geft 3
— YBuH ür AlIle
63
Er that es, und ſie traten Beide ein.
„Sie werden das Haus heute nicht mehr verlaſſen?“
fragte er.
„Nein!“ antwortete ſie nach kurzem Beſinnen.
„Sut. So werde ich den Schlüſſel behalten,“ ſagte
er, indem er die Thür wieder zuſchloß.
„Aber —“ machte ſie erſtaunt.
Seien Sie beruhigt. Ich nehme ihn nicht mit.
Und wenn ich morgen früh fort ſein ſollte, ehe Sie
erwachen, ſo werden Sie den Schlüſſel auf der Bank
im Korridor finden.“
„Wir ſind alſo gefangen?“ wandte ſie verletzt ein.
Nein, nur bewaͤcht. Es wird ein Poſten an dieſe
Thür kommen.“
Sie laͤchelte ſpöttiſch.
„Sie ſind zu vorſichtig. Sie ſind ängſtlich.“
Nein! Das iſt nur Pflicht gegenüber unſeren
ſchlafenden Kameraden, die wahrhaftig der Ruhe be-
duͤrfen, nach einem ſolchen Tag.“
Sie ſtiegen eine ſchmale Treppe hinauf und ge-
langten in den großen Korridor des Hauſes, der diefes
in zwei Hälften theilte und an deſſen Ende der große
Ausgang des Schloſſes lag.
Aber nicht Sie werden dieſer Poſten ſein?“ fragte
ſie noch einmal. -
„Nein. Meine Zeit iſt um ein Uhr um.“
Dann öffnete ſie rechts vom Korridor eine Thür,
die in die Zimmer führte, welche ſie ſich als Aufent-
haltsort für ſich und ihre Angehörigen ausgebeten hatte.
— — war durch eine Petroleumlampe ſchwach
erhellt.
* ſind zur Stelle, Herr Mullere,“ ſagte ſie
wieder, den Ton auf die letzte Silbe ſeines Namens
legend, „ich danke Ihnen.“
Er maͤchte eine Verbeugung und ſah, wie ihr
Schleier, der etwas herabgefallen war, inwendig an der
Thürklinke hängen blieb.
„O,“ machte ſie leiſe.
Raſch ſprang er helfend hinzu und trat ins Zimmer.
Es war ein Damenſalon, der natürlich auch durch die
gewaltſame Einquartierung am Nachmittag gelitten
hatte, deren Spuren man noch ſah. Der Teppich war
ſchmuͤtzig, die Möbel nur nothdürftig zu ihrem eigent-
lichen Gebrauch wieder hergerichtet, ſogar einige Fenſter-
ſcheiben waren zerſchlagen und die Splitter davon noch
auf dem Boden verſtreut. Flüchtig ſah Müller, als
er an der Thür beſchäftigt war, den Schleier Fräulein
d Aulnay's loszuwickeln, daß Niemand im Zimmer war.
Links von der Thür, in deren unmittelbarer Nähe ſtand
ein zierlicher Eiſenſtänder, der eine Schale mit durch-
einander liegenden Viſitenkarten enthielt, vielleicht der-
jenigen Perſonen, die hier in den letzten Tagen Beſuch
gemacht hatten. Gleich obenauf lag eine, welche lautete:
„Didier, Gapitaine en second.”*)
Blois.“
Der junge Soldat hatte ſeine Schießwaffe, um die
Hände frei zu haben, an die Wand gelehnt, und als
er ſie nach der Loslöſung des Schleiexs wieder aufnahm,
ſah und las er unwillkürlich dieſe Karte.
Gortſetzung folgt.)
Marquis v. Salisbury, der neuernannte engliſche
Premierminiſter.
; ; Siehe das Porträt auf Seite 57.)
8 Roſeberry (vergl. Heft 20 des Jahrgangs 1894), deſſen
Miniſterium am 23. Juni 1895 ſeine Entlaſſung nahm,
iſt ein Jahr und vier Monate engliſcher Premierminiſter ge-
weſen. Sein Nachfolger iſt der Miniſterpräſident Marquis
v. Salisbury, deſſen Porträt wir auf S. 57 bringen. Robert
Arthur Talbot Gascoigne Cecil, Marquis v. Salisbury, iſt am
:3.Februar 1830 geboren; er iſt jetzt zum ſechsten Nale Miniſter
geworden, ſteht zum dritten Male an der Spitze der Regierung
und gehört zu den bekannteſten Staatsmännern Europas.
Seit 1853 dem öffentlichen Leben angehörend, war er vom
Beginn an ein Konſervativer und iſt es geblieben. Er machte
ſich früh als Schriftſteller und Politiker bekannt und wurde
nach dem Tode ſeines älteren Bruders der Erbe der Peer-
ſchaft Als konfervatives Unterhausmitglied für Stamford
wurde er 1866 im Kabinet Derby Miniſter für Indien, trat
aber ſchon im folgenden Jahre zurück, weil er mit der Wahl-
reformbill der übrigen Miniſter nicht einverſtanden war. Im
Kabinet Disraeli (1874) übernahm er abermals das Staats-
ſekretariat für Indien. Im Jahre 1876 ging Salisbury als
Spezialbevollmächtigter nach Konſtantinopel und begab ſich
auf der Reiſe in die türkiſche Hauptſtadt nach Paris, Wien,
Berlin und Rom, um die Stellung der dortigen Regierungen
zur Orientfrage kennen zu lernen, die mit dem Kriege in
Serbien drohende Formen anzunehmen begann. Nach dem Rück-
tritt des jüngeren Lord Derby vom Poſten eines Miniſters des
Auswärtigen berief Beaconsfield 1878 den Marquis p. Salisbury
zu ſeinem Nachfolger Mit Beaconsfield begab ſich Salisbury
dann als zweiter Bevollmächtigter Englands zum Kongreß
nach Berlin, wo er eine maßgebende Rolle ſpielte. . Als 1880
die Liberalen bei den Wahlen ſiegten, traten Beide zurück.
Nach Beaconfield's Tode wurde Salisbury der anerkannte
Führer des Tories; als ſolcher war er nach dem Sturze
*) Haupimann zweiter Klaſſe.
Gladſtone's Premier vom Juni 1885 bis Januar 1886,
und zum zweiten Male vom Auguſt 1886 bis Auguſt 1892.
Lord Salisbury iſt auch als Schriftſteller hervorgelreten; er
beſchäftigt ſich mit Vorliebe mit phyſikaͤliſchen und mediziniſchen
Studien, und wurde 1869 als Derby's Nachfolger zum Kanzler
der Univerſität Oxford gewählt. Auf feinem Schloſſe Hatfield,
wo ihn nach ihrem Regierungsjubiläum die Königin Viktoria-
und 1891 der deutſche Kaiſer beſuchten, hat er ein wohlein-
gerichtetes Laboratorium. Er ſchwärmt für die Elektrizität
und hielt vor zwei Jahren eine begeiſterte Rede über die
Zukunft dieſer Kraft. Als Politiker iſt der Marquis v. Salis-
bury ſtets als ein Freund des Dreibundes aufgetreten.
Die gurg Zimmern im würktembergiſchen
Schwarzwald.
Siehe das Bild auf Seite 69.)
württembergiſchen Schwarzwalde und eine halbe Stunde
von der Eiſenbahnſtation Thalhauſen liegen auf einer ſteilen
Anhöhe über dem Neckarthal die höchſt maleriſchen Ruinen
der einſtigen Doppelburg Zimmern (fiehe das Bild auf S. 60).
Dies Stammſchloß des allen Grafengeſchlechtes Derer v. Zimmern
iſt faſt ringsum von ſteil abfallenden Schluchten umgeben,
gegen Weſten durch einen tiefen, aus dem Felſen heraus-
gebrochenen Graben geſchützt, und war daher im Mittelalter
eine ſehr ſtarke Veſte, auf der die Herren v. Zimmern, welche
ihre Ahnen bis zu den Kreuzzügen zurückführten und — ihrem
mythiſchen Stammbaume nach — ſogar Abkömmlinge jener
Cimbern ſein wollten, die 113v. Chr. in das römiſche Reich ein-
brachen, ſicher und geborgen ſaßen, bis 1594 Graf Wilhelm
v. Zimmern als Letzter ſeines Stammes zu Padua ſtarb.
Seine ihn überlebenden Schweſtern verkauften das Schloß an
die Stadt Rottweil, bei der es bis zum Jahre 1805 blieb.
Dann erwarb die noch bewohnbaren Gebäude der Weinhändler
Karl Reiner und richtete daſelbſt eine Gaſtwirthſchaft ein. Aus
deſſen Hinterlaſſenſchaft ging das Anweſen 1810 für 1700 Gulden
an Herrenzimniern über, und da man mit dem alten Gemäuer
nichts anzufangen wußte, ſo benutzte man es als Steinbruch
und baute von den aus dem Ritterſchloß herausgeriſſenen
Steinen zwiſchen die obere und untere Burg ein Armenhaus
für die Gemeinde. So vergeht die Herrlichkeit der Welt!
Noch jetzt ſteht das Armenhaus zwiſchen dem unteren „neuen
Schloß“ und dem oberen eigentlichen Herrenſchloß. Der untere
Thurm liegt faſt völlig in Trümmern, inwendig wuchern Tannen,
Dornen und Geſtrüpp; vom oberen Schloß ſtehen noch drei
Umfaſſungsmauern und ein hübſcher, auch auf unſerem Bilde
ſichtbarer Treppenthurm mit Spuren von Wandmalereien. Aber
auch dieſe kümmerlichen Reſte der einſt ſo ſtattlichen Veſte
fallen mehr und mehr den Elementen zum Opfer. Jeder
Winter richtet neue Berwüſtungen an, im Frühjahr ſtürzen
oft große Mauermaſſen den Abhang hinab oder in's Innexe
bereits ganz mit Schutt und Steinen angefüllt ſind, und bald
wird von dem Stammſchloſſe der einſt mächtigen Herren
v. Zimmern nichts mehr vorhanden ſein, als ein Haufen
Steine. Die überaus maleriſche Lage der Burg auf ſteilem
Bergvorſprung, umragt von dunklen Tannen, lockt heutzutage
noch die Wanderer an, und iſt auch ganz dazu geeignet, einen
Dichter zur Erſinnung eines recht romantiſchen Ritterromanes
zu begeiſtern. Mancher wilde Roman hat auch hier geſpielt,
und zwar das erſte Mal im Jahre 1080, als Gottfried der
Aeltere mit Herzog Berthold dem Bärtigen von Zähringen
in Fehde lag, und das Städtchen Hexrenzimmern wie die
Veſte erſtürnit und niedergebrannt wurden; das zweite Mal
1312, als die Rottweiler die Veſte berannten und dem Erd-
boden gleich machten. Im Anfange des 16. Jahrhunderts
endlich brannte ſie ab infolge einer durch Unvorſichtigkeit ent-
ſtandenen Feuersbrunſt. Jedesmal wurde ſie größer und
ſchöner wieder aufgebaut. Jetzt aber gibt es wohl kein
Wiederauferſtehen aus Schutt und Trümmern mehr.
verſtellte Abneigung.
Siehe das Bild auf Seite 61.)
Di; Reſi und das Vrenele haben ein gutes Herz, geſunden
Appetit und den dazu gehöxigen Durſt, wenn es ſein
muß; ſie arbeiten tüchtig und finden, daß von allen Manns-
perfonen ein recht luſtiger Soldat der „Schönſt“ iſt. . Seit acht
Tagen iſt Einquartierung im Dorf, und daher haben die beiden
Mädchen genügend Gelegenheit, ihre Anſichten bezüglich des
Nilitaͤrs zu befeſtigen, denn die Soldaten ſind ungemein
liebenswürdig und haben die freundlichſten Blicke für die
zwei hübſcheſ Bauerntöchter. Das Militär heſitzt auch eine
ganz eigenthümliche Witterung; ſie wittern Nädchen bei ſehr
großer Entfernung durch dicke Wälder, hinter Häuſern und
Scheuern entdecken ſie ſolche. Durch ihre kriegeriſche Er-
ziehung wiſſen ſie es zu machen, daß Jene ihren Weg kreuzen
müſſen, dann gibt es ein heimlich Nicken, Grüßen und
Schmunzeln, und es wird eine ganze Kanonade von ver-
liebten Blicken eröffnet. Die Mädchen flüchten zwar bei
ſolchen Begegnungen und ſchlagen die Augen nieder, nicht
aber ohne vorher ſchnell geprüft zu haben, wer der „Sauberſte“
von Allen iſt. Das Militär iſt für die Mädchen, was der
Honig für die Fliegen, das ſcheint ein altes Naturgeſetz.
Wenn bei der Einquartierung ein Trupp Soldaten irgendwo
ſich blicken läßt, ſind ſicher ein paar Mädchen nicht gar fexn.
Das iſt ein geheimnißvoller Magnetismus, den aud) die
nüchternſten Phyſiker nicht ableugnen werden. Unſer Vild
auf S. 61 iſt ein Beweis für dieſe Anziehungskraft. Reſi
und Vrenele haben Heu von der Wieſe geholt, der Weg
nach Hauſe führt eigentlich nicht an dan Virthshaus-
garlen vorbei, jedoch die Reſi war der Meinung, es ſei
dort ſchattiger, und das Vrenele, es ſtaube da weniger
an dem heißen Tage. So zogen denn die Mädchen diefes
Weges heim. Natürlich hatten ſie gedacht, daß die Soldaten
Uebung, Appell, Pferdeputzen oder dergleichen andere dienſtliche
Dinge zu thun hätten und nicht wieder im Garten ſich herum-
trieben und über die Mauer ſchauten, ſobald ſie Tritte ver-
nahmen, und, falls Mädchen vorbeigingen, ſich mancherlei Späße
erlaubten. Reſi und Vrenele gingen auch ganz ſtill und leiſe,
jedoch der Karren knarrt, das war nicht zu ändern, fliegen
konnten ſie auch nicht. Man hörte ſie gehen, daher geſchah
es denn, daß trotz aller Vorſicht plötzlich hinter der Mauer
ein ganzer Haufen Soldaten die Köpfe hervor ſtreckte. „Woher
des Weges ſchon ſo früh, war't ihr auch fleißig?“ ertönte es.
„Reſi heißt' und biſt eine Roſe,“ rief der Eine, „Vrenele,
Du biſt mein liebſter Schatz,“ ließ ein Anderer vernehmen.
„Habt ihr Durſt, Mädels?“ ſprach da luſtig ein Anderer
und bot den Maßkrug über die Mauer dar. Natürlich hatten
die Mädels Durſt, und der den Krug ihnen reichte, war ein
munterer und geſchickter Menſch. Gar zu gern hätten Reſi
und Vrenele den ſo galant dargebotenen Schluck angenommen,
aber wie durften ſie denn ſo etwas! Wenn das Jemand ge-
ſehen hätte, der Seppel, der Friedel, der Maxerl im Dorfe, das
hätte eine ſchöne Geſchichte gegeben, obwohl eigentlich gar
nichts dabei geweſen wäre. So dachten die Beiden, ſie ver-
ſchmähten die Labung, wendeten die Köpfe von den ver-
liebten Blicken, und wollten nicht hören, was die Soldaten
ihnen zuriefen; jedoch, wie unſer Bild das ſehr hübſch
zeigt, Alles nur zum Schein. Sie thaten abweiſend, aber im
Grunde ihres Herzens freuten ſie ſich über die Huldigung
der netten Burſchen, denn der „Allerſchönſt'“ iſt doch der
Militär, dort wird auch der ungeſchickteſte Bauernbub ein
gewandter Menſch, der weiß, was ſich ſchickt und wie man
ſauberen Mädchen gegenüber ſich zu benehmen hat. Das war
trotz des abweiſenden Verhaltens der zwei hübſchen Bäuerinnen
ihre Meinung.
paganini's erſte Triumphe.
Siehe das Bild auf Seite 65.)
De große italieniſche Violinvirtuoſe Nicolo Paganini (1784
bis 1840) hat das Violinſpiel in gänzlich neue Baͤhnen
gelenkt, und man darf wohl behaupten, daß wie vor ihm, ſo
auch nach ihm noch kein größerer Geiger dageweſen iſt. Er
verbrachte eine ſehr harte Jugend, da ſein Vater, der in der
Nähe des Hafens von Genua einen kleinen Kramladen beſaß,
den Knaben, deſſen wunderbare Begabung für das Violinſpiel
außerordentlich früh hervortrat, aus Habſucht mit den härteſten
Strafen zu unabläſſigem Studium zwang. Er begleitete ihn
auch anfangs auf ſeinen Konzertreiſen durch die bedeutenderen
Städte Oberitaliens, bis es endlich ſeinem erſten Lehrer, dem
Domkapellmeiſter Giacomo Coſta in Genua, gelang, den Jüng-
ling von dieſer niederdrückenden Beaufſichtigung des Vaters
zu befreien. In dem Glücke der goldenen Freiheit waren
Nicolo Paganini dieſe erſten Triumphe nun doppelt beſeligend;
ſein Talent entfaltete ſich mit jedem Tage wunderbarer, und
ſein Ruf durchflog ganz Italien. Unſer Bild auf S. 65
ach einem trefflichen Gemälde von G Gatti) zeigt uns den
jungen Künſtler, wie ihm nach einem ſeiner Konzertvorträge
zumal die weibliche Zuhörerſchaft begeiſterte Huldigungen
darbringt. Dies war namentlich an dem Hofe zu Lucca der
Fall, wo die Schweſter Napoleon Bonaparte's, die Fürſtin
Eliſa Bacciocchi, den alten Glanz des Hofes zu Ferrara zu
erneuern bemüht war. Hier blieb Paganini bis 1808, und
während dieſer Zeit bildete er ſeine Virtuoſität in einer Weiſe
aus, die wirklich an's Fabelhafte grenzte. Schon in früheſter
Jugend hatte er ſich uͤnwiderſtehlich getrieben gefühlt, auf
ſeiner kleinen Geige neue, ſeltſame Griffe zu ſuchen, deren
Zuſammenklingen die Hörer in Erſtaunen ſetzte; jetzt wagte
er Kühnheiten auf ſeinem Inſtrumente, die auf ſeinen ſpäteren
großen Reiſen ganz Europa in ſtaunende Bewunderung ver-
ſetzen ſollten. Einer Dame zu Ehren, die zu den begeiſtertſten
Verehrerinnen des genialen Geigers zählte, kündigte er in
Lucca dem Hofe eines Tages einen muſikaliſchen Scherz an,
dem er den Titel „Liebesſcene“ gab. „Man war auf die
ſonderbare Erſcheinung ſehr geſpannt,“ ſchreibt er ſelbſt dar-
über, „bis ich endlich mit meiner Violine erſchien, der ich die
beiden mittleren Saiten genommen hatte, ſo daß nur E und
G geblieben waren. Die erſte Saite ließ ich das Weib, die
zweite den Mann repräſentiren und begann nun eine Art
Dialog vorzutragen, worin leichte Streit- und Verſöhnungs-
ſeenen eines Liebespaares angedeutet werden ſollten. Die
Saiten mußten bald grollen, bald ſeufzen, ſie mußten liſpeln,
ſtöhnen, ſcherzen, ſich freuen und endlich jubeln. Zuletzt iſt
die Verſöhnung wieder geſchloſſen, und die Neuvereinten führen
ein Duett auf, das mit einer brillanten Coda ſchließt.“ Dies
Virtuoſenſtück erregte jubelnden Beifall, und namentlich die
Damen waren außer ſich vor Entzücken. Nachher aber meinte
die Fürſtin, um Paganini zu noch etwas Außerordentlicherem
zu reizen: „Da Sie auf zwei Saiten etwas ſo Schönes leiſten,
wäre es Ihnen denn nicht möglich, uns auf einer etwas
hören zu laſſen?“ Er ſagte ſofort zu, und als einige Wochen
darauf Napoleon's Namenstag gefeiert wurde, trug er dem
verſammelten Hofe die für die G-Saite allein komponirte
Sonate „Napoleon“ vor. Das war der wirkliche Anlaß zu
Paganini's Vorliebe für die G-Saite; man wollte nachher
immer mehr darauf hören, und ſo wurde ſeine Sicherheit in
dieſer originellen Spielart immer größer. Im Publikum aber
verbreitete ſich ſpäter die Sage, er habe als junger Menſch
aus Eiferſucht ſeine Geliebte ermordet und dann fünfzehn
Jahre im Kerker ſchmachten müſſen. Man habe ihm erlaubt,
ſeine Geige im Gefängniß zu behalten, aber allmälig ſeien
ihm alle Saiten bis auf die G-Saite geſprungen, und nun
habe er auf dieſer allein in ſo virtuoſer Weiſe ſpielen gelernt.
— YBuH ür AlIle
63
Er that es, und ſie traten Beide ein.
„Sie werden das Haus heute nicht mehr verlaſſen?“
fragte er.
„Nein!“ antwortete ſie nach kurzem Beſinnen.
„Sut. So werde ich den Schlüſſel behalten,“ ſagte
er, indem er die Thür wieder zuſchloß.
„Aber —“ machte ſie erſtaunt.
Seien Sie beruhigt. Ich nehme ihn nicht mit.
Und wenn ich morgen früh fort ſein ſollte, ehe Sie
erwachen, ſo werden Sie den Schlüſſel auf der Bank
im Korridor finden.“
„Wir ſind alſo gefangen?“ wandte ſie verletzt ein.
Nein, nur bewaͤcht. Es wird ein Poſten an dieſe
Thür kommen.“
Sie laͤchelte ſpöttiſch.
„Sie ſind zu vorſichtig. Sie ſind ängſtlich.“
Nein! Das iſt nur Pflicht gegenüber unſeren
ſchlafenden Kameraden, die wahrhaftig der Ruhe be-
duͤrfen, nach einem ſolchen Tag.“
Sie ſtiegen eine ſchmale Treppe hinauf und ge-
langten in den großen Korridor des Hauſes, der diefes
in zwei Hälften theilte und an deſſen Ende der große
Ausgang des Schloſſes lag.
Aber nicht Sie werden dieſer Poſten ſein?“ fragte
ſie noch einmal. -
„Nein. Meine Zeit iſt um ein Uhr um.“
Dann öffnete ſie rechts vom Korridor eine Thür,
die in die Zimmer führte, welche ſie ſich als Aufent-
haltsort für ſich und ihre Angehörigen ausgebeten hatte.
— — war durch eine Petroleumlampe ſchwach
erhellt.
* ſind zur Stelle, Herr Mullere,“ ſagte ſie
wieder, den Ton auf die letzte Silbe ſeines Namens
legend, „ich danke Ihnen.“
Er maͤchte eine Verbeugung und ſah, wie ihr
Schleier, der etwas herabgefallen war, inwendig an der
Thürklinke hängen blieb.
„O,“ machte ſie leiſe.
Raſch ſprang er helfend hinzu und trat ins Zimmer.
Es war ein Damenſalon, der natürlich auch durch die
gewaltſame Einquartierung am Nachmittag gelitten
hatte, deren Spuren man noch ſah. Der Teppich war
ſchmuͤtzig, die Möbel nur nothdürftig zu ihrem eigent-
lichen Gebrauch wieder hergerichtet, ſogar einige Fenſter-
ſcheiben waren zerſchlagen und die Splitter davon noch
auf dem Boden verſtreut. Flüchtig ſah Müller, als
er an der Thür beſchäftigt war, den Schleier Fräulein
d Aulnay's loszuwickeln, daß Niemand im Zimmer war.
Links von der Thür, in deren unmittelbarer Nähe ſtand
ein zierlicher Eiſenſtänder, der eine Schale mit durch-
einander liegenden Viſitenkarten enthielt, vielleicht der-
jenigen Perſonen, die hier in den letzten Tagen Beſuch
gemacht hatten. Gleich obenauf lag eine, welche lautete:
„Didier, Gapitaine en second.”*)
Blois.“
Der junge Soldat hatte ſeine Schießwaffe, um die
Hände frei zu haben, an die Wand gelehnt, und als
er ſie nach der Loslöſung des Schleiexs wieder aufnahm,
ſah und las er unwillkürlich dieſe Karte.
Gortſetzung folgt.)
Marquis v. Salisbury, der neuernannte engliſche
Premierminiſter.
; ; Siehe das Porträt auf Seite 57.)
8 Roſeberry (vergl. Heft 20 des Jahrgangs 1894), deſſen
Miniſterium am 23. Juni 1895 ſeine Entlaſſung nahm,
iſt ein Jahr und vier Monate engliſcher Premierminiſter ge-
weſen. Sein Nachfolger iſt der Miniſterpräſident Marquis
v. Salisbury, deſſen Porträt wir auf S. 57 bringen. Robert
Arthur Talbot Gascoigne Cecil, Marquis v. Salisbury, iſt am
:3.Februar 1830 geboren; er iſt jetzt zum ſechsten Nale Miniſter
geworden, ſteht zum dritten Male an der Spitze der Regierung
und gehört zu den bekannteſten Staatsmännern Europas.
Seit 1853 dem öffentlichen Leben angehörend, war er vom
Beginn an ein Konſervativer und iſt es geblieben. Er machte
ſich früh als Schriftſteller und Politiker bekannt und wurde
nach dem Tode ſeines älteren Bruders der Erbe der Peer-
ſchaft Als konfervatives Unterhausmitglied für Stamford
wurde er 1866 im Kabinet Derby Miniſter für Indien, trat
aber ſchon im folgenden Jahre zurück, weil er mit der Wahl-
reformbill der übrigen Miniſter nicht einverſtanden war. Im
Kabinet Disraeli (1874) übernahm er abermals das Staats-
ſekretariat für Indien. Im Jahre 1876 ging Salisbury als
Spezialbevollmächtigter nach Konſtantinopel und begab ſich
auf der Reiſe in die türkiſche Hauptſtadt nach Paris, Wien,
Berlin und Rom, um die Stellung der dortigen Regierungen
zur Orientfrage kennen zu lernen, die mit dem Kriege in
Serbien drohende Formen anzunehmen begann. Nach dem Rück-
tritt des jüngeren Lord Derby vom Poſten eines Miniſters des
Auswärtigen berief Beaconsfield 1878 den Marquis p. Salisbury
zu ſeinem Nachfolger Mit Beaconsfield begab ſich Salisbury
dann als zweiter Bevollmächtigter Englands zum Kongreß
nach Berlin, wo er eine maßgebende Rolle ſpielte. . Als 1880
die Liberalen bei den Wahlen ſiegten, traten Beide zurück.
Nach Beaconfield's Tode wurde Salisbury der anerkannte
Führer des Tories; als ſolcher war er nach dem Sturze
*) Haupimann zweiter Klaſſe.
Gladſtone's Premier vom Juni 1885 bis Januar 1886,
und zum zweiten Male vom Auguſt 1886 bis Auguſt 1892.
Lord Salisbury iſt auch als Schriftſteller hervorgelreten; er
beſchäftigt ſich mit Vorliebe mit phyſikaͤliſchen und mediziniſchen
Studien, und wurde 1869 als Derby's Nachfolger zum Kanzler
der Univerſität Oxford gewählt. Auf feinem Schloſſe Hatfield,
wo ihn nach ihrem Regierungsjubiläum die Königin Viktoria-
und 1891 der deutſche Kaiſer beſuchten, hat er ein wohlein-
gerichtetes Laboratorium. Er ſchwärmt für die Elektrizität
und hielt vor zwei Jahren eine begeiſterte Rede über die
Zukunft dieſer Kraft. Als Politiker iſt der Marquis v. Salis-
bury ſtets als ein Freund des Dreibundes aufgetreten.
Die gurg Zimmern im würktembergiſchen
Schwarzwald.
Siehe das Bild auf Seite 69.)
württembergiſchen Schwarzwalde und eine halbe Stunde
von der Eiſenbahnſtation Thalhauſen liegen auf einer ſteilen
Anhöhe über dem Neckarthal die höchſt maleriſchen Ruinen
der einſtigen Doppelburg Zimmern (fiehe das Bild auf S. 60).
Dies Stammſchloß des allen Grafengeſchlechtes Derer v. Zimmern
iſt faſt ringsum von ſteil abfallenden Schluchten umgeben,
gegen Weſten durch einen tiefen, aus dem Felſen heraus-
gebrochenen Graben geſchützt, und war daher im Mittelalter
eine ſehr ſtarke Veſte, auf der die Herren v. Zimmern, welche
ihre Ahnen bis zu den Kreuzzügen zurückführten und — ihrem
mythiſchen Stammbaume nach — ſogar Abkömmlinge jener
Cimbern ſein wollten, die 113v. Chr. in das römiſche Reich ein-
brachen, ſicher und geborgen ſaßen, bis 1594 Graf Wilhelm
v. Zimmern als Letzter ſeines Stammes zu Padua ſtarb.
Seine ihn überlebenden Schweſtern verkauften das Schloß an
die Stadt Rottweil, bei der es bis zum Jahre 1805 blieb.
Dann erwarb die noch bewohnbaren Gebäude der Weinhändler
Karl Reiner und richtete daſelbſt eine Gaſtwirthſchaft ein. Aus
deſſen Hinterlaſſenſchaft ging das Anweſen 1810 für 1700 Gulden
an Herrenzimniern über, und da man mit dem alten Gemäuer
nichts anzufangen wußte, ſo benutzte man es als Steinbruch
und baute von den aus dem Ritterſchloß herausgeriſſenen
Steinen zwiſchen die obere und untere Burg ein Armenhaus
für die Gemeinde. So vergeht die Herrlichkeit der Welt!
Noch jetzt ſteht das Armenhaus zwiſchen dem unteren „neuen
Schloß“ und dem oberen eigentlichen Herrenſchloß. Der untere
Thurm liegt faſt völlig in Trümmern, inwendig wuchern Tannen,
Dornen und Geſtrüpp; vom oberen Schloß ſtehen noch drei
Umfaſſungsmauern und ein hübſcher, auch auf unſerem Bilde
ſichtbarer Treppenthurm mit Spuren von Wandmalereien. Aber
auch dieſe kümmerlichen Reſte der einſt ſo ſtattlichen Veſte
fallen mehr und mehr den Elementen zum Opfer. Jeder
Winter richtet neue Berwüſtungen an, im Frühjahr ſtürzen
oft große Mauermaſſen den Abhang hinab oder in's Innexe
bereits ganz mit Schutt und Steinen angefüllt ſind, und bald
wird von dem Stammſchloſſe der einſt mächtigen Herren
v. Zimmern nichts mehr vorhanden ſein, als ein Haufen
Steine. Die überaus maleriſche Lage der Burg auf ſteilem
Bergvorſprung, umragt von dunklen Tannen, lockt heutzutage
noch die Wanderer an, und iſt auch ganz dazu geeignet, einen
Dichter zur Erſinnung eines recht romantiſchen Ritterromanes
zu begeiſtern. Mancher wilde Roman hat auch hier geſpielt,
und zwar das erſte Mal im Jahre 1080, als Gottfried der
Aeltere mit Herzog Berthold dem Bärtigen von Zähringen
in Fehde lag, und das Städtchen Hexrenzimmern wie die
Veſte erſtürnit und niedergebrannt wurden; das zweite Mal
1312, als die Rottweiler die Veſte berannten und dem Erd-
boden gleich machten. Im Anfange des 16. Jahrhunderts
endlich brannte ſie ab infolge einer durch Unvorſichtigkeit ent-
ſtandenen Feuersbrunſt. Jedesmal wurde ſie größer und
ſchöner wieder aufgebaut. Jetzt aber gibt es wohl kein
Wiederauferſtehen aus Schutt und Trümmern mehr.
verſtellte Abneigung.
Siehe das Bild auf Seite 61.)
Di; Reſi und das Vrenele haben ein gutes Herz, geſunden
Appetit und den dazu gehöxigen Durſt, wenn es ſein
muß; ſie arbeiten tüchtig und finden, daß von allen Manns-
perfonen ein recht luſtiger Soldat der „Schönſt“ iſt. . Seit acht
Tagen iſt Einquartierung im Dorf, und daher haben die beiden
Mädchen genügend Gelegenheit, ihre Anſichten bezüglich des
Nilitaͤrs zu befeſtigen, denn die Soldaten ſind ungemein
liebenswürdig und haben die freundlichſten Blicke für die
zwei hübſcheſ Bauerntöchter. Das Militär heſitzt auch eine
ganz eigenthümliche Witterung; ſie wittern Nädchen bei ſehr
großer Entfernung durch dicke Wälder, hinter Häuſern und
Scheuern entdecken ſie ſolche. Durch ihre kriegeriſche Er-
ziehung wiſſen ſie es zu machen, daß Jene ihren Weg kreuzen
müſſen, dann gibt es ein heimlich Nicken, Grüßen und
Schmunzeln, und es wird eine ganze Kanonade von ver-
liebten Blicken eröffnet. Die Mädchen flüchten zwar bei
ſolchen Begegnungen und ſchlagen die Augen nieder, nicht
aber ohne vorher ſchnell geprüft zu haben, wer der „Sauberſte“
von Allen iſt. Das Militär iſt für die Mädchen, was der
Honig für die Fliegen, das ſcheint ein altes Naturgeſetz.
Wenn bei der Einquartierung ein Trupp Soldaten irgendwo
ſich blicken läßt, ſind ſicher ein paar Mädchen nicht gar fexn.
Das iſt ein geheimnißvoller Magnetismus, den aud) die
nüchternſten Phyſiker nicht ableugnen werden. Unſer Vild
auf S. 61 iſt ein Beweis für dieſe Anziehungskraft. Reſi
und Vrenele haben Heu von der Wieſe geholt, der Weg
nach Hauſe führt eigentlich nicht an dan Virthshaus-
garlen vorbei, jedoch die Reſi war der Meinung, es ſei
dort ſchattiger, und das Vrenele, es ſtaube da weniger
an dem heißen Tage. So zogen denn die Mädchen diefes
Weges heim. Natürlich hatten ſie gedacht, daß die Soldaten
Uebung, Appell, Pferdeputzen oder dergleichen andere dienſtliche
Dinge zu thun hätten und nicht wieder im Garten ſich herum-
trieben und über die Mauer ſchauten, ſobald ſie Tritte ver-
nahmen, und, falls Mädchen vorbeigingen, ſich mancherlei Späße
erlaubten. Reſi und Vrenele gingen auch ganz ſtill und leiſe,
jedoch der Karren knarrt, das war nicht zu ändern, fliegen
konnten ſie auch nicht. Man hörte ſie gehen, daher geſchah
es denn, daß trotz aller Vorſicht plötzlich hinter der Mauer
ein ganzer Haufen Soldaten die Köpfe hervor ſtreckte. „Woher
des Weges ſchon ſo früh, war't ihr auch fleißig?“ ertönte es.
„Reſi heißt' und biſt eine Roſe,“ rief der Eine, „Vrenele,
Du biſt mein liebſter Schatz,“ ließ ein Anderer vernehmen.
„Habt ihr Durſt, Mädels?“ ſprach da luſtig ein Anderer
und bot den Maßkrug über die Mauer dar. Natürlich hatten
die Mädels Durſt, und der den Krug ihnen reichte, war ein
munterer und geſchickter Menſch. Gar zu gern hätten Reſi
und Vrenele den ſo galant dargebotenen Schluck angenommen,
aber wie durften ſie denn ſo etwas! Wenn das Jemand ge-
ſehen hätte, der Seppel, der Friedel, der Maxerl im Dorfe, das
hätte eine ſchöne Geſchichte gegeben, obwohl eigentlich gar
nichts dabei geweſen wäre. So dachten die Beiden, ſie ver-
ſchmähten die Labung, wendeten die Köpfe von den ver-
liebten Blicken, und wollten nicht hören, was die Soldaten
ihnen zuriefen; jedoch, wie unſer Bild das ſehr hübſch
zeigt, Alles nur zum Schein. Sie thaten abweiſend, aber im
Grunde ihres Herzens freuten ſie ſich über die Huldigung
der netten Burſchen, denn der „Allerſchönſt'“ iſt doch der
Militär, dort wird auch der ungeſchickteſte Bauernbub ein
gewandter Menſch, der weiß, was ſich ſchickt und wie man
ſauberen Mädchen gegenüber ſich zu benehmen hat. Das war
trotz des abweiſenden Verhaltens der zwei hübſchen Bäuerinnen
ihre Meinung.
paganini's erſte Triumphe.
Siehe das Bild auf Seite 65.)
De große italieniſche Violinvirtuoſe Nicolo Paganini (1784
bis 1840) hat das Violinſpiel in gänzlich neue Baͤhnen
gelenkt, und man darf wohl behaupten, daß wie vor ihm, ſo
auch nach ihm noch kein größerer Geiger dageweſen iſt. Er
verbrachte eine ſehr harte Jugend, da ſein Vater, der in der
Nähe des Hafens von Genua einen kleinen Kramladen beſaß,
den Knaben, deſſen wunderbare Begabung für das Violinſpiel
außerordentlich früh hervortrat, aus Habſucht mit den härteſten
Strafen zu unabläſſigem Studium zwang. Er begleitete ihn
auch anfangs auf ſeinen Konzertreiſen durch die bedeutenderen
Städte Oberitaliens, bis es endlich ſeinem erſten Lehrer, dem
Domkapellmeiſter Giacomo Coſta in Genua, gelang, den Jüng-
ling von dieſer niederdrückenden Beaufſichtigung des Vaters
zu befreien. In dem Glücke der goldenen Freiheit waren
Nicolo Paganini dieſe erſten Triumphe nun doppelt beſeligend;
ſein Talent entfaltete ſich mit jedem Tage wunderbarer, und
ſein Ruf durchflog ganz Italien. Unſer Bild auf S. 65
ach einem trefflichen Gemälde von G Gatti) zeigt uns den
jungen Künſtler, wie ihm nach einem ſeiner Konzertvorträge
zumal die weibliche Zuhörerſchaft begeiſterte Huldigungen
darbringt. Dies war namentlich an dem Hofe zu Lucca der
Fall, wo die Schweſter Napoleon Bonaparte's, die Fürſtin
Eliſa Bacciocchi, den alten Glanz des Hofes zu Ferrara zu
erneuern bemüht war. Hier blieb Paganini bis 1808, und
während dieſer Zeit bildete er ſeine Virtuoſität in einer Weiſe
aus, die wirklich an's Fabelhafte grenzte. Schon in früheſter
Jugend hatte er ſich uͤnwiderſtehlich getrieben gefühlt, auf
ſeiner kleinen Geige neue, ſeltſame Griffe zu ſuchen, deren
Zuſammenklingen die Hörer in Erſtaunen ſetzte; jetzt wagte
er Kühnheiten auf ſeinem Inſtrumente, die auf ſeinen ſpäteren
großen Reiſen ganz Europa in ſtaunende Bewunderung ver-
ſetzen ſollten. Einer Dame zu Ehren, die zu den begeiſtertſten
Verehrerinnen des genialen Geigers zählte, kündigte er in
Lucca dem Hofe eines Tages einen muſikaliſchen Scherz an,
dem er den Titel „Liebesſcene“ gab. „Man war auf die
ſonderbare Erſcheinung ſehr geſpannt,“ ſchreibt er ſelbſt dar-
über, „bis ich endlich mit meiner Violine erſchien, der ich die
beiden mittleren Saiten genommen hatte, ſo daß nur E und
G geblieben waren. Die erſte Saite ließ ich das Weib, die
zweite den Mann repräſentiren und begann nun eine Art
Dialog vorzutragen, worin leichte Streit- und Verſöhnungs-
ſeenen eines Liebespaares angedeutet werden ſollten. Die
Saiten mußten bald grollen, bald ſeufzen, ſie mußten liſpeln,
ſtöhnen, ſcherzen, ſich freuen und endlich jubeln. Zuletzt iſt
die Verſöhnung wieder geſchloſſen, und die Neuvereinten führen
ein Duett auf, das mit einer brillanten Coda ſchließt.“ Dies
Virtuoſenſtück erregte jubelnden Beifall, und namentlich die
Damen waren außer ſich vor Entzücken. Nachher aber meinte
die Fürſtin, um Paganini zu noch etwas Außerordentlicherem
zu reizen: „Da Sie auf zwei Saiten etwas ſo Schönes leiſten,
wäre es Ihnen denn nicht möglich, uns auf einer etwas
hören zu laſſen?“ Er ſagte ſofort zu, und als einige Wochen
darauf Napoleon's Namenstag gefeiert wurde, trug er dem
verſammelten Hofe die für die G-Saite allein komponirte
Sonate „Napoleon“ vor. Das war der wirkliche Anlaß zu
Paganini's Vorliebe für die G-Saite; man wollte nachher
immer mehr darauf hören, und ſo wurde ſeine Sicherheit in
dieſer originellen Spielart immer größer. Im Publikum aber
verbreitete ſich ſpäter die Sage, er habe als junger Menſch
aus Eiferſucht ſeine Geliebte ermordet und dann fünfzehn
Jahre im Kerker ſchmachten müſſen. Man habe ihm erlaubt,
ſeine Geige im Gefängniß zu behalten, aber allmälig ſeien
ihm alle Saiten bis auf die G-Saite geſprungen, und nun
habe er auf dieſer allein in ſo virtuoſer Weiſe ſpielen gelernt.