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666

Das Buch für Alle.

Hcst 28.

mir schon am zweiten Tage unerträglich erschienen war.
Dann aber, als ich zu alledem auch noch eine unwürdige
und hochmüthige Behandlung von Seiten meines Herrn
Bruders hinnehmen sollte, war meine Entsagungskraft
und Widerstandsfähigkeit zu Ende; ich warf in einer
Aufwallung gerechten Zornes die Bürde, die mich zu
zermalmen drohte, von meinen Schullern, verabschiedete
mich von meinen armen Eltern, die ja nun leider eben-
falls ganz von der Gnade ihres jüngeren Sohnes ab-
hängig sind, und ging in die Welt hinaus."
Er machte eine Pause und richtete einen forschenden
Blick auf Hertha, um sich zu vergewissern, wie sie seine
Mittheilungen aufnähme. Da aber deren Züge un-
beweglich blieben, beeilte er sich, weiter zu erzählen.
„Einer meiner Freunde aus glücklicheren Tagen
hatte mir eine kleine Summe als Darlehen zur Ver-
fügung gestellt; aber ich konnte mir ohne große Mühe
die Stunde herausrechnen, da auch der letzte Pfennig
dieses winzigen Kapitals verausgabt sein und ich am
Rande des Verderbens stehen würde. Schon damals
kämpfte ich mit der Versuchung, meinen Jammer durch
einen Pistolenschuß zu enden. Aber der Gedanke an
meine unglücklichen Eltern hielt mich davon zurück.
Ich beschloß, was inan eben nur in einer Lage, wie
es die meinige war, beschließen kann. In der dritten
Klasse, wie ein fahrender Handwerksbursche, reiste ich
nach dem Süden, um mein Glück am grünen Tisch
von Monte Carlo zu versuchen und um von dort ent-
weder als ein wohlhabender Mann oder überhaupt
nicht mehr nach Deutschland zurückzukehrcn. Nur einer
verhältnißmäßig kleinen Summe, eines Kapitals von
etwa zehntausend Mark, bedurfte es ja, um mir die
Betheiligung an einem guten und gewinnbringenden
Geschäft, in das einer meiner alten Bekannten mich
aufnehmen wollte, zu ermöglichen und damit meiner
unwürdigen Lage ein Ende zu machen. Dies Kapital
nun hoffte ich am Spieltisch zu gewinnen und ich hatte
mir das feierliche Gelöbnis; abgelegt, dem unseligen
Orte noch in derselben Stunde den Rücken zu kehren,
in welcher es mir gelungen sein würde, mein Ziel zu
erreichen."
„Und haben sich Ihre Hoffnungen verwirklicht?"
fragte Hertha, um nur etwas zu sagen.
„Leider nein. Es erging mir, wie es schon un-
gezählten Anderen vor mir in dieser verruchten Spiel-
hölle ergangen ist — ich verlor Alles, was ich besaß,
bis auf den letzten Heller; ich veräußerte meine Uhr
und was ich sonst noch an Werthgegenstünden bei mir
führte, und auch der kleine Erlös für diese Dinge ver-
schwand spurlos in dem unersättlichen Nachen der Bank.
Gestern Nachmittag verließ ich das Kasino als ein
Bettler, ich war nicht einmal im Stande, meine Rech-
nung im Gasthofe zu bezahlen. Sie selbst, Frau
v. Hersdorff, werden begreifen, daß es unter solchen
Umständen nur noch einen einzigen Weg für mich gibt,
und daß ich allen Ehrgefühles bar sein müßte, wenn
ich zögern wollte, ihn zu beschreiten. Der Welt geht
an einem Menschen von meinem Schlage am Endö ja.
nichts verloren, und meine armen Eltern — die Ein-
zigen, denen mein Tod vielleicht einen wirklichen Schmerz"
bereiten wird — müssen sich mit dem Kummer, den
ich ihnen nicht mehr ersparen kann, eben abzufinden
suchen. Auch sie werden ja schließlich erkennen müssen,
daß es keine Möglichkeit für mich gab, anders zu
handeln."
Bruno Flemming hatte seine Geschichte zwar hier
und da etwas theatralisch, doch immerhin im Tone
vollster Wahrhaftigkeit vorgetragen, und wenn Hertha
auch schon mit Rücksicht auf die Mittheilungen, welche
sie vor wenigen Wochen aus dem Munde Alexandra's
empfangen, die Gewißheit haben konnte, daß er sich
bei mancher Einzelheit seiner Erzählung nicht allzu
streng an die Wahrheit gehalten habe, so wurde da-
durch doch nichts an dem beängstigenden Eindruck ge-
ändert, den seine Erzählung auf sie hervorbringen
mußte.
„Von der Ausführung eines so unseligen Entschlusses
kann jetzt, nachdem Sie mich zur Vertrauten Ihres
Mißgeschicks gemacht haben, natürlich nicht mehr die
Rede sein," sagte sie mit Entschiedenheit. „Mit Rück-
sicht auf die Beziehungen, in denen ich einst zu Ihrer
Familie gestanden, müssen Sie es mir gestatten, Ihnen
in Ihrer gegenwärtigen Bedrängniß beizustehen und
Sie aus derselben zu befreien. Ich bitte Sie, mir
die Summe zu nennen, deren es für diesen Zweck be-
darf."
Bruno zeigte sich sehr gerührt und machte — un-
bekümmert darum, daß sie sich auf offener Straße be-
fanden— einen, allerdings vergeblichen, Versuch, Hertha's
Hand zu küssen.
„Ihr Anerbieten, gnädige Frau, ist von einer Hoch-
herzigkeit, welche mich auf das Tiefste beschämen muß.
Aber es ist wohl selbstverständlich, daß ich es nicht an-
nehmen kann. Es wäre nichts als ein Mißbrauch Ihrer
Großmuth, wenn ich es thäte, denn schließlich würde
sich ja doch nur dasselbe Spiel wiederholen. Nein,
nein, lassen Sie mich immerhin meinen düsteren Weg
vollenden, dessen Ziel die Ruhe und das Vergessen

sind. Ich habe nunmehr zur Genüge erkannt, daß eine
halbe Hilfe für mich schlimmer ist als keine."
„Aber es ist auch nicht meine Absicht, Herr Flem-
ming, Ihnen nur eine halbe Hilfe zu gewähren. Ich
bin noch in der Schuld Ihres Hauses, und ich erfülle
nur eine alte Verpflichtung, wenn ich Ihnen die Mög-
lichkeit verschaffe, sich wieder zu einer geachteten ge-
sellschaftlichen Stellung empor zu arbeiten. Würden
Sie es als eine ganze Hilfe ansehen, wenn ich Ihnen
die zehntausend Mark zur Verfügung stellte, deren Sie
vorhin Erwähnung gethan?"
Eine solche Freigebigkeit mußte denn doch wohl
selbst die kühnsten Erwartungen Bruno's bergehoch
übertreffen. Im ersten Moment sah er Hertha ganz
verblüfft an wie Jemand, der im Zweifel ist, ob man
sich nicht am Ende nur einen schlechten Scherz mit ihm
machen wolle; dann aber brach er in einen Strom von
Danksagungen und Freudenüußerungen aus, deren
Ueberschwenglichkcit Hertha auf das Peinlichste berührte.
Nur um denselben ein Ende zu machen, sagte sie
hastig: „Ich verfüge allerdings im Angenblick nicht
über einen solchen Betrag, und es ist kaum mehr als
der zehnte Theil der erwähnten Summe, welchen ich
Ihnen sogleich einzuhändigen vermag. Innerhalb zwei-
mal vierundzwanzig Stunden aber kann ich das Geld
hier haben, und es wird Ihnen hoffentlich möglich sein,
bis dahin in Cannes zu verweilen."
Bruno dachte an die Depesche mit der Nachricht
von seinem Tode, welche er gestern Abend an seinen
Bruder abgesandt hatte, rind eine Empfindung des Un-
behagens beschlich ihn bei der Vorstellung an die mög-
lichen Folgen dieses allzu raschen Schrittes. Er wäre
ja am liebsten noch heute von hier abgereist; aber
einem Anerbieten von so unerhörter Großmuth gegen-
über wagte er weder Bedenken noch Einwendungen
geltend zu machen, weil er sich ohnedies bereits von
der quälenden Furcht gepeinigt fühlte, daß Hertha ihren
raschen Entschluß bereuen möchte, noch ehe er ganz zur
Ausführung gekommen sei.
So erklärte er denn sehr bereitwillig, daß er sich
selbstverständlich allen Befehlen seiner Wohlthäterin
unterwerfen würde, und mit neuen Danksagungen schob
er in einer stillen Seitenstraße, wo sie von Niemand
beobachtet werden konnten, das kleine Visitenkartentäsch-
chen, welches Hertha ihm gereicht hatte, in die Brust-
tasche seines Nockes.
Dann gingen sie nach verschiedenen Richtungen aus-
einander, und während die junge Wittwe ihren einsamen
Spaziergang fortsetzte, kehrte Bruno Flemming raschen
Schrittes in das Hotel d'Angleterre zurück.
Mit der hochmüthigen Miene eines Mannes, der
über ungezählte Hunderttausende zu gebieten hat, trat
er in das Komptoir.
„Man ist nicht sehr aufmerksam in Ihrem Hause,"
wandte er sich in vorwurfsvollem Tone an den Ober-
kellner. „Ich gab gestern Abend den Auftrag, mir an
diesem Morgen die Rechnung zu präsentiren, und ich
bin sonst daran gewöhnt, daß man sich nach meinen
Wünschen richtet."
Der Gescholtene entschuldigte sich sehr unterwürfig
und überreichte dem ungeduldigen Gaste das Papier,
vor welchem derselbe vorhin wie vor einem vergifteten
Dolche die Flucht ergriffen hatte.
Die einzelnen Posten der Rechnung waren von sehr
ansehnlicher Höhe, und die Gesammtsumme ließ über-
dies auf die Wahrscheinlichkeit schließen, daß bei der
Addition einige kleine Fehler zu Gunsten des Hauses
mituntergelaufen seien; Bruno Flemming aber schenkte
dem einen Umstand so wenig Beachtung als dem an-
deren und zahlte den berechneten Betrag mit einem
Gesicht, als ob er von seiner Geringfügigkeit höchlichst
überrascht worden sei.
Auf die höfliche Frage des Oberkellners, ob Mon-
sieur etwa schon heute abzureisen beabsichtige, antwortete
er mit der herablassenden Erklärung, daß er noch einige
Tage zu bleiben gedenke, daß es ihm aber erwünscht
sei, für diese Zeit ein etwas komfortableres Zimmer zu
erhalten, als man es ihm bisher angewiesen. Natürlich
wurde dies bereitwillig zugesichert, und mit einem gnä-
digen Kopfnicken verließ Bruno Flemming den Gasthof,
um sich ohne weiteren Aufenthalt nach Monte Carlo
zu begeben.
Abends mit dem letzten Zug kehrte er zurück, und
die Barschaft, welche er bei sich führte, war geringer
als die Summe, welche er gestern aus dem Kasino ge-
rettet hatte. Aber der Verlust, den er erlitten, focht
ihn heute wenig an. Er kauerte nicht, wie am ver-
gangenen Tage, mit düsterer Miene in der Ecke des
Wagens, sondern plauderte sehr heiter mit seinen Reise-
gefährten und lud schließlich sogar denselben hageren,
etwas verhungert aussehenden Herrn, deck er gestern
auf die Darlegung seines unfehlbaren Systems, wie
man die Spielbank von Monaco sprengen könne, bei-
nahe mit einer Grobheit geantwortet hätte, zur Teil-
nahme an seinem Abendessen im Hotel d'Angleterre ein.
Der alte Spieler hatte sich nämlich unterwegs als
ein ganz amüsanter Geselffcyafter erwiesen, und Angesichts
des Neichthums, der ihm nach Verlauf von zwei Tagen

mühelos in den Schoß fallen sollte, verschlug es Bruno
Flemming sehr wenig, wenn er das Vergnügen, ein
paar Stunden lang angenehm unterhalten zu werden,
mit dem kleinen Opfer von vierzig oder fünfzig Fran-
ken bezahlen mußte.
Etwas langweilig wurden ihm diese beiden Tage,
während deren er ganz auf Cannes und dessen nächste
Umgebung angewiesen war, allerdings. Neben der
Angst, daß Hertha anderen Sinnes werden könnte,
quälte ihn die Sorge wegen der Folgen seines leicht-
fertigen Telegramms, und während er einerseits den
Gasthof kaum zu verlassen wagte aus Furcht, daß die
junge Wittwe, die er bereits ganz wie eine fluchtver-
dächtige Schuldnerin betrachtete, etwa heimlich abreisen
könnte, zitterte er doch auf der anderen Seite vor
Jedem, der ihn seiner Meinung nach etwas schärfer
in's Auge faßte. Sowohl um diese Empfindungen des
Unbehagens nach Möglichkeit zu verscheuchen, als auch,
weil es ihm an anderer Zerstreuung fehlte, that er in
diesen beiden Tagen der Küche und dem Keller des
Hotel d'Angleterre alle mögliche Ehre an, und er konnte
am Morgen des dritten nicht zweifeln, daß seine Rech-
nung diesmal eine noch ansehnlichere Höhe erreicht haben
müsse, als am Tage nach dem beabsichtigten Selbst-
mord.
Je weiter die Zeiger der Uhr heute vorrückten, desto
unerträglicher wurde ihm der Zustand ungeduldiger
Erwartung, in welchem er sich befand. Er hatte sich
allerdings zu seiner Beruhigung überzeugen können,
daß Hertha den Gasthof noch- nicht verlassen habe, aber
es schien ihm, daß sie ihn ungebührlich lange aus die
Erfüllung ihres Versprechens warten lasse, und er stellte
eben im Stillen allerlei wenig schmeichelhafte Betrach-
tungen über die Unzuverlässigkeit des weiblichen Ge-
schlechtes im Allgemeinen und diejenige der jungen
Wittwe im Besonderen an, als ihm ein Kellner einen
Brief überreichte, dessen Aufschrift unverkennbar die
Züge einer weiblichen Hand aufwies und dessen Dick-
leibigkeit die angenehmsten Hoffnungen in dem Empfän-
ger erweckte.
Er drückte dem Kellner die letzten zwei Franken in
die Hand, die er in der Tasche hatte, und riß, in eine
Fensternische des Speisesaales tretend, den Briefumschlag
mit vor Aufregung zitternden Fingern herab. Ein
kleines, mit wenig Zeilen beschriebenes Blättchen fiel
heraus; aber er ließ es achtlos am Boden liegen, denn
ihn interessirten ja allein die bunten Papiere, welche
den übrigen Inhalt des Briefes ausmachten.
Mit dem sicheren und geübten Blick des ehemaligen
Bankiers hatte er schon nach flüchtiger Prüfung er-
kannt, daß es noch volle zehntausend Mark seien, welche-
Hertha v. Hersdorff ihm übersandt hatte, und er war
dankbar genug, ihr in der Stille seines Herzens Alles
abzubitten, was er noch soeben Unfreundliches von ihr
und ihrem Geschlechte gedacht.
Die zusammengedrückten Kassenscheine noch in der
Linken haltend, bückte er sich nun auch nach dem kleinen
Begleitbrief;, aber er hatte denselben noch nicht er-
griffen, als eine Hand sich schwer auf seine Schulter
legte und eine wohlbekannte Stimme, die er wahrlich
viel lieber nicht vernommen hätte, mit ernstem und
strengem Tons an sein Ohr schlug.
„Es scheint, daß in diesem gesunden Klima selbst
die Todten auferstehen. Oder sollte etwa Dein Freund
Duval nur mangelhaft unterrichtet gewesen sein, als
er mir die Nachricht von Deinem Selbstmorde sandte?
Jedenfalls wünsche ich etwas Näheres über diesen Herrn
Duval von Dir zu erfahren und ersuche Dich, mich an
einen Ort zu führen, wo wir ungestört über dies und
über einige andere Dinge sprechen können."
Bruno Flemming war durch diese Ueberrumpelung
so verblüfft, daß selbst das Gefühl der Unabhängigkeit,
welches ihm noch soeben der Besitz des Geldes verliehen,
nicht stark genug war, ihm seine dreiste Zuversicht zu-
rückzugeben.
Ohne ein einziges Wort zu erwiedern und mit nie-
derschlagenen Augen wie ein ertappter Verbrecher ging
er seinem Bruder voran die Treppe hinauf und in das
luxuriös ausgestattete Zimmer, welches er seit zwei Tagen
bewohnte.
Erst auf dem kurzen Wege schien er einen Theil
seiner Entschlossenheit wiedergewonnen zu haben, denn
als die Brüder sich nun gegenüberstanden, ohne die
Neugier irgend eines ungesehenen Beobachters fürchten
zu müssen, erhob Bruno trotzig den Kopf und sagte:
„Ich weiß nichts von einem Herrn Duval und verstehe
nicht, auf was Deine räthselhaften Worte sich beziehen
sollen. Aber ich habe auch keine Veranlassung, Dir
Rede zu stehen wie ein Schulbube. Wenn Du mir
etwas zu sagen hast oder etwas von mir zu erfahren
wünschest, so wirst Du vor Allem gut thun, denjenigen
Ton anzuschlagen, welcher Dir, dem Jüngeren, mir
gegenüber zukommt."
Werner streifte mit einem Blick kalter Verachtung
über ihn hin. Dann streckte er seine Hand nach dem
Bündel von Kassenscheinen aus, das Bruno noch immer
zwischen den Fingern hielt, und sagte: „Gib mir das
Geld! Es scheint, daß ich wenigstens noch zur rechten
 
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