heft 6
— Hug ır AlEe
die Erbitterung der Gegner Ueberall ſchlugen die
hellen Flaumen aus den Häuſern, man kämpfte nur
noch um Ruinen, aber mit einer wahren Wuth der
Verzweiflung, die ſich auch den Einwohnern mittheilte.
Allınälig wurde jedes Haus eine Feſtung, jede Mauer
ein Wall.
In der zehnten Stunde bemerkte der Kaiſer, daß
Theils des Lehrun'ſchen Korps ihre Poſitiguen, die
zum Theil noch ungefährdet und noch aar nicht an-
gegriffen waren aufgaben und zurücgingen. Was ſollte
* heißen? Gleichzeitig ſprengte General v. Wimpffen
eran. ;
„Sire,“ meldete er, „General Ducrot hat den Ober-
befehl zu Unrecht bekommen, der Oberbefehl gehört mir.“
Was ſoll dieſe Ruckwartsbewegung des Lebruͤnſchen
Korpz bedeuten, General?“ fragte der Kaifer zunächit.
„Ducrot will die Armee über Mezieres abziehen laffen.“
„Was?“ rief der Kaiſer erſchkocken.
„Ich habe die Befehle bercits widerrufen, wo ich
konnte, Sire, und bin hier, um Ihre Beſtätigung zuͤ
erbitten. Hier iſt meine Ernennung Seitens des Kriegs-
miniſteriums, die ſchon vor drei Tagen in Paris er-
folgt iſt, für den Faͤll, daß der Herr Marſchall ver-
hindert ſein ſollte, den Oberbefehl weiter zu fuͤhren.“
Der Kaiſer ſah nur flüchtig in das Papier! das
ihm General v. Wimpffen reichte Er hatte das Ge-
fühl, daß, wenn noch etwas an ſeiner Sache zu ver-
derben fei, das durch den dreimaligen Wechſel im Ober-
befehl ſicher geſchehen würde.
Sie wollen Gegenbefehle für das Lebrun'ſche Korps
geben?“ fragte er.
„Sie ſind ſchon gegeben, Sire. Das Korps muß
ſeine alten Stellungen wieder einnehmen, ſo weit das
möglich iſt Wir brechen nach Süden durch. Ich bitte
nur um Ihre Beſtätigung, Sire.“
Sie ſind beſtätigt, General.“
Vimpffen ſprengle davon. In der That kehrten
die Regimenter, die ſchon im Marſch auf Illy und
bare Zeit ging dadurch verloren! Wie ſehr gewannen
die Deutſchen indeſſen an Terrain! Immer enger und
enger wurde der Kreis, immer neue Batterien eröff-
neten ihr vernichtendes Feuer.
Trotz ſeiner Krankheit, ſeiner Ermattung und ner-
vöjen Abſpannung, ttotz der ſchlafloſen Nächte, der
Aufregungen aller Art, die er überſtaͤnden, hielt der
Kaiſer bis gegen ein Uhr in der Gefechtslinie aus.
Er ſah, wie Stellung um Stellung verloren ging, Fuß-
breit um Fußbreit wurde vextheidigt und erkämpft,
aber er hatte das Gefühl, als ob mit jedem Zoll Landes
für ihn ganze Provinzen verloren gingen. Bft zitterte
er minutenlang, weil ihm das Donnern der Geſchütze,
die in ſeiner unmittelbaren Nähe abgefeuert wurven,
Schmerzen vexurſachte. Um ihn herum fielen die feind-
lichen Geſchoſſe, Verwundete wurden aus ſeiner un-
mittelbaren Nähe fortgetragen — ihn traf nichts.
Endlich wandte er ſein Pferd und ritt langſam
nach Sedan zurück. Er wußte: e& mar vorbei!
(Fortjegung folgt.) :
S Unangenehme Enkdechung.
(Siehe das Bild auf Seite 137.)
(Eine Taſſe Milch iſt etwas Gutes, beſonders wenn ſie warm
und etwas Zucker darin iſt, ſo denkt das kleine Gretchen
und wandert mit ſeiner Frühſtücksmilch vor das Haus hinaus.
Dort rührt die Kleine die Milch ſorgfältig um, denn ſie weiß,
daß dann der Zucker zergeht, und die Milch ſüßer wird.
Eben macht Gretchen ſich bereit, das ſchöne Frühſtücksmahl ein-
zunehmen, da brummt etwas in der Milch, Gretchen wirft
verwundert einen Blick in die Taſſe, und nun ſieht die Kleine,
daß eine gewaltige Fliege in die Milch gefallen iſt, dort wie
unſinnig herumfährt und allerhand Schwimmübungen anſtellt.
Gretchen betrachtet das wild ſich geberdende Thier; es hat in
der Milch doch eigentlich gar nichls zu thun, denkt das Kind,
und ihm ſteigt eine Ahnung davon auf, daß die Milch durch
dieſen Beſuch nicht beſſer wird. Das Thier iſt zwar nur
klein, aber es benimmt ſich ſo böſe und heftig, daß Gretchen
ſich fürchtet, es mit dem Löffel herauszunehmen; die Milch
mit dem Thier darin trinken mag Gretchen auch nicht, das böſe
Thier könnte ihm in's Geſicht fpringen und es beißen. So
ſteht denn die Kleine da und belrachtet verdrießlich und
ſorgenvoll ihr geſtörtes Frühſtück. Dieſe Entdeckung iſt ſehr
unangenehm, und es wird der Kleinen, wie ihre ganze Haltung
auf unſerem Bilde S. 137 (nach einem Gemälde von J. Klein?
ſchmidh zeigt, nichts übrig bleiben, als durch ein großes
Geſchrei ſchließlich die Hilfe der Mutter herbeizurufen.
Wem taucht bei Betrachtung dieſes Bildchen nicht die Er-
innerung auf, daß er in ſeiner Jugend ähnliche unangenehme
Entdeckungen gemacht hat!
Die Krönung Karl's VII. von Krankfreich in
Neims.
Siehe das Bild auf Seite 141.)
* Anfang des 15. Jahrhunderts war für Frankreich im
höchſten Grade unheildrohend. Der geiſteskranke König
Karl VI. war unfähig, Ruhe und Ordnung aufrecht zu er-
halten, und die Herrfchſucht und Habgier der Großen hatte
freies Spiel. Die Herzöge von Orleans und von Burgund
kämpften miteinander um den Vorrang, die Königin ſuͤchte
2
143
ihren Einfluß auf den geiſteskranken Gemahl in eigennütziger
Weiſe auszubeuten, ganz Frankreich ſpaltete ſich in zwei feiuͤd—
Iiche Lager. Der Hekzog von Orleans wurde durch von dem
Burgunder gedungene Meuchelmörder getödtet, und 1410
begann der Bürgerkrieg, den die Engländer benutzten, um
ihre Beſitzungen auf dem Feſtlande auf Koſten Frankreichs
zu erweitern. Nach dem glänzenden Siege von Azincourt
nahmen ſie die ganze Normandie in Beſitz, aber auch dies
war nicht im Stande, der Parteiwuth und dem Bürgerkriege
in Frankreich ein Ende zu machen, und als im Oktober 1422
Karl VI. ſtarb, hinterließ er ſeinein Sohne, der als Karl VII.
die Regierung antrat, ein zerrüttetes, in ſich geſpaltenes
Reich Der Norden Frankreichs mit Baris hatte ſich der eng-
liſch⸗hurgundiſchen Partei angeſchloſſen, nur der Süden hielt
zum Könige, und das Waffenglück blieb den Engländern treu.
Schan belagerten dieſe Orleans, und es ſchien, als würden
ſie Karl VII. auch den Reſt ſeiner Beſitzungen entreißen, da
brachte die „Jungfrau von Orleans“ gleich einer Wunder-
thäterin dem vor dem Untergange ſtehenden Frankreich die
Nettung. Das ſeltſame Schäfermädchen aus dem Dorfe
Domremy, Johanna d'Are mit Namen, iſt durch die poetiſche
Verherrlichung, die ſie in Schiller's Drama gefunden hat,
Jedermann bekannt. Sie ſelbſt hielt ſich für von Gott berufen,
Frankreich von den Feinden zu befreien' und Ddem König die
Krone aufs Haupt zu ſetzen. Viſionen hatten ihr das verkündet.
Sie machte ſich in der Tracht eines Kriegsmannes auf den
Weg nach Chinon, wo damals Karl ſeinen Hof hielt, und
ſagte zu dieſem: „Ich bin von Goͤtt geſandt, Euch, den
wahren Erben Frankreichs, nach Reinis zur Krönung zu
führen! Ihre feſte Zuverſicht entflammte die Begeiſterung
des Volkes, und Karl VII. und ſeine Großen beſchloſſen, ſich
dieſe zu Nutze zu machen. Man ſchickte die Jungfrau zunächſt
mit kriegeriſchem Geleite nach Orleans, damit ſie ihre Macht
beweiſe. Sie ſollte die bedrängte Stadt entſetzen. Und das
gewagte Unternehmen, dem man wie einem Gottesgerichte
entgegenſah, gelang wirklich. Das franzöſiſche Volk erblifte
in der Jungfrau ein geweihtes, ein heiliges Wefen, und ent-
flammte an ihren Worten ſeinen Muth. Johanna ſchritt jetzt
von Sieg zu Sieg. Sie entriß den Engländern eine Stadt
nach der anderen, brachte ihnen auch im offenen Felde Nieder-
agen bei und machte dem Koͤnig die Bahn nach Reims frei.
Er zog dort am 16. Juli 1429 triumphirend ein, und am
zächſten Tage fand in feierlichſter Weiſe die Krönung ſtatt.
Johanna d Are ſtand während derſelben, mit ihrem weißen
Lilienbannex in der Hand, am Hochaltar, knicte nach der
Krönung als Erſte von allen Vaſallen vor dent Könige nie-
der und ſprach: „Edler König, nun iſt der Wille Gottes er-
füllt. Erweiſet nun auch, daß Ihr der waͤhre König ſeid,
dem Frankreich gehört!“ Dieſen Vorgang gibt unſel Bild
auf S. 141 wieder. Johanna ſtand auf dem Höhepunkte
ihrer Nacht und ihres Ruhmes. Von da an ging es uͤnauf-
haltſam ahwärts. Der ſchwache, wankelmüthige König ſchützte
ſie undankhaxer Weiſe nicht gegen den Neid und Verrath
ſeiner Günſtlinge, das Volk ernuͤchterte ſich nach und nach,
und bei einem kühnen Ausfall aus Lagny wurde fie von den
Burgundern gefangen geyommen und an die Engländer aus-
geliefert Zu Rouen nach langen Quälereien verurtheilt, wurde
ſie am 30. Mai 1431 als Here auf offenem Markte lebendig
herbrannt. So ſtarb das hoͤchherzige Mädchen, ohne daß
König Karl eine Hand gerührt hätte, ſie zu retten.
Abend am Alhlenhorſter Führhaus.
Siehe das Bild auf Seite 145.)
Di; für den Binnenländer intereſſanteſten Theile Hamburgs
ſind die Hafenviertel; die ſchönſten dagegen, den Stoͤlz
Hamburgs bildenden, liegen um die Alfter herum. Dieſer
kleine Fluß bildet innerhalb der Stadt zwei Becken: ein
keineres, die Binnenalſter, und ein größeres, die Außenalſter.
Auf den breiten Straßen, welche die Binnenaͤlſter umgeben —
dem alten und neuen Jungfernſtieg und dem Alſterdamm —
herrſcht ſtets reger, lebhafter Verkehr. Dort bewegt ſich die
elegante Welt.
von beiden Seiten in das Waſſerbecken vor und 'ſchließen es
in Verbindung mit dem monumentalen Bau der Lombards-
brücke von der Außenalſter ab. Kleine, ſchnelle Dampfer
ſchießen auf den Waſſerflächen hin und her und vermitteln
den Verkehr vom alten Jungfernſtieg nach allen Punkten der
Außenalſter. Dieſe iſt jetzt auch rings von Häuſern umgeben.
Die Vorſtadt St. Georg, die Villen von Uhlenhorſt und
Harveſtehude mit ihren Anlagen und Gärten ſchließen den
weiten blauen Waſſerſpiegel ein, den zahlreiche ſchlanke Segel-
boote, vom Winde getrieben, durchfurchen, und auf dem weiße
Schwäne majeſtätiſch dahinziehen. In Uhlenhorſt wohnt die
Hamburger Ariſtokratie; dort ſteht inmitten wohlgepflegter
Gärten Landhaus an Landhaus in allen nur möglichen Styl-
Eleganz. Faſt in jedem Garten plätſchern zwiſchen den grünen
Sträuchern und bunten Blumen Springbrunnen, leuchten
helle, nach engliſcher Art gehaltene Raſenflächen. Hier lebt
es ſich gut, wo Kunſt, Natur und Reichthum ſich vereinigen.
Uhlenhorſt bildet denn auch ein beliebtes Ausflugsziel für
diejenigen Bewohner der Hanſeſtadt, die vom Glück nicht ſo
hegünſtigt ſind, dort draußen wohnen zu können. Im Uhlen-
horſter Fährhaus, einer Leganten Reſtauxation mit ſchönem
Garten, wo täglich im Sommer Konzert ſtattfindet, einen
ſchönen milden Abend zu verbringen, gehört zu den angenehmſten
Cenüſſen Unſer Bild auf S. 145 verfeßt uns dorthin.
Man ſitzt unter grünen Bäumen bei elektriſcher Beleuchtung,
lauſcht den Weiſen des vortrefflichen Orcheſters und läßt den
gleich großen Glühwürmern die Dampfer hin und her gleiten.
Droben funkeln im ſilbernen Glanze die Sterne, in der
Ferne flimmern die Lichtex, der Stadt, leiſe plätſchern die
Wellen am Ufer — man fühlt ſich, faſt wie in Venedig, von
einem eigenartigen Zaubex umwohen und zaͤhlt ſolche Stun-
den am Uhlenhorſter Fährhaus zu den ſchönſten Erinnerungen
ſeines Lebens.
—
Das Weſfſer.
Kriminalroman
von
Lennn Hirſch.
Fortſetzung.)
S Nachdruck verboten.)
13.
Ier Dezember hatte Schnee und Kälte,
echtes Weihnachtswetter, gebracht.
In dem öden, kahlen Zimmer, in
dem man Gertrud im Unkerſuchungs-
gefängniß untergebracht hatte, faß ſie
viele Stunden lang regungslos auf dem
\ Stuhl und ſtarrte auf einen Fleck, dann
aber lief ſie wieder ebenſo lange, befonders im Dunkel
der Nacht, ruhelos in dem engen Raume auf und ab.
Sie aß nur gerade ſo viel, um nicht dem Hungertode
zu verfallen, ſprach ſelten zu ihrer Wärterin und ver-
fiel ſo. ſehr, daß Letztere der Befürchtung Ausdruck gaͤb,
die Gefangene werde die Schwurgerichtsverhandlung
nicht überleben. Sie veranlaßte auch, daß der Ge-
fängnißarzt ſie beſuchte, der jedoch ein eigenkliches kör-
perliches Leiden nicht an ihr zu entdecken vermochte.
Was an Gertrud's Lebensfaden zehrte, dagegen gab
es eben in der Arzneiwiſſenſchaft keine Mittel!
Obwohl die Unterſuchung beendet, und eine Ver-
dunkelung des Thatbeſtandes nicht mehr zu befürchten
war, drang doch kein Laut zu ihr, der ihr als Beweis
hätte dienen können, daß es draußen in der Welt noch
Menſchen gebe, die ſich um ſie bekümmerten. Sie fam
ſich wie lebendig hegraben vor; ſo groß die ſeeliſche
Pein, welche die Verhöre vor dem Unterfuchungsrichter
ihr veruxſacht hatten, geweſen ſein mochte, ſie ſehnte ſich
jetzt doch zuweilen nach ihnen zurück, als nach einer
Unterbrechung dieſer ſchauderhaften Einſamkeit.
Die Einzige, die ihr an jenem furchtbaren Tage,
wo man ſie der Freiheit beraubt, noch Theilnahme
und Vertrauen bewleſen hatte, Elvira Wehrmaͤnn, war
auch verſtummt. Da Gertrud von ihrer Abreiſe nach
der Riviera nichts erfahren hatte, ſo nahm ſie an, auch
Jene ſei inzwiſchen anderen Sinnes gewoͤrden, und fand .
dies ganz natürlich. Wie ſollte geraͤde die Braut Dall-
mer!s, welche durch ſeinen Tod am empfindlichſten be-
troffen worden war, ſich zu ihrer Vertheidigerin auf-
werfen?
Da Gertrud in der Welt weder Verwandte noch
Freunde lebten, die ſich ihrer hätten annehmen und ihr
eine wirkſame Vertheidigung beſorgen können, ſo waͤr
ihr vom Gericht ein Vertheidiger beſtellt worden, mit
deſſen Wahl ſie ſich einverſtanden erklärt hatte.
Rechtsanwalt Händel, ein Mann ſchon in etwas
vorgerückten Jahren, hatte ein paarmal längere Unter-
redungen mit ihr gehabt und ſie dabei dringend er-
mahnt, ihm die volle Wahrheit zu ſagen, denn nur in
dieſem Falle könne er hoͤffen, ſie erfolgreich zu ver-
theidigen. Er hatte ſtark duxchblicken läͤſſen, daß er
den Betheuerungen ihrer Schuldloſigkeit wenig Glauben
ſcenke, und ihre Angaben hinſichtlich des ihr geſtohlenen
Meſſers wie des tiefen Schlafes, in den ſiẽ verfallen
ſein wollte, für wenig geſchickt halte. Als ſie doch dabei
verharrte, hatte er ſich kühl und verſtimmt entfernt und
ſie bis in's Innerſte erkältet zurückgelaſſen. Das Band,
welches ſonſt zuweilen Vertheidiger und Angeklagte um-
ſchlingt, hatte ſich nicht geknüpft, Gertrud hielt ſich über-
zeugt, daß ſie von dieſem Manne nichts zu hoffen habe,
daß ihr Schickſal beſiegelt ſei.
Ez war ein klarer und ſehr kalter Januartag, an
dem Gertrud vor den Geſchworenen erſcheinen ſollte.
Der Schwurgerichtsſaal, in welchem in zwei Oefen
hrennende mächtige Feuer eine bei der draußen herr-
ſchenden Kälte ſehr wohlthuende Wärme verbreiteten,
war etwa zur Hälfte von Zuſchauern gefüllt, als det
Serichtshof, beſtehend aus dem Vorſitzenden und zwei
Beiſitzern, eintrat und an dem mit duͤnklem Tuch'be-
4 auf einer Erhöhung befindlichen Tiſche Platz
nahm.
Der Vorſitzende befahl, die Angeklagte hereinzuführen,
und ſie erſchien in einem ſchlichten ſchwarzen Kleide mit
unbedecktem, glatt geſcheiteltem und im Nacken in einen
Knoten geſchlungenem Haar. Ihre Hände waren un-
gefeſſelt, welcher Unbotmäßigkeit hätle man ſich auch
* dieſen ſchmalen, durchſichtigen Händen verſehen
ollen?
; * doch ſollten ſie gerade ſo Entſetzliches vollbracht
aben!
Nuͤden Schrittes, mit todtenbleichem, tief eingefalle-
nem Geſicht und zu Boden geſenkten Augen, ging fie einher
und ſchlug die Augen auch nicht auf, al8 fie mit einem
ſummen Neigen gegen Rechtsanwalt Händel auf ihren
Sitz niederſank.
Die Auslooſung der Geſchworenen begann und ging
ſehr ſchnell von Staͤtten, deun weder der Staatsanwalt,
— Hug ır AlEe
die Erbitterung der Gegner Ueberall ſchlugen die
hellen Flaumen aus den Häuſern, man kämpfte nur
noch um Ruinen, aber mit einer wahren Wuth der
Verzweiflung, die ſich auch den Einwohnern mittheilte.
Allınälig wurde jedes Haus eine Feſtung, jede Mauer
ein Wall.
In der zehnten Stunde bemerkte der Kaiſer, daß
Theils des Lehrun'ſchen Korps ihre Poſitiguen, die
zum Theil noch ungefährdet und noch aar nicht an-
gegriffen waren aufgaben und zurücgingen. Was ſollte
* heißen? Gleichzeitig ſprengte General v. Wimpffen
eran. ;
„Sire,“ meldete er, „General Ducrot hat den Ober-
befehl zu Unrecht bekommen, der Oberbefehl gehört mir.“
Was ſoll dieſe Ruckwartsbewegung des Lebruͤnſchen
Korpz bedeuten, General?“ fragte der Kaifer zunächit.
„Ducrot will die Armee über Mezieres abziehen laffen.“
„Was?“ rief der Kaiſer erſchkocken.
„Ich habe die Befehle bercits widerrufen, wo ich
konnte, Sire, und bin hier, um Ihre Beſtätigung zuͤ
erbitten. Hier iſt meine Ernennung Seitens des Kriegs-
miniſteriums, die ſchon vor drei Tagen in Paris er-
folgt iſt, für den Faͤll, daß der Herr Marſchall ver-
hindert ſein ſollte, den Oberbefehl weiter zu fuͤhren.“
Der Kaiſer ſah nur flüchtig in das Papier! das
ihm General v. Wimpffen reichte Er hatte das Ge-
fühl, daß, wenn noch etwas an ſeiner Sache zu ver-
derben fei, das durch den dreimaligen Wechſel im Ober-
befehl ſicher geſchehen würde.
Sie wollen Gegenbefehle für das Lebrun'ſche Korps
geben?“ fragte er.
„Sie ſind ſchon gegeben, Sire. Das Korps muß
ſeine alten Stellungen wieder einnehmen, ſo weit das
möglich iſt Wir brechen nach Süden durch. Ich bitte
nur um Ihre Beſtätigung, Sire.“
Sie ſind beſtätigt, General.“
Vimpffen ſprengle davon. In der That kehrten
die Regimenter, die ſchon im Marſch auf Illy und
bare Zeit ging dadurch verloren! Wie ſehr gewannen
die Deutſchen indeſſen an Terrain! Immer enger und
enger wurde der Kreis, immer neue Batterien eröff-
neten ihr vernichtendes Feuer.
Trotz ſeiner Krankheit, ſeiner Ermattung und ner-
vöjen Abſpannung, ttotz der ſchlafloſen Nächte, der
Aufregungen aller Art, die er überſtaͤnden, hielt der
Kaiſer bis gegen ein Uhr in der Gefechtslinie aus.
Er ſah, wie Stellung um Stellung verloren ging, Fuß-
breit um Fußbreit wurde vextheidigt und erkämpft,
aber er hatte das Gefühl, als ob mit jedem Zoll Landes
für ihn ganze Provinzen verloren gingen. Bft zitterte
er minutenlang, weil ihm das Donnern der Geſchütze,
die in ſeiner unmittelbaren Nähe abgefeuert wurven,
Schmerzen vexurſachte. Um ihn herum fielen die feind-
lichen Geſchoſſe, Verwundete wurden aus ſeiner un-
mittelbaren Nähe fortgetragen — ihn traf nichts.
Endlich wandte er ſein Pferd und ritt langſam
nach Sedan zurück. Er wußte: e& mar vorbei!
(Fortjegung folgt.) :
S Unangenehme Enkdechung.
(Siehe das Bild auf Seite 137.)
(Eine Taſſe Milch iſt etwas Gutes, beſonders wenn ſie warm
und etwas Zucker darin iſt, ſo denkt das kleine Gretchen
und wandert mit ſeiner Frühſtücksmilch vor das Haus hinaus.
Dort rührt die Kleine die Milch ſorgfältig um, denn ſie weiß,
daß dann der Zucker zergeht, und die Milch ſüßer wird.
Eben macht Gretchen ſich bereit, das ſchöne Frühſtücksmahl ein-
zunehmen, da brummt etwas in der Milch, Gretchen wirft
verwundert einen Blick in die Taſſe, und nun ſieht die Kleine,
daß eine gewaltige Fliege in die Milch gefallen iſt, dort wie
unſinnig herumfährt und allerhand Schwimmübungen anſtellt.
Gretchen betrachtet das wild ſich geberdende Thier; es hat in
der Milch doch eigentlich gar nichls zu thun, denkt das Kind,
und ihm ſteigt eine Ahnung davon auf, daß die Milch durch
dieſen Beſuch nicht beſſer wird. Das Thier iſt zwar nur
klein, aber es benimmt ſich ſo böſe und heftig, daß Gretchen
ſich fürchtet, es mit dem Löffel herauszunehmen; die Milch
mit dem Thier darin trinken mag Gretchen auch nicht, das böſe
Thier könnte ihm in's Geſicht fpringen und es beißen. So
ſteht denn die Kleine da und belrachtet verdrießlich und
ſorgenvoll ihr geſtörtes Frühſtück. Dieſe Entdeckung iſt ſehr
unangenehm, und es wird der Kleinen, wie ihre ganze Haltung
auf unſerem Bilde S. 137 (nach einem Gemälde von J. Klein?
ſchmidh zeigt, nichts übrig bleiben, als durch ein großes
Geſchrei ſchließlich die Hilfe der Mutter herbeizurufen.
Wem taucht bei Betrachtung dieſes Bildchen nicht die Er-
innerung auf, daß er in ſeiner Jugend ähnliche unangenehme
Entdeckungen gemacht hat!
Die Krönung Karl's VII. von Krankfreich in
Neims.
Siehe das Bild auf Seite 141.)
* Anfang des 15. Jahrhunderts war für Frankreich im
höchſten Grade unheildrohend. Der geiſteskranke König
Karl VI. war unfähig, Ruhe und Ordnung aufrecht zu er-
halten, und die Herrfchſucht und Habgier der Großen hatte
freies Spiel. Die Herzöge von Orleans und von Burgund
kämpften miteinander um den Vorrang, die Königin ſuͤchte
2
143
ihren Einfluß auf den geiſteskranken Gemahl in eigennütziger
Weiſe auszubeuten, ganz Frankreich ſpaltete ſich in zwei feiuͤd—
Iiche Lager. Der Hekzog von Orleans wurde durch von dem
Burgunder gedungene Meuchelmörder getödtet, und 1410
begann der Bürgerkrieg, den die Engländer benutzten, um
ihre Beſitzungen auf dem Feſtlande auf Koſten Frankreichs
zu erweitern. Nach dem glänzenden Siege von Azincourt
nahmen ſie die ganze Normandie in Beſitz, aber auch dies
war nicht im Stande, der Parteiwuth und dem Bürgerkriege
in Frankreich ein Ende zu machen, und als im Oktober 1422
Karl VI. ſtarb, hinterließ er ſeinein Sohne, der als Karl VII.
die Regierung antrat, ein zerrüttetes, in ſich geſpaltenes
Reich Der Norden Frankreichs mit Baris hatte ſich der eng-
liſch⸗hurgundiſchen Partei angeſchloſſen, nur der Süden hielt
zum Könige, und das Waffenglück blieb den Engländern treu.
Schan belagerten dieſe Orleans, und es ſchien, als würden
ſie Karl VII. auch den Reſt ſeiner Beſitzungen entreißen, da
brachte die „Jungfrau von Orleans“ gleich einer Wunder-
thäterin dem vor dem Untergange ſtehenden Frankreich die
Nettung. Das ſeltſame Schäfermädchen aus dem Dorfe
Domremy, Johanna d'Are mit Namen, iſt durch die poetiſche
Verherrlichung, die ſie in Schiller's Drama gefunden hat,
Jedermann bekannt. Sie ſelbſt hielt ſich für von Gott berufen,
Frankreich von den Feinden zu befreien' und Ddem König die
Krone aufs Haupt zu ſetzen. Viſionen hatten ihr das verkündet.
Sie machte ſich in der Tracht eines Kriegsmannes auf den
Weg nach Chinon, wo damals Karl ſeinen Hof hielt, und
ſagte zu dieſem: „Ich bin von Goͤtt geſandt, Euch, den
wahren Erben Frankreichs, nach Reinis zur Krönung zu
führen! Ihre feſte Zuverſicht entflammte die Begeiſterung
des Volkes, und Karl VII. und ſeine Großen beſchloſſen, ſich
dieſe zu Nutze zu machen. Man ſchickte die Jungfrau zunächſt
mit kriegeriſchem Geleite nach Orleans, damit ſie ihre Macht
beweiſe. Sie ſollte die bedrängte Stadt entſetzen. Und das
gewagte Unternehmen, dem man wie einem Gottesgerichte
entgegenſah, gelang wirklich. Das franzöſiſche Volk erblifte
in der Jungfrau ein geweihtes, ein heiliges Wefen, und ent-
flammte an ihren Worten ſeinen Muth. Johanna ſchritt jetzt
von Sieg zu Sieg. Sie entriß den Engländern eine Stadt
nach der anderen, brachte ihnen auch im offenen Felde Nieder-
agen bei und machte dem Koͤnig die Bahn nach Reims frei.
Er zog dort am 16. Juli 1429 triumphirend ein, und am
zächſten Tage fand in feierlichſter Weiſe die Krönung ſtatt.
Johanna d Are ſtand während derſelben, mit ihrem weißen
Lilienbannex in der Hand, am Hochaltar, knicte nach der
Krönung als Erſte von allen Vaſallen vor dent Könige nie-
der und ſprach: „Edler König, nun iſt der Wille Gottes er-
füllt. Erweiſet nun auch, daß Ihr der waͤhre König ſeid,
dem Frankreich gehört!“ Dieſen Vorgang gibt unſel Bild
auf S. 141 wieder. Johanna ſtand auf dem Höhepunkte
ihrer Nacht und ihres Ruhmes. Von da an ging es uͤnauf-
haltſam ahwärts. Der ſchwache, wankelmüthige König ſchützte
ſie undankhaxer Weiſe nicht gegen den Neid und Verrath
ſeiner Günſtlinge, das Volk ernuͤchterte ſich nach und nach,
und bei einem kühnen Ausfall aus Lagny wurde fie von den
Burgundern gefangen geyommen und an die Engländer aus-
geliefert Zu Rouen nach langen Quälereien verurtheilt, wurde
ſie am 30. Mai 1431 als Here auf offenem Markte lebendig
herbrannt. So ſtarb das hoͤchherzige Mädchen, ohne daß
König Karl eine Hand gerührt hätte, ſie zu retten.
Abend am Alhlenhorſter Führhaus.
Siehe das Bild auf Seite 145.)
Di; für den Binnenländer intereſſanteſten Theile Hamburgs
ſind die Hafenviertel; die ſchönſten dagegen, den Stoͤlz
Hamburgs bildenden, liegen um die Alfter herum. Dieſer
kleine Fluß bildet innerhalb der Stadt zwei Becken: ein
keineres, die Binnenalſter, und ein größeres, die Außenalſter.
Auf den breiten Straßen, welche die Binnenaͤlſter umgeben —
dem alten und neuen Jungfernſtieg und dem Alſterdamm —
herrſcht ſtets reger, lebhafter Verkehr. Dort bewegt ſich die
elegante Welt.
von beiden Seiten in das Waſſerbecken vor und 'ſchließen es
in Verbindung mit dem monumentalen Bau der Lombards-
brücke von der Außenalſter ab. Kleine, ſchnelle Dampfer
ſchießen auf den Waſſerflächen hin und her und vermitteln
den Verkehr vom alten Jungfernſtieg nach allen Punkten der
Außenalſter. Dieſe iſt jetzt auch rings von Häuſern umgeben.
Die Vorſtadt St. Georg, die Villen von Uhlenhorſt und
Harveſtehude mit ihren Anlagen und Gärten ſchließen den
weiten blauen Waſſerſpiegel ein, den zahlreiche ſchlanke Segel-
boote, vom Winde getrieben, durchfurchen, und auf dem weiße
Schwäne majeſtätiſch dahinziehen. In Uhlenhorſt wohnt die
Hamburger Ariſtokratie; dort ſteht inmitten wohlgepflegter
Gärten Landhaus an Landhaus in allen nur möglichen Styl-
Eleganz. Faſt in jedem Garten plätſchern zwiſchen den grünen
Sträuchern und bunten Blumen Springbrunnen, leuchten
helle, nach engliſcher Art gehaltene Raſenflächen. Hier lebt
es ſich gut, wo Kunſt, Natur und Reichthum ſich vereinigen.
Uhlenhorſt bildet denn auch ein beliebtes Ausflugsziel für
diejenigen Bewohner der Hanſeſtadt, die vom Glück nicht ſo
hegünſtigt ſind, dort draußen wohnen zu können. Im Uhlen-
horſter Fährhaus, einer Leganten Reſtauxation mit ſchönem
Garten, wo täglich im Sommer Konzert ſtattfindet, einen
ſchönen milden Abend zu verbringen, gehört zu den angenehmſten
Cenüſſen Unſer Bild auf S. 145 verfeßt uns dorthin.
Man ſitzt unter grünen Bäumen bei elektriſcher Beleuchtung,
lauſcht den Weiſen des vortrefflichen Orcheſters und läßt den
gleich großen Glühwürmern die Dampfer hin und her gleiten.
Droben funkeln im ſilbernen Glanze die Sterne, in der
Ferne flimmern die Lichtex, der Stadt, leiſe plätſchern die
Wellen am Ufer — man fühlt ſich, faſt wie in Venedig, von
einem eigenartigen Zaubex umwohen und zaͤhlt ſolche Stun-
den am Uhlenhorſter Fährhaus zu den ſchönſten Erinnerungen
ſeines Lebens.
—
Das Weſfſer.
Kriminalroman
von
Lennn Hirſch.
Fortſetzung.)
S Nachdruck verboten.)
13.
Ier Dezember hatte Schnee und Kälte,
echtes Weihnachtswetter, gebracht.
In dem öden, kahlen Zimmer, in
dem man Gertrud im Unkerſuchungs-
gefängniß untergebracht hatte, faß ſie
viele Stunden lang regungslos auf dem
\ Stuhl und ſtarrte auf einen Fleck, dann
aber lief ſie wieder ebenſo lange, befonders im Dunkel
der Nacht, ruhelos in dem engen Raume auf und ab.
Sie aß nur gerade ſo viel, um nicht dem Hungertode
zu verfallen, ſprach ſelten zu ihrer Wärterin und ver-
fiel ſo. ſehr, daß Letztere der Befürchtung Ausdruck gaͤb,
die Gefangene werde die Schwurgerichtsverhandlung
nicht überleben. Sie veranlaßte auch, daß der Ge-
fängnißarzt ſie beſuchte, der jedoch ein eigenkliches kör-
perliches Leiden nicht an ihr zu entdecken vermochte.
Was an Gertrud's Lebensfaden zehrte, dagegen gab
es eben in der Arzneiwiſſenſchaft keine Mittel!
Obwohl die Unterſuchung beendet, und eine Ver-
dunkelung des Thatbeſtandes nicht mehr zu befürchten
war, drang doch kein Laut zu ihr, der ihr als Beweis
hätte dienen können, daß es draußen in der Welt noch
Menſchen gebe, die ſich um ſie bekümmerten. Sie fam
ſich wie lebendig hegraben vor; ſo groß die ſeeliſche
Pein, welche die Verhöre vor dem Unterfuchungsrichter
ihr veruxſacht hatten, geweſen ſein mochte, ſie ſehnte ſich
jetzt doch zuweilen nach ihnen zurück, als nach einer
Unterbrechung dieſer ſchauderhaften Einſamkeit.
Die Einzige, die ihr an jenem furchtbaren Tage,
wo man ſie der Freiheit beraubt, noch Theilnahme
und Vertrauen bewleſen hatte, Elvira Wehrmaͤnn, war
auch verſtummt. Da Gertrud von ihrer Abreiſe nach
der Riviera nichts erfahren hatte, ſo nahm ſie an, auch
Jene ſei inzwiſchen anderen Sinnes gewoͤrden, und fand .
dies ganz natürlich. Wie ſollte geraͤde die Braut Dall-
mer!s, welche durch ſeinen Tod am empfindlichſten be-
troffen worden war, ſich zu ihrer Vertheidigerin auf-
werfen?
Da Gertrud in der Welt weder Verwandte noch
Freunde lebten, die ſich ihrer hätten annehmen und ihr
eine wirkſame Vertheidigung beſorgen können, ſo waͤr
ihr vom Gericht ein Vertheidiger beſtellt worden, mit
deſſen Wahl ſie ſich einverſtanden erklärt hatte.
Rechtsanwalt Händel, ein Mann ſchon in etwas
vorgerückten Jahren, hatte ein paarmal längere Unter-
redungen mit ihr gehabt und ſie dabei dringend er-
mahnt, ihm die volle Wahrheit zu ſagen, denn nur in
dieſem Falle könne er hoͤffen, ſie erfolgreich zu ver-
theidigen. Er hatte ſtark duxchblicken läͤſſen, daß er
den Betheuerungen ihrer Schuldloſigkeit wenig Glauben
ſcenke, und ihre Angaben hinſichtlich des ihr geſtohlenen
Meſſers wie des tiefen Schlafes, in den ſiẽ verfallen
ſein wollte, für wenig geſchickt halte. Als ſie doch dabei
verharrte, hatte er ſich kühl und verſtimmt entfernt und
ſie bis in's Innerſte erkältet zurückgelaſſen. Das Band,
welches ſonſt zuweilen Vertheidiger und Angeklagte um-
ſchlingt, hatte ſich nicht geknüpft, Gertrud hielt ſich über-
zeugt, daß ſie von dieſem Manne nichts zu hoffen habe,
daß ihr Schickſal beſiegelt ſei.
Ez war ein klarer und ſehr kalter Januartag, an
dem Gertrud vor den Geſchworenen erſcheinen ſollte.
Der Schwurgerichtsſaal, in welchem in zwei Oefen
hrennende mächtige Feuer eine bei der draußen herr-
ſchenden Kälte ſehr wohlthuende Wärme verbreiteten,
war etwa zur Hälfte von Zuſchauern gefüllt, als det
Serichtshof, beſtehend aus dem Vorſitzenden und zwei
Beiſitzern, eintrat und an dem mit duͤnklem Tuch'be-
4 auf einer Erhöhung befindlichen Tiſche Platz
nahm.
Der Vorſitzende befahl, die Angeklagte hereinzuführen,
und ſie erſchien in einem ſchlichten ſchwarzen Kleide mit
unbedecktem, glatt geſcheiteltem und im Nacken in einen
Knoten geſchlungenem Haar. Ihre Hände waren un-
gefeſſelt, welcher Unbotmäßigkeit hätle man ſich auch
* dieſen ſchmalen, durchſichtigen Händen verſehen
ollen?
; * doch ſollten ſie gerade ſo Entſetzliches vollbracht
aben!
Nuͤden Schrittes, mit todtenbleichem, tief eingefalle-
nem Geſicht und zu Boden geſenkten Augen, ging fie einher
und ſchlug die Augen auch nicht auf, al8 fie mit einem
ſummen Neigen gegen Rechtsanwalt Händel auf ihren
Sitz niederſank.
Die Auslooſung der Geſchworenen begann und ging
ſehr ſchnell von Staͤtten, deun weder der Staatsanwalt,