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— 1896.

Die Erbſchaft des Volkes.

Voman aus dem deutſch⸗franzöſiſchen Kriege.

Von
H. v. Heldrungen.

(Fortſetzung)

Nachdruck verboten.)
/ *2— Sie keine Sorge, Fräulein Bettine,“

Yd tröftete Müller. „Die franzöſiſchen Ge-
I fangenen befinden ſich in Deutſchland ſehr
- wohl. Solche Scenen, wie Sie heute
hier in Paris geſehen haben, kommen dort
nicht vor.“

Sie ſah ihn erſtaunt an.
Nicht?“

„Auf mein Wort. Hören
Sie nur weiter. An dem Abend, an wel-
chem ich Ihren Bruder fand, war nicht mit
ihm zu reden. Sie werden das begreifen,
wenn Sie erfahren, daß er drei bis vier
Stunden blutend, ohne Verband, auf dem
Schlachtfeld gelegen hatte. Ich war froh,
wie ich ihn im Lazareth hatte, und man
mir ſaͤgte, daß die Verwundung eine leichte
ſei. Er fiel aus einer Ohnmacht in die
andere, ſo ſchwach war er. Und wenn er
auch einmal die Augen aufſchlug, ſo hatte
er auf meine Reden doch nur verkehrte
oder gar keine Antwort. Er verſtand ein-
fach nicht, was ich ſagte. So ſchrieb ich
denn auf einen Zettel die Adreſſe meiner
Eltern, mit der Bitte, ſich, wenn er in
Deutſchland angekommen ſei, dahin zu wen-
den. Dieſen Zettel ſteckte ich ihm in die
Taſche, ſo daß er ihn finden und leſen
mußte, wenn er wieder kräftiger war.“

„D, mein Herr,“ ſagte ſie gerührt und
mit verhaltenen Thränen, „wenn ich Ihnen
das je vergeſſe —“ ;

„Ach, das iſt Menſchenpflicht. Hören
Sie nur zu, damit Sie Alles wiſſen. Außer-
dem ſchrieb ich am folgenden Tage an
meine Mutter und bat ſie, Alles aufzu-
wenden, um den Marquis Georges d'Aul-
nay in ſeinem neuen Aufenthaltsort aus:
findig zu machen und zu verſuchen, ihn
behufs beſſerer Verpflegung bei ſich auf-
nehmen zu dürfen. Ich ſchrieb auch einige
Worte von Ihnen, mein Fräulein —“ -
Er ſchwieg. Sie reichte ihm raſch beide
Hände, oder vielmehr ſie faßte damit nach
ſeiner einen geſunden Hand und drückte ſie
herzlich.

„Ich wußte ja noch nicht,“ fuhr er fort,
Wwie raſch ich in die Lage kommen würde,
Ihnen ſelbſt dankpflichtig zu werden.“

„Sprechen Sie davon nicht. Sie ſind
ein guter, edler Mann. Ich wußte es
wohl ſchon längſt, aber die Anderen ſollen

es auch wiſſen. Laſſen Sie mich nur ſorgen. Und
Sie haben noch keine Antwort wieder aus Deutſchland?
Weder von Georges noch von Ihren Eltern?“

„Nein. Ich kann ja auch keine bekommen. Ich bin
ja ſchon ſeit zwölf Tagen gefangen.“

„Und Sie haben ſich nicht an mich gewendet!“ ſagte
ſie vorwurfsvoll. „Sie hatten es mir verſprochen.“

„Ja, wenn ich hoch zu Roß als Sieger in Paris
eingezogen wäre, um Ihnen in der Noth beizuſpringen,
wie ich es immer geträumt, ja, dann hätte ich nicht
gezaudert, von Ihrer Einladung Gebrauch zu machen.
Aber ſo, als armer Gefangener, halb todt vor Hunger
und Elend — nimmermehr hätten Sie mich ſo ge-
ſehen, wenn nicht der Zufall es anders beſtimmt.“

„Wie undankbar. Juſt da Sie Hilfe brauchen, mich
zu verſchmähen! Wo ich Ihnen ſo gern helfe und ſo


ſehr verbunden bin! Iſt das nicht ein häßlicher Stolz?
Sie wollen mir die Freude rauben, Ihnen zu helfen!
Das ſollen Sie büßen, Monſieur Arthur! Warten Sie
nur. Morgen und übermorgen und alle Tage komme
ich wieder. Das ſoll Ihre Strafe ſein.“

„Wie gnädig!“

„Und wenn man Sie nicht in unſer Haus entläßt,
ſo ſollen Sie wenigſtens anderweitig anſtändig unter-
gebracht — —“

„Nein, nein, Fräulein Bettine!“ rief er raſch.

„Wie? Sie wollen nicht!“

„Laſſen Sie mich hier, bei meinen Kameraden. So
habe ich am meiſten Ausſicht, ausgewechſelt zu werden.“

„Ausgewechſelt? Seien Sie doch froh, daß Sie


Selbſtverſtändlich. So bald wie möglich.“

Sie trat etwas enttäuſcht zurück und
murmelte leiſe:

„Sie vergeſſen mich.“

Niemals!“ erwiederte er hitzig, „aber
Pflicht iſt Pflicht.“ ;

„Sie haben Ihre Pflicht gethan. Nun
iſt's genug.“



„Sie haben kein Gefühl, weder für
mich noch für Ihre Mutter.“

„Was ſoll ich thun, Bettine? Soll ich
vor Schmach und Armſeligkeit hier ſterben?
Soll ich von dem Pariſer Pöbel an einen
Laternenpfahl gehängt werden? Können
Sie mir ein ſolches Leben oder einen ſolchen
Tod wünſchen? Bin ich kein Mann wie
jeder Andere?“

Er hatte ſich erhohen und ſah ihr feſt
und entſchloſſen in die Augen. Auch ſie
ſah ihn an. So wie er jetzt daſtand, gefiel
er ihr. Das Auge leicht ſchwärmeriſch auf-
leuchtend, feſt und kräftig in jeder Bewegung,
in jeder Muskel, ſo fand ſie ihn ſchön. Sie
war ſtolz auf ihn.

„Sie haben Recht,“ ſagte ſie nach
einer kleinen Pauſe, „aber Sie ſollen nicht.
Ich will es nicht. Sie dürfen nicht. Laſſen
Sie mich nur machen.“

„Was wollen Sie thun? Was können
Sie thun?“

„Bah, in Paris kann eine Frau Alles,
wenn ſie klug iſt und —“

— und hübſch!“ ergänzte er.

„Laſſen Sie mich nur machen, mein
Freund. Doch ich muß jetzt gehen. Adieu,
auf Wiederſehen. Morgen bringe ich Papa.
Sie müſſen ihn kennen lernen.“ .

„In dem Zuſtand? In dem Aufzug?“
ſagte er erſchrocken.«

„Ei, das iſt im Kriege einmal nicht
anders. Er muß Ihnen danken.“

Oberſt de Blé klappte ſeine Zeitung
ziemlich demonſtrativ zuſammen. Die Zeit
ſchien ihm lang zu werden. Gleichwohl
hielt er es natürlich für unter ſeiner
Würde, ſich mit einem gewöhnlichen Sol-
 
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