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heft 6.

—— BudH Alle

147

Gertrud durch ſie beeinträchtigt worden ſei.
ſei ſie durch das traurige Ereigniß ſo tief
worden, daß ſie ſich noch ſchwer leidend in
befinde.

Der Präfident erklärte anſchließend an dieſe Mit-
theilung, daß wegen des leidenden Zuſtandes von Fräu-
lein Clvira Wehrmann auf den durch ärztliches Zeligniß
werſtübten Antrag ihrer Mutter auf deren perfönliches
Erfcheinen verzichtet worden fei, und befahl, das Yro-
tofoll über ihre kommiſſariſche Vernehnmung zu verlefen.

Nun aber exhob ſich der Vertheidiger und erklärte,
auf die perſönliche Vernehmung Ddiejer Zeugin nicht
verzichten zu können Es entftand eine lebhafte Be-
wegung, denn eine Annahme dieſes Antrags hätte eine
Vextagung der Verhandlung bedeutet. Es kam jedoch
nicht dazu, denn der Gerichtshof, der ſich zur Berathung
zurückzog, verwarf den Antrag, und die Verhandlung
wurde fortgeſetzt.

Die Verleſung von Elvira Wehrmann's Ausſagen
rechtfertigte dieſes Urtheil. Sie war allerdings fehr
warm für Gertrud eingetreten, hatte ſie als portrefflichen,
uneigennützigen Charaktex geſchildert und bekundet, daß
ſie ihrem Verlabten bei ihr das Wort geredet, ſie hatte
aber doch der Wahrheit gemäß hinzufügen müſfen, daß
Gextrud ſich in der letzten Zeit von ihr zurückgezogen
habe Zu der Sache ſelbſt haͤtte ſie nicht das Geringſte
zu bekunden vermocht.

Ebenſo wenig konnten dies der Arzt und der Bahn-
hofsvorſteher von Seegefeld, welche nur das muthige
und aufopfernde Betragen der Angeklagten bei dem
Eiſenbahnunfall zu ſchildern vermochten. Sie erzielten
damit zwar eine ſenſationelle Wirkung im Publikum,
vielleicht auch eine vorübergehende Theilnahme, jedoch
keine Entkräftung der Anklage. ;

Als letzter Zeuge in der Reihe trat endlich noch
Moritz Volkhauſen auf, e& war aber ſehr die Frage, ob
er der Angeklagten, der er nutzen wollte, nicht mehr
ſchadete durch die übertriebene Art, mit welcher er ſich
zu ihrem Lobredner machte. Niemand konnte im Zweifel
ſein, daß man einen Verliebten vor ſich hatte, welcher
den Gegenſtand ſeiner Anbetung von einem Verdachte
rein zu waſchen verſuchte. —

Das Zeugenverhör war jetzt beendet, und es entſtand
eine kurze Pauſe aber keiner der Anweſenden verließ
ſeinen Platz. Mit Spannung erwartete man die An-
kagerede des Staatsanwalts und die Entgegnung des
Vertheidigers, man fragte ſich beſonders, was wohl der
Letztere zur Entlaſtung ſeiner Klientin vorzubringen ver-
möge.

* allen Anweſenden glaubte ſchwerlich Jemand
an ihre Schuldloſigkeit, es möchte denn Moritz Volk-
hauſen geweſen ſein, der ſo erregt mit ſeiner Tante und
den anderen auf der Zeugenbank befindlichen Perſonen
Prach, daß er von den Hausbeamten wiederholt zur

Ruhe verwieſen werden mußte. ;

Selbſt die Geſichter der aus Seegefeld herbeigekom-
menen Herren waren lang und ernſt geworden.

Unter lautloſem Schweigen erhob ſich Staatsanwalt
Loller zu ſeiner anklagenden Rede, die er mit großem
Fleiß und Scharfſinn zuſammengeſtellt hatte. Er hatte
übrigens Angeſichts des bedeutenden Belaſtungsmaterials
ein leichtes Spiel. Die Perſönlichkeit der Angeklagten

Uebrigens
erſchüttert
Bordighera


wenig liebenswürdig und fuhr fort: „Sie mag bei der
Rettunz ihres Reiſegefährten einem Inſtinkt gefolgt ſein;
nachdem ſie dieſe vollendet, iſt ihr aber die Ueberlegung
gekommen. Sie hat die That mit großem Geſchick aus-
zunutzen gewußt, um ſich eine Heimath, ein bequemes
Leben die Anwartſchaft auf ein großes Vermögen zu
verſchaffen. Zwei Jahre hat ſie dieſe Vortheile genoſſen,
da tritt ein Ereigniß ein, das ſie derſelben zu berauben
droht: ihr Adoplivvater hat eine Dame kennen gelernt,
die er liebt, die er zu ſeiner Gattin zu machen wünſcht.
Unter dem Anſchein, dieſen Plan zu begünſtigen, ſucht
ihn die Angeklagte in Wahrheit zu hintertreiben, und
als ihr dies nicht gelingt, als ſie die Ausſicht ſchwinden
ſieht, die Univerſalerbin ihres Adoptivvaters zu werden,
bricht der Unfrieden aus.
Auftritte, ſie verſteigt ſich ſogar zu Drohungen. Der
Tag, an welchem der Ehekontrakt zwiſchen den Verlobten
unterzeichnet und gleichzeitig das die Angeklagte be-
günſtigende Teſtament aufgehoben werden ſoll, iſt heran-
gerückt, ſie befindet ſich in der furchtbarſten Aufregung.
Finſtere Gedanken ſteigen in ihr auf. Sie kennt die
Gewohnheiten der Hausbewohner, weiß, daß am Sonn-
tag keiner von ihnen daheim bleibt, und daß Herr
Dallmer früher als alle Anderen heimkehrt. Noch ehe
dies geſchieht, ſchleicht ſie ſich in ſein Zimmer und hält
ſich dort verborgen, ſtürzt ſich auf den ahnungslos Ein-
tretenden und ſtößt ihn nieder mit jenem Meſſer, für
das ſie ſeit jeher eine ſo räthſelhafte, ſo völlig unweib-
liche Vorliebe gehabt hat.

Nach vollendeter That hat ſie aber das Entſetzen
gepackt, denn ſie iſt keine erfahrene Verbrecherin und
nicht geſchickt genug, die Spuren des Verbrechens zu
verwiſchen. Sie läßt Alles genau in dem Zuſtande,
wie es war, und eilt in ihr Schlafzimmex, um ſich dort
die Hände zu reinigen und das blutige Tuch, wie das


Meſſer hinwegzuſpülen. Sie iſt dabei zu haſtig, denn


zuſehen, und eilt fort, vom böſen Gewiſſen gejagt, ohne
abzuwarten bis das Bundel hinweggefpült ift.“

Zum Schluſſe klagte er Gertruͤd Schondorf, jetzt
Dallmer, des vorſätzlichen Mordes, verübt an ihrem
Adoptivvater, an und forderte die Geſchworenen auf,
demgemäß ihren Spruch abzugeben und die Uebelthäterin
der vollen Strenge des Geſetzes zu überliefern.

Einen für die Angeklagte wenig günſtigen Gegenſatz
zu dieſer mit feuriger Beredtſamkeit vorgettagenen Rede
bildete die ruhige, etwas nüchterne Vertheidigung des
Rechtsanwalts Händel. Er bemühte fich zwar, aus
dem Weſen und der Vergangenheit ſeiner Klientin dar-
zuthun, daß ſie des ihr zur Laͤſt gelegten Verbrechens


ſichtlich des feſten Schlafes und der Entwendung des
Meſſexs als nicht unglaubwürdig hinzuſtellen, und machte
den Einwurf, daß ſie ſich für Veruͤbung eines vor-
ſätzlichen Mordes ſchwerlich eines Meſſers, noch dazu
dieſes, ihres allbekannten Eigenthums, bedient haben und
es, wäre dies der Fall gewẽſen, geſchickter zu beſeitigen
gewußt haben würde; er nahm jogar den kühnen An-
lauf, aus dieſem letzteren Umſtand die Vermuthung
herzuleiten, der wahre Mörder habe, indem er das


auf dieſe lenken wollen, konnte dieſen Weg aber nicht
weiter verfolgen, denn es war ihm nicht möglich, auf
irgend eine Perſönlichkeit, welche man der That zu
zeihen vermöchte, hinzuweiſen. Auch konnte er nicht
in Abrede ſtellen, daß die Einzige, welcher der Tod
Dallmer's in dieſem Augenblicke fehr gelegen gekommen,
die Angeklagte ſei.

Am überzeugendſten war er noch, als er die Dar-
ſtellung des Staatsanwaltes, der Mord ſei ein vor-
ſätzlicher geweſen, beſtritt und widerlegte. Sei Dallmer
wirklich durch die Hand der Angeklagten getödtet worden,
ſo könnte dies nur infolge eines Sireites geweſen ſein,
wie ſolche in der letzten Zeit leider ſo häufig zwiſchen-
Beiden ſtattgefunden hätten. Es müßten ihr aͤus dieſem
Grunde jedenfalls mildernde Umftände zugebilligt


zuſpvechen.

Leiſe und triumphirend lächelnd verzichtete der Staats-
anwalt auf eine Widerlegung.

Der Vorſitzende fragte die Angeklagte, ob ſie noch
etwas zu ſagen habe.

„Nichts, als daß ich ſchuldlos bin!“ antwortete ſie
und wurde darauf hinaͤusgeführt.

Nach erfolgter Rechtsbelehrung Seitens des Vor-
ſitzenden zogen fich auch die Geſchwoͤrenen in ihr Zimmer
zur Berathung zurück, und allgemein war man der
Anſicht, daß dieſe nicht allzu lange währen könne. Für
geübtere Beobachter verriethen Miene und Haltung der
Herren bereits, wie ihr Spruch ausfallen werde.

Dennoch dauerte die Verhandlung eine geraume Zeit.


gerichtsſgal wurden während der Pauſe auf kurze Zeit
die Fenſter geöffnet und darauf die Gasflammen ent-
zündet. Auch das Bexathungszimmer der Geſchworenen
ward erhellt, und die Flammen beleuchteten erhitzte
und ſehr erſtaunte Geſichter.

Da ſämmtliche Geſchworene in Charlottenburg und
den dazu gehörigen Ortſchaften wohnten, ſo waren die
Veiſten einander perſönlich bekannt, und es hefand ſich
Niemand untex ihnen, der nicht mit dem Fabrikbeſitzer
Mühling in Martinikenfelde in Berührung gekommen
war oder wenigſtens von ihm gehört hatte! Allgemein
galt er als ſehr tüchtig in ſeinem Fache und als ein


Um ſo mehr war ſein eigenthümliches Benehmen
während der Verhandlung aufgefallen, und nun über-
raſchte er ſeine Mitgeſchiborenen durch die Erklärung,
er halte die Angeklagte für völlig ſchuldlos, ſowie durch
die lebhafte, ja förnilich leidenſchaftliche Vertheidigung
dieſer Anſicht, mit welcher er ganz allein ſtand.

Drang er mit ſeiner Meinung bei ſeinen Gefährten
auch nicht durch, daß er ſie für „Nichtſchuldig“ beſtimmt
hätte, ſo blieben ſeine Ausführungen doch nicht ohne


Bejahung der Schuldfrage unter Annahme mildernder
Umſtände, da die That wahrſcheinlich ohne Ueber-
legung im Affekt verübt worden ſei.

Die Glocke erklang, der Gerichtshof erſchien wieder,
der Saal füllte ſich mit Zuſchauern, deren Zahl be-
deutend gewachſen war; paarweiſe traten die Geſchwore-
nen, den Obmann an ihrer Spitze, ein, und unter feier-
lichem Schweigen verkündete dieſer den gefällten Spruch.

Die Angeklagte ſank mit einem lauten Aufſchrei auf
die Bank zurück und vergrub ihr Geſicht in den Händen.
Die ganze Tragweite des vernommenen Spruches ent-
hüllte ſich ihr freilich erſt durch das vom Gerichtshof
nach kurzer Berathung gefällte Urtheil. Es lautete auf
ſechs Jahre Zuchthaus.

Wer die Unglückliche ſo daſitzen ſah, die blutleeren
Hände krampfhaft verſchlungen, die großen Augen glanz-
los aus dem todtenbleichen Geſichte ſtarrend, die Lippen
feſt aufeinander gepreßt, der mußte zweifeln, ob in

dieſem Körper wirklich noch ein denkender Geiſt, eine
empfindende Seele wohne.

Dennoch erregte fie wenig Mitleid, die allgemeine
Meinung war und blieb feindſelig gegen ſie, und mehr
als Einer nickte beifällig, als Beate der Frau Konſuͤl
Wehrmann halblaut aber ziemlich vernehmbaͤr zutuſchelte:

„Sehen Sie ſie nur an; ſitzt ſie nicht da wie die leib-
haftige Vexſtocktheit und Unbuͤßfertigkeit? Mit ſolcher
Perſon hab' ich zwei Jahre lang unter demſelben Dache
hauſen, an demſelben Tiſche eſſen müſſen! Ach, wenn
mein lieher, armer Vetter auf mich gehört haͤtte, ſo
lebte er heute noch! Aber —“

Lautes Schluchzen verſchlang den Schluß ihrer Rede,
der zuletzt ſelbſt die, an welche ſie gerichtet war, nicht
mehr zugehört hatte, denn die Aufmerkſamkeit ward
durch einen ſeltſamen Auftritt in Anſpruch genommen.

Die Gerichtsdiener waren an die Verurtheilte heran-
getreten, um ſie aus dem Saale zu führen. Ehe dies
jedoch geſchehen konnte, eilte aus den Bänken der Ge-
ſchworenen der Fabrikbeſitzer Mühling hervor und drängte
ſich zu ihr hin! Er war faſt ebenſo bleich wie Gertruͤd,
und in einer furchtbaren Aufregung, und mit einer weit-
hin ſchallenden Stimme rief er ihr zu:

„Verzweifeln Sie nicht; noch iſt nicht Alles ver-
eren, das Urtheil iſt noch nicht rechtskräftig geworden!
Wenn Sie auch alle Welt verurtheilt und verläßt, ich
glaube an Ihre Unſchuld und ſchwöre Ihnen, daß ich
nicht ruhen und raſten will, bis ich fie an den Tag
gebracht habe.“

Die Verurtheilte hatte zuerſt beſtürzt aufgeſchaut,
als zweifle ſie, daß die Anrede ihr gelten könne, dann
ſchienen ihre Augen ſich immer weiter zu öffnen, alles
Leben, das noch in ihr war, ſich in den Blick zu kon-
zentriren, den ſie auf den vor ihr ſtehenden Mann
richtete. *

Sie ſtreckte die Arme aus, als wolle ſie eine ge-
ſpenſtiſche Erſcheinung von ſich abwehren, ein Ausdrück
der Angſt und des Entſetzens glitt über ihre ohnehin
entſtellten Züge, bewußtlos brach ſie zuſammen.

24 mußte ſie aus dem Saale getragen
werden.

14.

Hatte das Auftreten des Fabrikbeſitzers Mühling
im Berathungszimmer der Geſchworenen bereits die
Verwunderung ſeiner Gefährten erregt, ſo verurſachte es
jetzt ein geradezu peinliches Aufſehen. Alle, welche bei
der Urtheilsſprechung betheiligt waren, fühlten ſich tief
verletzt; man erkannte den ſonſt ſo verſtändigen, ruhigen
Mann, der ſich jetzt wie ein Phantaſt benommen halte,
gar nicht wieder und war ſehr geneigt, ſich den Voͤrfall
durch eine momentane Geiftesſtörung zu erkflären. ,

Dem widerſprach freilich Mühling'z Ausſehen, der
nach dem ſtattgehabten Ausbruch ſeine Ruhe wieder ge-
wonnen zu haben ſchien und ſich bemühte, den Ausgang
zu erreichen, ohne einem der ſich ihm fragend, verwundert,
heklagend und beſchwörend in den Weg ſtellenden Be-
kannten Rede zu ſtehen.

Eine Hand, die ſich feſt auf ſeine Schulter legte,
zwang ihn doch, ſtehen zu bleiben und ſich umzuſehen!

„Ernſt, Du hier!“ murmelte er, und ſeine Züge er-


„Kurt, mein lieber Sohn, was machſt Du denn nur
für Streiche?“ verſetzte Doktor Brandhorſt. „Hätte mir
ja niemals träumen laſſen, daß Du zu dergleichen fähig
wäreſt!“

„Es iſt ein günſtiger Zufall, daß ich Dich hier
treffe, ich wollte zu Dir!“ fuhr, ohne die Worte des
Rechtsanwalts zu beachten, der Fabrikbeſitzer fort.

„Es ſcheint mir beſſer, ich begleite Dich nach Hauſe,“
ſagte Brandhorſt, der den Arm des Schwaͤgers ge-
nammen hatte und ihn dem nächſten Ausgang zuführte.
Deine Haushälterin wird hoffentlich für ein ordentliches
Abendeſſen nach den Anſtrengungen dieſes Tages geſorgt
haben, und ich lade mich bei Dir zu Gaſt.“

Mühling blickte den Freund an, als rede er eine
ihm ganz unverſtändliche Sprache. Wie konnte Jemand
nach den Erlebniſſen des heutigen Tages an die Befriedi-
gung körperlicher Bedürfniſſe denken? Dennoch folgte
er ihm willig oder beſſer willenlos, denn nach der fieber-
haften Aufregung, deren Beute er während vieler Stunden
geweſen, trat nun doch eine Abſpannung ein, ſo daß
er ſchwer in die Kiſſen des am Vortal des Gerichts-
gebäudes harrenden Wagens ſank.

Brandhorſt, der ſeinen Zuſtand ganz richtig be-
urtheilte, wenn er auch über die Veranlaſſung dazu im
Unklaren war, ſuchte ihn am Sprechen zu verhindern,
indem er ſelbſt ſprach und erzählte, wie es gekommen
ſei, daß er der Gerichtsverhandlung beigewohnt hatte.

„Ich habe mich für den heutigen Tag frei gemächt,“
erklärte ex, „weil mich die Verhandlung über den Mord
an dem Verlobten Elvira's intereſſiren mußte, vor-
nehmlich aber, weil ich hoffte, ſie ſelbſt dabei zu ſehen.
Ich glaubte, ſie würdé als Zeugin erſcheinen.“

„Die Mutter hat ſie fern gehalten, damit ſie nicht
zu Gunſten der Unglücklichen ausſage,“ bemerkte Müh-
 
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