Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
210

— Yıdy ün AlLLe

Heft 9.

daten zu unterhalten, und ließ deshalb merken, daß er
die Unterhaltung beendigt zu ſehen wünſche.

„Ich denke, es werden auch wieder andere Zeiten

kommen, Fräulein Bettine,“ ſagte Müller wieder, „in
denen es mir vergönnt iſt, auch Ihrer Familie geſell-
ſchaftlich näher treten zu können.“
Man hofft, was man wünſcht. Aber ich muß nun
wirklich fort. Mama iſt gewiß in Sorgen um mich,
und Onkel wird ungeduldig. Wir dürfen keinen Miß-
brauch treiben. Adieu, mein Freund, auf morgen. Sie
ſind doch morgen noch hier?“

„Das wiſſen die Götter.“

„Ich werde es morgen auch wiſſen. Adieu.“

Sie reichte ihm die Hand, die er haſtig küßte.

Sie ſind ein Engel, Bettine,“ flüſterte er bewegt.

Sie ging einige Schritte, dann blieb ſie wieder
ſtehen. „Wenn Sie ausgewechſelt werden —“ ſagte ſie
ſtockend.

„Es iſt mein ſehnlichſter Wunſch.“

„Sie Böſer! Aber Sie ſchreiben mir dann?

„Ganz beſtimmt.“

„Adieu. Adieu.“

Oberſt de Blé machte wieder eine ſteife Verbeugung,
die der Gefangene ebenſo ſteif erwiederte. Während
deſſen wandte ſich Bettine, ſchon in der Thür ſtehend,
nochmals um und warf hinter dem Rücken des Oberſten
dem jungen Deutſchen eine flüchtige Kußhand zu. Er
ſtreckte die Hand nach ihr aus — — dann war er plöß-
lich mit ſeiner Wache wieder allein. Einen Augenblick
noch ſtand er wie bezaubert ſtill. Bettine war ſo liebens-
würdig, ja noch mehr, ſo lieb zu ihm geweſen, daß er
ſehr geneigt war, Alles nur für einen Traum zu halten.
Was konnte er ihr ſein? War er ihr wirklich mehr,
als der erbarmungswürdige, heruntergekommene, hilfs-
bedürftige Gefangene? War es lediglich Dankbarkeit
oder Mitleid, oder Liebe, was ſie an ihm bethätigte?
Dann wurde er wieder fortgeführt. Er durfte hier

nict bleiben.

: Bweiundzwanziglfies Kapitel.
Das „ſchönſte Regiment“ — der Name war nach-
gerade eine blutige Fronie geworden, denn die Leute
ſahen in ihren verſchliſſenen, die Spuren von vielen
Schlachttagen und Biwaklagern an ſich tragenden Uni-
formen jämmerlich genug aus — konnte ſich ſeiner ge-
müthlichen Einrichtung in Claye nicht lange erfreuen,
ſondern wurde weiter an die Marne heran nach Chelles
vorgeſchoben. Dort blieb es ziemlich lange.
Hier erreichte Hauptmann Weinhold ſein Bataillon
wieder, nachdem er in St. Privat als geheilt entlaſſen,
und Frau und Tochter nach Burgſaßhauſen zuxückgekehrt
waren. Zufällig kraf Weinhold gerade an dem Tage
in Chelles ein, an dem hier der Fall Straßburgs he-
kannt wurde, nämlich am 29. September. Es war alſo
eine doppelte Urſache zu einem Feſtgelage der Kom-
pagnie gegeben, deſſen Koſten die entdeckten Weinlager
zwiſchen Chelles und Villemomble beſtreiten mußten.
Wie mancher Feldkeſſel voll dunklen, feurigen Roth-
weins wanderte in jenen Tagen aus der Felſenhöhlung
bei Villemomble näch dem Lager von Ehelles! Auch
ſonſt fehlte es an Unterhaltung in Chelles nicht. Wacht-
dienſt in der äußerſten Vorpoſtenkette gegen Neuilly und
Villemomble hin, kleine Scharmützel mit den franzöſiſchen
Vorpoſten oder Paͤriſer Kartoffelmarodeuren, Luftballons,
welche die deutſchen Stellungen ausſpionixen wollten,
Arbeiten an den Verhauen, Schanzen, Laufgräben, mit
denen man Chelles und die ganze Stellung der Sachſen
umgab, um gegen Ausfälle der Pariſer Truppen Stütz-
punkte zu haben, ferner das Eintreffen von Erſatzreſerven
aus L. die einexerziert werden mußten und natürlich
einen ganzen Sack voll Neuigkeiten mit aus der Hei-
math brachten, die Liebesgaben, die aus Deutſchland
eintrafen, und hundert andere Vorkommniſſe ließen
Langeweile nicht aufkommen. Hätten nicht von Zeit zu
Zeit die Pariſer Forts ihren donnernden Mund gegen
die Vorpoſtenkette aufgethan, oder Nachts mit großen
Scheinwerfern die Umgegend unſicher gemacht, man
hätte wirklich den Ernſt der Lage vergeſſen können.

Zur Rechten hatten die Sachſen, wie ſchon während
des ganzen Krieges, das Gardekorps, zur Linken waren
die Württemberger in den eiſernen Cernirungsgürtel ein-
gerückt, und zwiſchen dieſen und den Sachſen entwickelte
über die Marne hinweg ein ziemlich lebhafter Ver-
ehr. *
Dieſes verhältnißmäßig behagliche Lagerleben wurde
aber ſchon Ende Oktober unterbrochen. Gambetta, der
Diktator Frankreichs, hatte Paxis in den erſten Tagen
des Oktober im Luftballon verlaſſen, und in den noch
nicht okkupirten Provinzen Frankreichs begann alsbald
ein reges Leben. Im Süden, Weſten und Norden
wuchſen die Armeen ſozuſagen aus der Erde und
ſetzten ſich zur Befreiung der Hauptſtadt in Bewegung.
In den Siegesjubel über den Fall von Metz, der in
Ehelles am 29. Oktober bekannt wurde, miſchten ſich
nur gar zu bald die ernſten Nachrichten aus dem Süden
Frankreichs, von Dijon, von Orléans, von Chaͤteaudun,


mit einem wenn auch ungeſchulten, ſo doch ſtellenweiſe
zwei- und dreifach an Zahl übexlegenen Feind herum-
ſchlugen. Der letzte Alt des Krieges hegann ſich im
Rücken der Pariſer Belagerungsarmee abzuſpielen, und
wenn die Mannſchaften in Chelles Abends um ihre Ka-
mine und Wachtfeuer herum ſaßen und ſich die frie-
renden Glieder wärmten, dann fragte man einandex un-
geduldig: „Sollen mir dennauch Weihnachten, vielleicht gar
den ganzen Winter vor dieſem Neſt liegen?“ Es wurde
doch ſchön empfindlich kalt, der Winter ſtellte ſich zeitig
ein und verſprach ein harter zu werden. Die Friedens-
ſehnſucht regte ſich immer mächtiger und ſteigerte den
Unmuth auf die Franzoſen zu immer wilderem Grimme.

Es war im November, als das „ſchönſte Regiment“
Chelles wieder räumen mußte, um auf das linke Marne-
ufer vorgeſchoben zu werden. Nur ungern verließen
Stock und Hendrich ihr lieb und traut gewordenes Quar-
tier, wo ſie ſich ſo nett eingerichtet hatten. Der Auf-
enthalt in Chelles hatte ihnen doch manche gute Stunde
gebracht. Die Verbindung mit der Heimath war immer
ficherer und beſſer geworden, Stock war zum Unter-
offizier avancirt, und Aſſiſtenzarzt Hendrich erhielt für
ſein Verhalten während und nach der Schlacht von
St. Privat das Eiferne Kreuz.

Nun kamen unruhige Tage. Auf der anderen Seite
der Marne, wo ſie in die Stellungen kamen, die vor
ihnen Württemberger innegehabt, war es höchſt un-
gemüthlich. Die eine Feldwache, die ſie von den Würt-
kembergern übernahmen, hatte in den letzten fünf Tagen
einige dreißig Todte und Verwundete gehabt. Das
Regiment wuͤrde auseinander geriſſen, ein Bataillon
kam hierhin, eines dahin; bald ſtand man in der Re-
ſerve bei Noiſy, Champ oder Villiers, bald mußte man
auf die äußerſte Vorpoſtenkette in die Schleife hinein,
die hier die Marne macht und die rechts und links
von den Dörfern Brie und Champigny flankixt wixd.

Auf Vorpoſten mußten ſich die Leute in Erdlöcher
eingraben. Am 26. November kam Unteroffizier Stock
an ein ſolches Loch, um den darin befindlichen Mann
abzulöſen. Er ſtand, das Gewehr im Arm, mit dem
Ruͤcken an die hintere Erdwand gelehnt ruhig da und
ſchien eingeſchlafen zu ſein, denn er regte ſich nicht,
auch als die Patrouille näher kam.

„Heda, Eilitz, iſt was paſſirt? Haben Sie etwas
zu melden?“ fragte Stock. Keine Antwort.

„Zum Donnerwetter, was iſt das für eine Mode,
auf Vorpoſten zu ſchlafen, Eilitz! Wollen Sie in den
Kaſten fliegen? Denken Sie vielleicht, man ſtellt Sie
zum Spaß hierher?“ wetterte Stock den Mann an, im
Bewußtſein ſeiner neuen Unteroffizierswürde. Es kam
wieder keine Antwort. Der Mann regte ſich nicht. Stock
wurde nun wirklich zornig.

„Da ſoll doch ein — — Eilitz! raus da! Sie
werden gemeldet. Ei-li —“ Plötzlich ſtockte er. Der
Zorn verflog und machte einem Ernſt, einer gewiſſen
traurigen Ueberraſchung Platz. Ja, freilich ſchlief der
Mann aber er ſchlief den Schlaf, von dem Niemand
wieder aufwacht. Mitten durch die Stixn geſchoſſen,
lehnte er an der Wand. „Armer Kerl!“ murmelte
Stock mitleidig. In der Nacht ſchaffte man den Leich-
nam zurück, und am andexen Morgen wurde er gleich-
zeitig mit zwei anderen Kameraden, die im Lazareth
von Noiſy le Petit am Typhus geſtorben waren, mit
allen militäriſchen Ehren auf dem Kirchhof von Villiers
begraben.

Seit dieſem Tag hörte die Unruhe, das Alarmiren
am frühen Morgen und das Warten auf die Franzoſen
nicht mehr auf. Man mußte Wind bekommen haben,
daß die Pariſer Beſatzung einen großen Ausfall plane,
auch das ewige Donnern und Kraͤchen von den Forts
rings um Paris ſchien eine große Aktion anzukündigen


nach welcher Seite hin ſich der Angriff auf den Cer-
niruͤngsgürtel richten werde. So ſtanden denn die
Truppen bei immer zunehmender Kälte, in ihre Näntel
gehüllt, tagelang in Gefechtsſtellung, und auch Nachts
hatten ſie vor dem Feuer der Franzoſen in den elenden
Quartieren keine Nuhe. Es durften keine Feuer mehr
angezündet werden, um den feindlichen Feſtungsgeſchützen
keine Zielpunkte zu geben.

In der Nacht vom 29. zum 30. November Iag Stock
mit ſeiner Korporalſchaft in einem Schuppen von Noiſy
le Grand.

„Mein ſchönes, gemüthliches Chelles,“ ſeufzte er,
als er kaum ſo viel Raum fand, um ſich ſtrecken zu


wir Dich überhaupt wiederſehen?“

Ach, es wurde ihnen mit der Zeit Alles gleichgiltig.
Und wenn im nächſten Moment eine feindliche Granate
den Schuppen zerriß und Alle begrub — ſie waren ſo
apathiſch, ſo abgeſtumpft, daß ſie auch das nicht kümmerte.

Früh um vier Uhr, es war noch vollſtändig Nacht,
ertönte wieder das Alarmſignal. Man ſprang guf, und
fort ging's. Mit nüchternem Magen, in aller Eile
rannte man nach dem Sammelplatz des Bataillons.

„Es wird wieder nichts ſein,“ murrte Stock. „Die
Kerle halten uns nux zum Narren.“ >

„Wohin geht's?“ fragte ein Anderer.

„Nach Champigny. Wir müſſen die Württemberger
dort ablöſen.“

Als Stock auf dem Sammelplatz eintraf, ſaß er
Hauptmann Weinhold neben ſeinem Neffen, dem Aſſi-
ſtenzarzt Hendrich, ſtehen.

„Max!“ hörté er ihn ſagen, „ich weiß nicht, mir
iſt jeute wieder ſo bang. Wo ſeid ihr denn heute?
Es gibt heute gewiß 'was.“

„Ich glaubé nicht, Onkel. Es iſt nur blinder Lärm-
Ich bin übrigens bis auf Weiteres im Lazareth des
Schloßes, Lalande. Du kennſt es?“

„Ja,

„Schluck, haſt Du nicht etwas Feuer? rief ihm
Stock eilig zu, der ſich als Erſatz für den Morgenkaffee
eine Cigarre anſtecken wollte.

Mar reichte ihm ſeine Streichholzſchachtel.

„Du biſt der beſte Aſſiſtenzarzt in der Armee,“
meinte Schluck. „Sogar Streichhölzer hat er. Nun,
Gott vergelt's. Wer weiß, ob es nicht die letzte Ei-
garre iſt, die ich mir in dieſem Leben anſtecke.“

„Was, Stock?“ lachte der Aſſiſtenzarzt, „Du biſt
auch todesahnend? Nur keine Bange. Du weißt, Un-
kraut verdirbt nicht.“

In aller Haſt lief man in die Finſterniß hinaus,
an Villiers vorbei nach Champigny hinunter, wo man
etwa gegen ſechs Uhr ankam. Auch hier waren die Poſten
meiſt in Erdlöchern oder in Gräben untergebracht, wäh-
rend die Soutiens weiter zurück in Champigny ſelbſt
lagen, zu zwanzig, dreißig bis fünfzig Mann in den
hierzu paſſend gelegenen Häuſern vertheilt. Eben war
man dabei, die Württemberger abzulöſen, und Stock kam
dabei mit Hauptmann Weinhold in eine eigens errichtete
Bretterbude zu liegen, wo ſie das Glück hatten, in
einem Weinfaß, das die Württemberger gefunden, aber
auch ſchon über die Hälfte in der Nacht ausgeleert
hatien, noch eine kleine Stärkung zu finden als ein
gewaltiges Schießen aus den Forts begann. Noch nicht
zwei Minuten waren ſie in der Bude, der Tritt der
abziehenden Württemberger war noch nicht verhallt, als
ein Soldat vom Poſten zurückkam und in großer Auf-
regung meldete:

„Der Feind iſt über die Marne gegangen. Das
ganze Ufer wimmelt von Franzoſen.“

Hauptmann Weinhold lauſchte einen Augenblid
hinaus. Das Krachen der Geſchütze, in das ſich jebt
auch ſchon Kleingewehrfeggr-mifchte, trotzdem es noch
ſo finſter war, daß man nicht zwanzig Schritt weit
ſehen konnte, wurde immer ſtärker.

„Es iſt ſchon richtig,“ murmelte er, „heute gilt’s!
Sie kommen oder ſie ſind vielleicht ſchon da.“

Dann hieß es: „Gewehr über!“ und fort ging’s.

Sobald Stock in's Freie trat, ſuchte er ſich zu
orientiren. Ein ſchwacher, fahler Dämmerſchein breitete
ſich eben über die Landſchaft aus, die, hier nach dem
Fluß zu ſanft abfallend, faſt eben war. Der Fluß
war ihnen zur Linken, zog ſich aber in einem mächtigen
Bogen vor ihnen herum, bis er dann drüben bei Brie
wieder zurückkam. In dieſem Bogen mußten die Fran-
zoſen den Uebergang, geſtützt von dem Feuer der Forts,
bewerkſtelligt haben. Aber zu langem Orientiren war
keine Zeit. Die Granaten ſausten unaufhörlich über
ihnen hin, krachten und platzten in der Luft, und vor
ihnen wogte und wob Alles im Nebel auf und ab,
aus dem man hier und da feindliche Infanteriemaſſen
und Artillerie auftauchen ſah. Es war kein Zweifel
mehr: der Feind war in ganz bedeutenden Maſſen In
der Nacht uͤber den Fluß gegangen und drang nun
unaufhaltſam vor. Da war nicht mehr von einigen
Regimentern die Rede, ſondern da entwickelte ſich eine
Armee von etwa hunderttauſend Mann und darüber
Und in Champigny'ſtand noch nicht einmal ein ganzes
Regiment. Daher zog ſich die Feldwache eiligſt auf
das Dorf zurück.

Trotzdem man bei dieſem Zurückgehen in Anbetracht
des heftigen feindlichen Feuers verhältnißmäßig wenig


disziplinirte Truppe nichts Schwierigexes gibt, als das
geordnete Zurückgehen vor dem Feind. Unwillkürlich
wurde der Schritt ſchneller und ſchneller, immer mehr
und mehr löste ſich die ſtraffe Ordnung, wurde der
Rückzug eine Flucht. Jeder liebt ſein Leben, und Yeder
— die ſchützenden Häuſer des Dorfes zu er-
reichen.

Stock kam mit etwa zwanzig Mann hinter ein Haus
zu ſtehen, wo ſie aushalten mußten. Von dem Haupt-
mann Weinhold und der übrigen Kompagnie ſah er
nichts. Sie waren ohne Zweifel auch im Dorf aber
bei dem Geſchoßhagel, mit dem jetzt das Dorf über-
ſchüttet wurde, war das Suchen und Umſehen eine
heikle Sache. Sie ſtanden hinter ihrer Mauer und
fahen ziemlich bedenklich, Manche ſogar bleich und zit-
ternd aus.

Es wurde nun raſch hell, aber mit der Helligkeit
nahm auch die Kraft des feindlichen Feuers zu. Das
Dorf brannte an vielen Stellen, mächtige Granaten
riſſen die Dachſtühle der Häuſer herunter, fuhren durch
die Wände und hüllten die Umgebung in Feuer und
Staubwolken, wenn ſie platzten! Das Fürchterlichſte
 
Annotationen