ernst Flemming
nichts geahnt, als Du ihm zugleich mit der Schwieger-
tochterschaft auch die Verwaltung Deines Vermögens
kündigtest?"
„Alexandra!"
Hertha war dunkelroth geworden, und aus ihren
Augen blitzte sprühend der Zorn; aber sie bezwang sich
rasch, denn es war ihr jetzt offenbar vor Allem darum
zu thun, die ganze Wahrheit zu hören.
„Deine Frage könnte mich fast beleidigen," fuhr sie
nach einem sekundenlangen Schweigen fort, „wenn ich
nicht die Gewißheit hätte, daß Du Dich in einen: Jrr-
thum befindest, oder daß wir uns Beide mißverstehen.
Aber ich bitte Dich von Herzen: laß mich Alles er-
fahren, was sich nach meiner Abreise zugetragen hat.
Du wirst meine Spannung begreifen, wenn ich Dir
zuschwöre, daß Deine erschreckenden Andeutungen das
Erste waren, was ich über jene Vorkommnisse ver-
nommen."
Frau Alexandra schüttelte den hübschen Kops, trotz
dieser Versicherung offenbar noch immer von einigen
leisen Zweifeln erfüllt. Aber sie gab denselben jetzt
wenigstens keinen offenen Ausdruck mehr, sondern
sagte', sich wieder in ihren Schaukelstuhl zurücklehnend
Das Buch für All e.
und die Cigarette zwischen den rosigen Fingerspitzen
drehend, lässigen Tones: „Gut denn — auf die Gefahr,
Dich zu langweilen, mein Schatz! Denn da Du noch
gar nichts weißt, bleibt mir ja nichts Anderes übrig,
als von vorne anzufangen, und ich kann mir nicht
recht vorstellen, daß diese abgethane Geschichte jetzt noch
ein besonderes Interesse für Dich haben sollte. — Es
mar am Morgen desselben Tages, an welchem Du Ernst
Flemming's Haus auf Nimmerwiederkehr verließest, als
mein Herr Gemahl mit aschfahlem Gesicht und zittern-
dem Kinn in mein Toilettenzimmer stürzte, um mir
als große Neuigkeit mitzutheilen, daß sein Vater rui-
nirt sei, und noch heute den Konkurs anmelden müsse,
wenn ich mich nicht dazu verstände, als rettender Engel
auf der Bildfläche zu erscheinen und mit dem Zauber-
stab meines Vermögens das drohende Unheil abzu-
wenden."
„Und das verhielt sich in der That so?"
„Leider ja. Natürlich nahm ich die Sache im ersten
Augenblick nicht ernst, denn ich hatte bis dahin in der
felsenfesten Ueberzeugung gelebt, daß mein Schwieger-
vater ein steinreicher Mann sei. Ich begnügte mich
also damit, meinen Gatten einfach auszulachen und
seelenruhig in meiner Toilette fortzufahren. Aber je
mehr herzbewegliche Einzelheiten er vorbrachte, desto
verdächtiger wurde mir die Geschichte. Werner's Ver-
lobung sei seit gestern aufgehoben, sagte er, Du, liebe
Hertha, habest bereits das Haus verlassen, und gerade
der Umstand, daß Dein bisher in dem Bankhause ar-
beitendes Vermögen sofort zur Auszahlung bereit ge-
halten werden müsse, habe die Katastrophe, die sich sonst
gewiß hätte vermeiden lassen, plötzlich in so furchtbare
Nähe gerückt. Vielleicht sei auch jetzt noch eine Rettung
oder wenigstens ein Aufschub des Zusammenbruches mög-
lich gewesen, wenn nicht unglücklicherweise Werner von
Neustadt herübergekommen wäre und in seinen: dum-
men Rechtschaffenheitsdusel Alles gleich bis auf die
äußerste Spitze getrieben Hütte. Mit schnöder Hinterlist
sei man gegen ihn — gegen meinen armen, unschuldigen
Gatten nämlich — vorgegangen; denn während er
ahnungslos im Klub gesessen und mit gewohntem Pech
ein paar hundert Mark verspielt habe, sei sein Vater
in Geineinschaft mit dem Prokuristen und mit diesem
verrückten Staatsanwalt die ganze Nacht hindurch damit
beschäftigt gewesen, im Komptoir Auszüge aus den
Büchern zu machen und — so gut es sich eben in einer
einzigen Nacht thun läßt — eine Bilanz zu ziehen.
Nicht einmal das Resultat dieser Todtengräberarbeit
habe inan ihm ziffermäßig mitgetheilt, wie wenn er
nichts von diesen Dingen verstände oder kein Wort
dreinzureden hätte. Natürlich habe er sich aber sein
gutes Recht nicht nehmen lassen und entschieden gegen
jede Uebereilung, wie Konkursanmeldung und dergleichen
prostetirt. Achselzuckend habe ihn sein Vater an Werner
verwiesen und mit diesen: sei so wenig zu reden ge-
wesen, wie mit einen: Felsblock. Er habe all' seine
Beredtsamkeit aufgeboten, habe gefordert, gedroht, ge-
beten, aber dem Starrsinn dieses gefühllosen Menschen
gegenüber sei Alles umsonst gewesen, und das Unglück
sei somit unabwendbar, wenn ich nicht mit meinem
Vermögen der wankenden Finna zu Hilfe käme."
„Thatest Du das?" warf Hertha ein.
„Ganz und gar nicht, mein Schatz. Mein Entschluß
war gefaßt, ehe noch mein lieber Mann mit seiner
Geschichte auch nur halb zu Ende gekommen war. Ich
erklärte ihm mit angemessener Entschiedenheit, daß mein
Interesse an dem Weiterbestehen der Firma Ernst
Flemming denn doch keineswegs groß genug sei, um
mich zu einer Handlung unverantwortlichen Leichtsinns
zu veranlassen und mich zu einer Gefährdung meiner
eigenen Zukunft zu bestimmen. Befänden sich meine
Schwiegereltern später einmal in wirklicher Noth, so
würde ich gern bereit sein, sie angemessen zu unterstützen;
kein Mensch mit gesunden Sinnen aber könne mir zu-
muthen, mich zur Wohlthäterin ihrer Gläubiger zu
machen. So einleuchtend nun auch diese Gründe ohne
Zweifel waren, so wenig Ueberzeugungskraft schienen
sie doch für meinen Mann zu haben. Als er sah, daß
selbst mit den allerbeweglichsten Bitten nichts bei nur
auszurichten war, versuchte er es auch mir gegenüber
mit Forderungen und Drohungen, und er verfiel, da mir
zuletzt die Geduld riß, in einen Ton, der mir den sehr
erwünschten Vorwand gab, noch in derselben Stunde
sein Haus zu verlassen. Alles Weitere habe ich dann
glücklicherweise nicht mehr aus eigener Anschauung er-
fahren, denn schon wenige Tage später ließ ich durch
meinen Anwalt die Scheidungsklage einreichen."
„Und was war es, das dann weiter geschah?"
drängte Hertha mit weitgeöffneten, angstvoll blickenden
Augen. „Sagtest Du nicht vorhin, daß der Bankerott
von dem Hause Flemming dennoch abgewendet wurde?"
„Ja! Man erzählt, daß an demselben Tage, an
welchem mein Schwiegervater den Konkurs anmelden
wollte, ein in seinen: Besitz befindliches Prämienloos
mit einem Gewinn von dreihunderttausend Franken
gezogen und daß er durch diesen Glückszufall in den
Stand gesetzt worden sei, seinen Gläubigern ein außer-
gerichtliches Arrangement vorzuschlagen. Es heißt sogar,
M 27.
daß dieselben bei der sofort eingeleiteten Liquidation
des Geschäfts bis auf den letzten Pfennig befriedigt
worden seien; aber eine Bürgschaft für die Wahrheit
dieses Gerüchts vermag ich nicht zu übernehmen, da
meine persönlichen Beziehungen zu der Familie mit
jenem Tage selbstverständlich ihr Ende erreicht hatten.
So viel nur weiß ich, daß Dein Verlobter sich bei
diesem Anlaß geradezu musterhaft benommen hat, und
daß ich schwerlich an eine Scheidung gedacht haben
würde, wenn mein Gatte denselben moralischen Muth
und dieselbe Selbstverleugnung gezeigt Hütte, wie sein
jüngerer Bruder. Obwohl er als Staatsanwalt eben
einen Erfolg davongetragen hatte, der ihm sicher alle
Anwartschaft auf eine glänzende Laufbahn gab, obwohl
er selbst mit seinem ganzen Herzen an diesem Berufe
hing, verließ er mit Rücksicht auf die veränderte Ver-
mögenslage seiner Eltern den Staatsdienst und ließ sich
von irgend einer industriellen Gesellschaft als Rechts-
beistand oder dergleichen engagiren. An und für sich
wäre darin etwas so besonders Großartiges ja noch
nicht zu erblicken, aber das Wesentliche an der Sache
ist, daß er es that, um seine Eltern zu ernähren, denen
der größte Theil seines Einkommens zufüllt. Ich bin
wahrlich die Letzte, Dir zu verübeln, daß Du ihm zu
Liebe nicht hast Dein Vermögen daran geben wollen;
aber im Grunde des Herzens hat er mir doch manchmal
recht leid gethan, der arme Werner, denn gerade er
hätte am ehesten verdient, glücklich zu werden."
„Und Du glaubst im Ernst, daß es aus Sorge um
mein Vermögen geschah, wenn ich mein Vcrlöbniß mit
Werner löste?"
„Ich glaube, was alle Welt geglaubt hat, mein
Schatz, und was unter den obwaltenden Umständen
doch auch ziemlich offenkundig zu Tage lag. Eine kleine
Schwäche für den schönen Lieutenant v. Hersdorff magst
Du ja seiner Zeit gehabt haben, und ich war vielleicht
sogar die Einzige, welche es sogleich bemerkt hatte; aber
damals war Hersdorff ein stattlicher Offizier, und man
sagt, daß er ein völlig gebrochener, todkranker Mann
gewesen sei, als er aus Afrika zurückkehrte. Wie schön
und rührend es auch klingen mag, daß Du einst dem
Gesunden gegenüber standhaft geblieben seiest, u
Dich dann später für den Sterbenden zu opfern —
unserer prosaischen Zeit ist nun einmal das rechte Ver-
ständniß für solche unnatürliche Romantik verloren ge-
gangen, und Du darfst am Ende Niemand böse sein,
der sich bei der Geschichte von Deiner heroischen That
seine eigenen Gedanken macht."
Hertha erhob sich, und ihr Gesicht zeigte einen Aus-
druck stolzer weiblicher Würde, der selbst auf Frau
Alexandra's blasirtes Gemüth nicht ganz ohne Eindruck
bleiben konnte.
„Du sagtest, Alexandra, daß Du Dich nicht besser
machen wollest, als Du bist, ich aber habe die Ueber-
zeugung, daß Du Dich in dieser letzten Viertelstunve
viel schlechter gemacht hast, als Du es in Wahrheit
sein kannst. Denn wenn alles das, was ich soeben
von Dir vernommen, der Ausdruck Deiner wirklichen
Ueberzeugung wäre, so müßte ich wohl darauf ver-
zichten, auch- nur ein einziges Wort zu meiner Recht-
fertigung zu sagen, da wir uns dann ja doch nimmer-
mehr verstehen könnten."
Sichtlich gekränkt warf die Polin den hübschen Kopf
in den Nacken.
„O, ich bitte Dich, Deinen Gefühlen in dieser Be-
ziehung durchaus keinen Zwang anzuthun, meine liebe
Hertha! Von meinen ketzerischen Ansichten in Bezug
auf alle großherzige Romantik wirft Du mich auch
durch diese Entrüstungsmiene schwerlich bekehren können.
Aber ich begreife allerdings vollkommen, daß Du jetzt,
wo Deiner Wiedervereinigung mit Werner ja weder
ein drohender Bankerott noch die schöne Gestalt eines
ritterlichen Abenteurers im Wege steht, nicht gern an
gewisse materialistische Regungen Deines Herzens er-
innert werden möchtest."
„Vielleicht sollte ich Dir darauf überhaupt nicht
mehr antworten, Alexandra; aber da es aller Voraus-
sicht nach doch das letzte Mal ist, daß wir über diese
Dinge sprechen, so laß mich Dir sagen, daß von meiner
Wiedervereinigung mit Werner niemals die Rede sein
könnte — niemals, und wenn ich auch vor Sehnsucht
darnach verginge. Was mich von ihm getrennt hat,
war freilich von einer ganz anderen Art, als Du ver-
muthest und als ich Dir bei Deiner eben kund ge-
gebenen Denkungsart verständlich machen könnte, aber
es war immerhin etwas, das kein Mann, und wäre er
auch der großmüthigste aller Menschen, einen: Weibe
verzeihen kann. Es würde vollkommen mit meinen
eigenen Ansichten übereinstimmen, wenn Werner jetzt
der Meinung wäre, daß ich seiner niemals würdig ge-
wesen sei."
Frau Alexandra zog mit einer halb mitleidigen und
halb geringscyätzigen Geberde die runden Schultern in
die Höhe, und als die junge Wittwe sich nun von ihr
verabschiedete, machte sie keinen Versuch, sie zurück-
zuhalten. Sicherlich mehr aus Höflichkeit als aus einem
wirklichen Herzensbedürfnis; fragte sie, während sic ihren
Besuch zur Thür geleitete: „Wie lange gedenkst Du
Gesellschafterin handle, bedrängte sie die ehemalige Ver-
lobte ihres Schwagers mit Bitten, ihr zur Feier des
Wiedersehens ein Stündchen unter vier Augen zu
schenken.
„Ich weis; ja, daß Dich die Geschichten, die nach
Deiner Abreise da unten in dein Neste passirt sind,
nicht mehr zu kümmern brauchen/' plauderte sie in
ihrer redseligen Weise weiter, „aber vielleicht weiß ich
doch das Eine oder das Andere zu erzählen, das Dich
interessiren könnte. Am Ende thust Du auch ein gutes
Werk, denn ich habe in den zwei Tagen meines Hier-
seins noch keine einzige Halbwegs amüsante Bekannt-
schaft gemacht, und in dem Augenblick, da ein glück-
licher Zufall uns zusammenführte, war ich buchstäblich
nahe daran, vor Langeweile zu sterben."
Sicherlich war es nicht dies letzte Argument, welches
Hertha bestimmte, ihrer Aufforderung Folge zu leisten
und Frau v. Haller mit einigen freundlichen Worten
zu verabschieden. Aber die Geschichten aus dem „Neste
da unten", von denen Alexandra mit einem gering-
schätzigen Aufwerfen der Oberlippe gesprochen hatte,
schienen für sie nicht ganz so bedeutungslos zu sein,
als Jene es vorausgesetzt; denn die beiden Damen
saßen einander kaum in dem reizenden kleinen Boudoir
gegenüber, welches Alexandra nebst einem Schlafgemach
und einem Ankleidezimmer im ersten Stock des Hotel
de Nice bewohnte, als Hertha fast ungeduldig fragte:
„Du sagtest, daß es gerade mir nicht schwer fallen
könnte, die Beweggründe für Deinen überraschenden
Entschluß zu errathen — willst Du nicht die Güte
haben, mir das etwas deutlicher zu erklären?"
Frau Alexandra zündete sich eine Eigarette an, und
lächelnd, daß all' ihre weißen, spitzigen Vorderzühnchen
zwischen den rothen Lippen hervorschimmerten, erwie-
derte sie: „Aber glaubst Du denn, Du Närrchen, daß
ich nicht so gut wie alle Welt wüßte, weshalb Du
Deine Verlobung nut dem armen Werner so plötzlich
löstest; und wähnst Du, ich Hütte es Dir nicht nachthun
dürfen, nur weil ich bereits durch festere Bande an
diese ehrenwerthe Familie gefesselt war? Jetzt, da das
Alles glücklicherweise weit hinter uns liegt, brauchen
wir uns doch wahrhaftig keine Komödie mehr vor-
zuspielcn."
„Eine Komödie? Ich verstehe Dich nicht, Alexandra!
Deine Beweggründe sind gewiß von sehr schwerwiegen-
der Art gewesen, da sie Dich ja zu einem so außer-
ordentlichen Entschluß getrieben; aber was sie mit den
meinigen zu schaffen haben sollten, vermag ich wirklich
nicht zu begreifen."
Wie ehrlich auch der Ausdruck des Erstaunens auf
ihrem Antlitz sein mochte, Frau Alexandra wiegte doch
mit etwas spöttischer Miene das Haupt.
„Du bist eine allerliebste Schauspielerin, mein
Herz! Aber ich will nicht indiskret sein, obwohl wir
heute, und da wir ganz unter uns sind, recht gut mit
voller Offenheit darüber reden könnten. Ich für meine
Person wenigstens will mich gar nicht besser machen,
als ich bin, und will ganz offen einräumen, daß ich
vielleicht noch heute das zweifelhafte Glück genösse, des
Herrn Bruno Flemming Gattin zu heißen, wenn nicht
die große Katastrophe neben allein Anderen auch das
ohnedies nicht sehr fest gefügte Gebäude unserer Ehe
zertrümmert hätte."
„Was für eine Katastrophe ist es, von der Du da
sprichst? Ist denn dem Hause Flemming ein besonderes
Unglück widerfahren?"
Frau Alexandra richtete sich aus ihrer bequemen
Stellung auf und neigte den Oberkörper vor, um der
jungen Wittwe besser in's Gesicht sehen zu können.
„Du weißt also wirklich nicht, daß das Haus Flem-
ming, soweit darunter die kaufmännische Firma zu ver-
stehen ivar, überhaupt nicht mehr existirt, und daß es
nur durch eine Reihe unvorhergesehener Glücksumstände
vor dem Bankerott bewahrt worden ist? Du hättest
von der verzweifelten Lage des Herrn Ernst Flemming
nichts geahnt, als Du ihm zugleich mit der Schwieger-
tochterschaft auch die Verwaltung Deines Vermögens
kündigtest?"
„Alexandra!"
Hertha war dunkelroth geworden, und aus ihren
Augen blitzte sprühend der Zorn; aber sie bezwang sich
rasch, denn es war ihr jetzt offenbar vor Allem darum
zu thun, die ganze Wahrheit zu hören.
„Deine Frage könnte mich fast beleidigen," fuhr sie
nach einem sekundenlangen Schweigen fort, „wenn ich
nicht die Gewißheit hätte, daß Du Dich in einen: Jrr-
thum befindest, oder daß wir uns Beide mißverstehen.
Aber ich bitte Dich von Herzen: laß mich Alles er-
fahren, was sich nach meiner Abreise zugetragen hat.
Du wirst meine Spannung begreifen, wenn ich Dir
zuschwöre, daß Deine erschreckenden Andeutungen das
Erste waren, was ich über jene Vorkommnisse ver-
nommen."
Frau Alexandra schüttelte den hübschen Kops, trotz
dieser Versicherung offenbar noch immer von einigen
leisen Zweifeln erfüllt. Aber sie gab denselben jetzt
wenigstens keinen offenen Ausdruck mehr, sondern
sagte', sich wieder in ihren Schaukelstuhl zurücklehnend
Das Buch für All e.
und die Cigarette zwischen den rosigen Fingerspitzen
drehend, lässigen Tones: „Gut denn — auf die Gefahr,
Dich zu langweilen, mein Schatz! Denn da Du noch
gar nichts weißt, bleibt mir ja nichts Anderes übrig,
als von vorne anzufangen, und ich kann mir nicht
recht vorstellen, daß diese abgethane Geschichte jetzt noch
ein besonderes Interesse für Dich haben sollte. — Es
mar am Morgen desselben Tages, an welchem Du Ernst
Flemming's Haus auf Nimmerwiederkehr verließest, als
mein Herr Gemahl mit aschfahlem Gesicht und zittern-
dem Kinn in mein Toilettenzimmer stürzte, um mir
als große Neuigkeit mitzutheilen, daß sein Vater rui-
nirt sei, und noch heute den Konkurs anmelden müsse,
wenn ich mich nicht dazu verstände, als rettender Engel
auf der Bildfläche zu erscheinen und mit dem Zauber-
stab meines Vermögens das drohende Unheil abzu-
wenden."
„Und das verhielt sich in der That so?"
„Leider ja. Natürlich nahm ich die Sache im ersten
Augenblick nicht ernst, denn ich hatte bis dahin in der
felsenfesten Ueberzeugung gelebt, daß mein Schwieger-
vater ein steinreicher Mann sei. Ich begnügte mich
also damit, meinen Gatten einfach auszulachen und
seelenruhig in meiner Toilette fortzufahren. Aber je
mehr herzbewegliche Einzelheiten er vorbrachte, desto
verdächtiger wurde mir die Geschichte. Werner's Ver-
lobung sei seit gestern aufgehoben, sagte er, Du, liebe
Hertha, habest bereits das Haus verlassen, und gerade
der Umstand, daß Dein bisher in dem Bankhause ar-
beitendes Vermögen sofort zur Auszahlung bereit ge-
halten werden müsse, habe die Katastrophe, die sich sonst
gewiß hätte vermeiden lassen, plötzlich in so furchtbare
Nähe gerückt. Vielleicht sei auch jetzt noch eine Rettung
oder wenigstens ein Aufschub des Zusammenbruches mög-
lich gewesen, wenn nicht unglücklicherweise Werner von
Neustadt herübergekommen wäre und in seinen: dum-
men Rechtschaffenheitsdusel Alles gleich bis auf die
äußerste Spitze getrieben Hütte. Mit schnöder Hinterlist
sei man gegen ihn — gegen meinen armen, unschuldigen
Gatten nämlich — vorgegangen; denn während er
ahnungslos im Klub gesessen und mit gewohntem Pech
ein paar hundert Mark verspielt habe, sei sein Vater
in Geineinschaft mit dem Prokuristen und mit diesem
verrückten Staatsanwalt die ganze Nacht hindurch damit
beschäftigt gewesen, im Komptoir Auszüge aus den
Büchern zu machen und — so gut es sich eben in einer
einzigen Nacht thun läßt — eine Bilanz zu ziehen.
Nicht einmal das Resultat dieser Todtengräberarbeit
habe inan ihm ziffermäßig mitgetheilt, wie wenn er
nichts von diesen Dingen verstände oder kein Wort
dreinzureden hätte. Natürlich habe er sich aber sein
gutes Recht nicht nehmen lassen und entschieden gegen
jede Uebereilung, wie Konkursanmeldung und dergleichen
prostetirt. Achselzuckend habe ihn sein Vater an Werner
verwiesen und mit diesen: sei so wenig zu reden ge-
wesen, wie mit einen: Felsblock. Er habe all' seine
Beredtsamkeit aufgeboten, habe gefordert, gedroht, ge-
beten, aber dem Starrsinn dieses gefühllosen Menschen
gegenüber sei Alles umsonst gewesen, und das Unglück
sei somit unabwendbar, wenn ich nicht mit meinem
Vermögen der wankenden Finna zu Hilfe käme."
„Thatest Du das?" warf Hertha ein.
„Ganz und gar nicht, mein Schatz. Mein Entschluß
war gefaßt, ehe noch mein lieber Mann mit seiner
Geschichte auch nur halb zu Ende gekommen war. Ich
erklärte ihm mit angemessener Entschiedenheit, daß mein
Interesse an dem Weiterbestehen der Firma Ernst
Flemming denn doch keineswegs groß genug sei, um
mich zu einer Handlung unverantwortlichen Leichtsinns
zu veranlassen und mich zu einer Gefährdung meiner
eigenen Zukunft zu bestimmen. Befänden sich meine
Schwiegereltern später einmal in wirklicher Noth, so
würde ich gern bereit sein, sie angemessen zu unterstützen;
kein Mensch mit gesunden Sinnen aber könne mir zu-
muthen, mich zur Wohlthäterin ihrer Gläubiger zu
machen. So einleuchtend nun auch diese Gründe ohne
Zweifel waren, so wenig Ueberzeugungskraft schienen
sie doch für meinen Mann zu haben. Als er sah, daß
selbst mit den allerbeweglichsten Bitten nichts bei nur
auszurichten war, versuchte er es auch mir gegenüber
mit Forderungen und Drohungen, und er verfiel, da mir
zuletzt die Geduld riß, in einen Ton, der mir den sehr
erwünschten Vorwand gab, noch in derselben Stunde
sein Haus zu verlassen. Alles Weitere habe ich dann
glücklicherweise nicht mehr aus eigener Anschauung er-
fahren, denn schon wenige Tage später ließ ich durch
meinen Anwalt die Scheidungsklage einreichen."
„Und was war es, das dann weiter geschah?"
drängte Hertha mit weitgeöffneten, angstvoll blickenden
Augen. „Sagtest Du nicht vorhin, daß der Bankerott
von dem Hause Flemming dennoch abgewendet wurde?"
„Ja! Man erzählt, daß an demselben Tage, an
welchem mein Schwiegervater den Konkurs anmelden
wollte, ein in seinen: Besitz befindliches Prämienloos
mit einem Gewinn von dreihunderttausend Franken
gezogen und daß er durch diesen Glückszufall in den
Stand gesetzt worden sei, seinen Gläubigern ein außer-
gerichtliches Arrangement vorzuschlagen. Es heißt sogar,
M 27.
daß dieselben bei der sofort eingeleiteten Liquidation
des Geschäfts bis auf den letzten Pfennig befriedigt
worden seien; aber eine Bürgschaft für die Wahrheit
dieses Gerüchts vermag ich nicht zu übernehmen, da
meine persönlichen Beziehungen zu der Familie mit
jenem Tage selbstverständlich ihr Ende erreicht hatten.
So viel nur weiß ich, daß Dein Verlobter sich bei
diesem Anlaß geradezu musterhaft benommen hat, und
daß ich schwerlich an eine Scheidung gedacht haben
würde, wenn mein Gatte denselben moralischen Muth
und dieselbe Selbstverleugnung gezeigt Hütte, wie sein
jüngerer Bruder. Obwohl er als Staatsanwalt eben
einen Erfolg davongetragen hatte, der ihm sicher alle
Anwartschaft auf eine glänzende Laufbahn gab, obwohl
er selbst mit seinem ganzen Herzen an diesem Berufe
hing, verließ er mit Rücksicht auf die veränderte Ver-
mögenslage seiner Eltern den Staatsdienst und ließ sich
von irgend einer industriellen Gesellschaft als Rechts-
beistand oder dergleichen engagiren. An und für sich
wäre darin etwas so besonders Großartiges ja noch
nicht zu erblicken, aber das Wesentliche an der Sache
ist, daß er es that, um seine Eltern zu ernähren, denen
der größte Theil seines Einkommens zufüllt. Ich bin
wahrlich die Letzte, Dir zu verübeln, daß Du ihm zu
Liebe nicht hast Dein Vermögen daran geben wollen;
aber im Grunde des Herzens hat er mir doch manchmal
recht leid gethan, der arme Werner, denn gerade er
hätte am ehesten verdient, glücklich zu werden."
„Und Du glaubst im Ernst, daß es aus Sorge um
mein Vermögen geschah, wenn ich mein Vcrlöbniß mit
Werner löste?"
„Ich glaube, was alle Welt geglaubt hat, mein
Schatz, und was unter den obwaltenden Umständen
doch auch ziemlich offenkundig zu Tage lag. Eine kleine
Schwäche für den schönen Lieutenant v. Hersdorff magst
Du ja seiner Zeit gehabt haben, und ich war vielleicht
sogar die Einzige, welche es sogleich bemerkt hatte; aber
damals war Hersdorff ein stattlicher Offizier, und man
sagt, daß er ein völlig gebrochener, todkranker Mann
gewesen sei, als er aus Afrika zurückkehrte. Wie schön
und rührend es auch klingen mag, daß Du einst dem
Gesunden gegenüber standhaft geblieben seiest, u
Dich dann später für den Sterbenden zu opfern —
unserer prosaischen Zeit ist nun einmal das rechte Ver-
ständniß für solche unnatürliche Romantik verloren ge-
gangen, und Du darfst am Ende Niemand böse sein,
der sich bei der Geschichte von Deiner heroischen That
seine eigenen Gedanken macht."
Hertha erhob sich, und ihr Gesicht zeigte einen Aus-
druck stolzer weiblicher Würde, der selbst auf Frau
Alexandra's blasirtes Gemüth nicht ganz ohne Eindruck
bleiben konnte.
„Du sagtest, Alexandra, daß Du Dich nicht besser
machen wollest, als Du bist, ich aber habe die Ueber-
zeugung, daß Du Dich in dieser letzten Viertelstunve
viel schlechter gemacht hast, als Du es in Wahrheit
sein kannst. Denn wenn alles das, was ich soeben
von Dir vernommen, der Ausdruck Deiner wirklichen
Ueberzeugung wäre, so müßte ich wohl darauf ver-
zichten, auch- nur ein einziges Wort zu meiner Recht-
fertigung zu sagen, da wir uns dann ja doch nimmer-
mehr verstehen könnten."
Sichtlich gekränkt warf die Polin den hübschen Kopf
in den Nacken.
„O, ich bitte Dich, Deinen Gefühlen in dieser Be-
ziehung durchaus keinen Zwang anzuthun, meine liebe
Hertha! Von meinen ketzerischen Ansichten in Bezug
auf alle großherzige Romantik wirft Du mich auch
durch diese Entrüstungsmiene schwerlich bekehren können.
Aber ich begreife allerdings vollkommen, daß Du jetzt,
wo Deiner Wiedervereinigung mit Werner ja weder
ein drohender Bankerott noch die schöne Gestalt eines
ritterlichen Abenteurers im Wege steht, nicht gern an
gewisse materialistische Regungen Deines Herzens er-
innert werden möchtest."
„Vielleicht sollte ich Dir darauf überhaupt nicht
mehr antworten, Alexandra; aber da es aller Voraus-
sicht nach doch das letzte Mal ist, daß wir über diese
Dinge sprechen, so laß mich Dir sagen, daß von meiner
Wiedervereinigung mit Werner niemals die Rede sein
könnte — niemals, und wenn ich auch vor Sehnsucht
darnach verginge. Was mich von ihm getrennt hat,
war freilich von einer ganz anderen Art, als Du ver-
muthest und als ich Dir bei Deiner eben kund ge-
gebenen Denkungsart verständlich machen könnte, aber
es war immerhin etwas, das kein Mann, und wäre er
auch der großmüthigste aller Menschen, einen: Weibe
verzeihen kann. Es würde vollkommen mit meinen
eigenen Ansichten übereinstimmen, wenn Werner jetzt
der Meinung wäre, daß ich seiner niemals würdig ge-
wesen sei."
Frau Alexandra zog mit einer halb mitleidigen und
halb geringscyätzigen Geberde die runden Schultern in
die Höhe, und als die junge Wittwe sich nun von ihr
verabschiedete, machte sie keinen Versuch, sie zurück-
zuhalten. Sicherlich mehr aus Höflichkeit als aus einem
wirklichen Herzensbedürfnis; fragte sie, während sic ihren
Besuch zur Thür geleitete: „Wie lange gedenkst Du