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heſt 7.

das Buch für Alle.

163

die arme Stadt einen Parlamentär abſenden wollte, um
zur Kapitulatisn aufzufordern, und dieſer ſchon nach
Sedan unterwegs war — es war etwa ſechs Uhr —,
erſchien auf den Wällen der Feſtung die weiße Flagge,
die der Kaiſer aufzupflanzen angeordnet haͤtte, um
weiteres Blutvergießen zu verhindern. Ein fernerer
Widerſtand wäre Wahnfinn geweſen. Sedan brannte
ſchon an vielen Stellen, Bazeilles war ein Trümmer-
haͤufen, die Dörfer La Moncelle, Daigny, Givonne,
St. Menges, Illy waren von den deutſchen Truppen
erſtürmt, gegen aͤchthundert Geſchütze von den Höhen
rings um diè Feſtung herunter auf die unſelige Stadt
gerichtet, jeden Augenblick bereit, ihre verderbliche Arbeit
wieder aufzunehmen.

Aber wenn auch der Kampf von da ab verſtummte
— das Unglück war geſchehen, und die Nacht, die nun
anbrach, gehörte zu den ſchrecklichſten, die die neuere
Geſchichte kennt, nicht nur in Sedan ſelbſt, wo Hunderte
und Tauſende armer Verwundeter, an Allem Mangel
leidend, unerhörte Qualen ausſtanden und zum Theil
ſogar auf Straßen und Plätzen unter freiem Himmel
eine nebelige, regneriſche und kalte Nacht verbringen
mußten, ſondern aͤuch außerhalb, wo zur Unterbringung
von ſo vielen Hunderttauſenden fremder Menſchen nichts
geſchehen konnte. Nennenswerthe Zufuhren hatten die
Truppen wegen der Gewaltmärſche, die ſie in den letzten
Tagen zurückgelegt, nicht mehr erreichen können. Es
war Mangel an Allem. Dazu ein jämmerlich kaltes
und naſſes Wetter. Viele der deutſchen Soldaten hatten
ſeit Wochen die Kleider nicht vom Leibe gebracht, kein
Bett geſehen. Und wenn ſie nun da und dort einmal
einen zugemauerten Weinkeller gefunden hatten, ſo
war es den Vorräthen natürlich ſchlecht gegangen, den
Soldaten aber zum Theil auch.
Unregelmäßigkeit rächte ſich dann wieder an ihnen.

*

Unter ſolchen erſchwerenden Umſtänden und bei
einem ſolchen naßkalten Sudelwetter auf Feldwache und
Vorpoſten ziehen, iſt gewiß kein Genuß, und Heinrich,
der von diejem Schickſal am Abend des erſten September
betroffen wurde, nachdem er ſeit Früh halb vier Uhr auf
den Beinen geweſen war, faſt acht Stunden davon im
Gefecht, den ganzen Tag nichts als ein Stück Brod und
etwas Speck ohne Salz gegeſſen hatte, war davon
ſelbſtverſtändlich nicht ſehr erbaut. Aber bei der preußi-
ſchen Garde ſpricht ſo etwas nicht mit. So 20g er,
ohne ein Wort zu verlieren, von Givonne, wo ſein
Regiment lag, mit der Feldwache vorwäxts und mußte,
nachdem ſich dieſe in einem Strohſchober, ſo gut es
ging, einquartiert hatte, noch etwa zweihundert Schritt
weiler vorwärts, an den Rand eines Gehölzes, von
wo aus er einen ſchluchtartigen Hohlweg vor ſich ſah.
Hier galt es nun ſtillſtehen und aufpaſſen. Er hatte
die ſtrengſte Weiſung, bei jedem verdächtigen Geräuſch
ſofort zu ſchießen oder, wenn das nicht räthlich er-
ſchien, ein Strohfanal, das in ſeiner Nähe aufgerichtet
war, anzuzünden, um ſo der zurückliegenden Feldwache
ein verabredetes Signal zu geben. Man hatte ſich nicht
nur vor herumſtreichendem Geſindel, vor Marodeuren
und Verſprengten zu ſchützen, ſondern man war auch noch
gar nicht ſicher, ob nicht größere Truppenkörper das
Dunkel der Nacht zu einem Durchbruch benützen würden.

So ſtand alſo Heinrich in ſtockdunkler Nacht, hungrig,
übermüdet von der Anſtrengung des Tages, von Zeit
zu Zeit von einem fröſtelnden Zittern durchſchauert,
auf ſeinem Poſten. Er konnte kaum zehn Schritt weit
vor ſich hinſehen, gerade daß er eben den erwähnten
Hohliweg jah, ſo ſchibarz war die Finſterniß. Er mußte
fich mehr auf ſein Ohr als ſein Auge verlaſſen. Sein
Gewehr hatte er ſchuͤßbereit in der Hand. Er lehnte


und ſtarrte ſeinem Beſehl gemäß immer auf den Hohl-
weg. Häufig ſchreckte er zuſammen, theils des Froſtes
weßen, theils weil er wirklich glaubte, etwas zu ſehen
oder zu hören. Da! ſchlich ſich dort nicht Jemand
heran, die Flinte auf ihn gerichtet? Nein. Es war
der Wind, der die regenſchweren Zweige bewegte. Dort,
dort! Was knackte dort? Wurde da ein Revolver ge-
ſpannt? Nein, es war ein Regentropfen, der ſchwer
und klatſchend auf ein dürres Ulmenblatt fiel. So
verging die Zeit — ihm dünkte es eine Ewigkeit!
Hatte man ihn auf ſeinem Poſten vergeſſen? Seine
Stunde mußte doch ſchon längſt vorüber ſein. Warum
wurde er nicht abgelöst?

Plötzlich entfiel ihm ſein Gewehr.

Zum Tode erſchröcken fuhr er auf! Ein Soldat auf
dem Wachtpoſten ſchlafen, träumen? Wo ſich das ganze
Regiment auf ſeine Augen und Ohren verläßt?

„Halt! Wer da!“ ſchrie er wild in die Nacht hinein,
als ob das ganze deutſche Heer in Gefahr geweſen ſei.

„Halt das Maul, Heinrich, und mache nicht ſolchen
Radau. Es iſt ja die Ablöſung,“ antwortete die
Stimme ſeines Unteroffiziers aus dem Dunkel. „War
was los?“

„Nichts.“

Gut. Alſo Augen offen halten, Maasmann. Ver-
ſtanden? Dort den Hohlweg beobachten. Er führt
—__ Ddirelt in's Franzoſenneſt hinein. Komm, Heinrich.“


Heinrich tappte ſich mit dem Unteroffizier wieder
nach der Feldwache zurück, holte ſich aus dem Stroh-
4 eine Schütte Stroh hervor und legte ſich auf's

hr. —

Es war Morgens gegen vier Uhr, als Max Hendrich,
aus dem Feldlazareth kommend, todmüde irgend einen
Ort ſuchte, wo er etwas ſchlafen konnte. Das „ſchönſte
Regiment“ lag in dieſer Nacht in La Moncelle, dem
Ort, um den es ſo heiß gekämpft von früheſter Morgen-
ſtunde bis gegen Mittag, aber die wenigen Häuſer, die
noch Schutz gegen das Wetter gewährlen, waren ſo
überfüllt mit Soldaten, daß man kaum drin ſtehen
konnte, um wie viel weniger liegen. Auf dieſer Suche
nach einem halbwegs trockenen Lager kam Mar in ein
etwas von der Straße zurückſtehendes Gebäude, einen
Schuppen oder Aehnliches, deſſen glatter, hartgewalzter
Boden vielleicht ſonſt zur Scheunentenne benutzt wurde.


ausgebreitet und ſchliefen, ſo gut es gehen wollte. Aber
auch hier war Alles — Alles voll. Im Hintergrunde
bemerkte Mar eine Kuh, die, behaglich an einem Heu-
bündel knabbernd, nur durch einen Lattenverſchlag von
den Soldaten getrennt, blökte.

Raſch entſchloſſen führte Max die Kuh aus dem
Stalle heraus, band ſie draußen an einen Baum und
legte ſich auf den dadurch freigewordenen Platz. Noth
bricht Eiſen, ſagte er ſich. Eine Kuh kann eher mal
im Regen ſtehen, als ein ſächſiſcher Aſſiſtenzarzt, der
ſeit achtzehn Stunden Kranke behandelt und nun vor
Ermüdung am ganzen Leibe zittert und kein Meſſer
mehr halten kann. Durch das hierdurch entſtandene
Geräuſch fuhr hart neben dem Verſchlag ein Soldat
aus dem Schlaf auf.

„Die verdammten Ratten ſoll der Teufel holen.
Man kann keinen Augenblick ſchlafen,“ raiſonnirte der
Soldat ſchlaftrunken und wahrſcheinlich in der Mei-
nung, er ſei durch Ratten, die ihn vielleicht vorher.
geplagt, wieder geſtört worden.

„Stock!“ rief Mar lachend und trotz ſeiner Müdig-


Stock ſah ſich um. Es war finſter in der Scheune.
Aber er mochte den früheren Kommilitonen an der
Stimme erkannt haben.

„Biſt Du's, Schluck?“

„Na, wer denn ſonſt?“

„Höre zu, Schluck. Ich ſage Dir, ich hatte ſoeben
den wunderbarſten Traum, den es je geben kann.“

„Weiß ſchon, weiß ſchon, Stock. Haſt wieder von
dem Bier geträumt, das Dein Vater an Dich abgeſandt
hat und das nicht angekommen iſt?“

„Ja. Höre nur. Wir ſaßen in unſerem alten
Kommersſaal — “

„Um Gottes willen, Stock, ich bin ſo müde wie ein
Hund. Ich weiß ja die Geſchichte ſchon, die Du ſeit
vierzehn Tagen alle Nächte träumſt.“

„Ja, aber heute —“

„Laß mich doch ſchlafen. Du erzählſt mir die
Variante morgen oder übermorgen, wenn es Zeit iſt.“
Er gähnte, gleich darauf ſchlief er wie ein Todter.

Das Schickſal Stock's war wirklich in der letzten
Zeit ein außerordentlich betrübendes geweſen: In Pont-
A-Mouſſon hatte er vor nun zwei Wochen von ſeinem
Vater einen Brief erhalten, der neben allen möglichen
Wünſchen für das Wohlergehen und die Geſundheit des
Sohnes die für dieſen weit intereſſantere Mittheilung
enthalten hatte, daß zwei Faß Bier an ſeine Adreſſe
abgegangen wären, die er mit ſeinen Kameraden auf
ſein Wohl trinken möchte. Zwei Faß Bier, in dieſer
troſtloſen Gegend, inmitten einer Bevölkerung, die
weder Sinn noch Verſtand dafür hatte, ja kaum wußte,
was Bier ſei, das war nach ſo viel Kreuz und Leid,
nach ſo harter Entbehrung für Stock das Paradies!
Aber leider kam das Bier nicht an! Dieſe elenden
Kreuz⸗ und Querzüge, die ſie hinter den Franzoſen her


Stock. So viel er auch herumfragte, ſo viel er hierhin
und dorthin telegraphirte, ſobald ſich die Gelegenheit
dazu bot, kein Menſch wußte von den zwei Hektolitern
Bier. Nun träumte Stock Nachts immer, das Bier
ſei angekommen. Jede Nacht ſeit Pont-à-Mouſſon,
wenn er überhaupt zum Schlafen kam, träumte er irgend
ein Gelage, um dann am Morgen regelmäßig mit dem
bitter⸗ſchmerzlichen Bewußtſein aufzuwachen, daß es ja
nur ein Traum, daß es wieder und wieder nichts ſei
und der ſchönſte Durſt des Jahrhunderts elend in Kaffee,
oder je nach der Schwierigkeit auch in fadem Waſſer
untergehen müſſe.

Davon wurde der gute Stock allmälig ganz melan-
choliſch, und den ganzen Tag machte er ſich die trauxig-
ſien Gedanken darübex, was wohl aus ſeinem Bier
geworden ſei. Hatte ſich irgend eine elende Franctireur-
bande die Kehlen damit ausgeſpült? Natürlich ohne
jede Würdigung des Stoffes und ohne Vexſtand. Das
wäre das Schrecklichſte geweſen. Möglicherweiſe war
aber die Sendung an ebenſo durſtigen Kolonnen der
eigenen Kameraden geſcheitert und von dieſen, als gute
Beute erklärt, der richtigen Beſtimmung mit Verſtändniß
zugeführt worden. Das wäre noch ein Troſt geweſen.

Dann hätte das Bier wenigſtens ſeinen Beruf nicht
verfehlt. Wenn er es nur gewußt hätte!“ ...

Als der Morgen graute, ein kühler, naßkaltex, reg-
neriſcher Morgen, wurde es in dem Dorfe lebendig.
Raſch verbreitete ſich unter den Soldaten das freudige
Gerücht, daß Kaffee und Brod gefaßt würde. Es
mußten in der Nacht Proviantkolonnen angekommen
ſein. Die Noth hatte ein Ende, und man war raſch
wieder guter Dinge. Ein Sachſe ohne Kaffee iſt be-
kanntlich nur ein halber — ein halber Viertelsmenſch!
Die Freude war alſo groß.

„Stock!“ ſchrie Jemand hitzig und eilig draußen
auf der Straße, „wo iſt denn der Gefreite Stock?“
Stock war nämlich nach St. Privat Gefreiter geworden
und hatte demnach die erſte Stufe der Generalsleiter
glücklich erklommen.

Stock ſprang raſch auf, zerrte ſich mit dem „fünf-
zinkigen Kamm“ das Stroh aus den Haaren, zog ſeinen
Rock an und ſetzte die Mütze auf. Sein erſter Gedanke
war natürlich wieder ſein Bier. War es da? War es
angekommen? Er nahm ſich im überſchäumenden Dank-
gefühl vor, den erſten Trainſoldaten, dem er begegnete,
zu küſſen. Die Leute, die ihn auf ſeinen Odyſſeefahrten
in Frankreich wieder aufgefunden und ſogar ſein Bier
nachgefahren, ſtiegen ungeheuer in ſeiner Achtung. Aber
noch miſchte ſich in ſeine Hoffnungen ein gelinder Zweifel.
Er war zu oft enttäuſcht worden, als daß die reine
Freude allſogleich hätte Einzug halten können in ſein
Inneres.

Auf der Straße ſah er ſeinen Feldwebel auf ihn
zukommen. „'s iſt da, Stock!“ rief ihm dieſer trium-
phirend zu.

„Das Bier?“ fragte er mit vor Aufregung ſtocken-
dem Athem.

„Was denn ſonſt? In zwei Stunden iſt es im
Lager. Die Kerle ſind oben auf der Straße von Lame-
court ſtecken geblieben. Aber es iſt ſchon Vorſpann
abgegangen. In zwei Stunden ſind ſie hier.“

Stock wurde ganz blaß vor freudigem Schreck.

„Herr Feldwebel,“ ſtotterte er unzuſammenhängend,
„die ganze Kompagnie — — Wir müſſen einen Bier-
hahn haben, und die Feldkeſſel müſſen ausgeſpült werden.
Hoffentlich kommen die Fäſſer, ehe wir ausrücken
müſſen.“

„Heute wird nicht ausgexückt. Es iſt Ruhetag.
Menſch, Stock, Bierbrauersſohn, wiſſen Sie denn noch
nicht, was paſſirt iſt?“

„Die Fäſſer ſind doch nicht etwa —“

„Ach was, die Fäſſer! Sedan hat kapitulirt. Der
Kaiſer Napoleon mit ſeinem ganzen Heer iſt gefangen.“

„Der Kaiſer Napo—“

„Und über hunderttauſend Mann Soldaten. Natür-
lich. Die Geſchichte wird nun wahrſcheinlich bald vorbei
ſein. Ihr Bier kommt gerade recht zur Friedensfeier.“

„Friedensfeier!“ wiederholte Stock, dann ſtand er
eine Weile mit offenem Munde da. Endlich fuhr er
fort: „Wir fahren wieder heim, Herr Feldwebel?“

* ob das nun ſo raſch geht, das weiß man noch
nicht.“

„Hurrah, es geht wieder nach Hauſe zu Muttern!“
rief nun Stock plötzlich ausbrechend, warf die Nütze
in die Höhe und rannte davon.

Wie ein Lauffeuer verbreitete ſich gegen Mittag des
2. September die Nachricht von dem Abſchluß der Kapi-
tulation. Wie ein Siurmwind pflanzte ſich das Hurrah
Stock's von Quartier zu Quartier, von Lager zu Lager
rings um die Stadt fort, ein lebendiger Telegraph.
Ueberall herrſchte freudiger Jubel über den ungeahnten,
großen Erfolg.! Wenn man auch im deutſchen Großen
Hauptquartier ſeit zwei Tagen wußte, daß ſich der
Kaiſer beim Mac Mahon'ſchen Heer befand — ſeit man
die Vorbereitungen zu ſeinem Empfang in Carignan
erfahren —, ſo wußtẽ man doch nicht, ob es ihm nicht in
der letzten Stunde gelungen ſei, aus Sedan zu entkommen.
Würtlemberger Reiterpatrouillen hatten gemeldet, daß


der Straße nach Mezieres in ſchnellſter Gangart ver-
laſſen habe, ohne daß es gelungen ſei, ſeiner habhaft
zu werden, oder auch nur ihm nahe zu kommen. Man
nahm im deutſchen Hauptquartier an, daß jener Reiter-
trupp der Kaiſer und ſeine Suite geweſen ſei, bis durch
den bekannten Brief des Kaiſers an König Wilhelm
Klarheit in die Sache kam. Am allerwenigſten wußten
aber die Soldaten von dem großen weltgeſchichtlichen
Erfolg, den ſie durch ihre Schnelligkeit und durch ihre
unverwüſtliche Tapferkeit errungen hatten. Der Jubel
war daher jetzt ungeheuer. Auf der Straße fielen ſich
die Leuie um den Hals, und wenn auch auf den end-
loſen, anſtrengenden Kreuz- und Querzügen hinter den
Franzoſen her mancher ſtille oder laute Fluch gefallen
war, wenn auch wie unzählige Male ein bekanntes Lied
aus den Reihen ertönt war, ſo ſang man heute doch
aller Orten im deutſchen Lager im ſiegesfrohen Ueber-
muth:

„Was kraucht dort in dem Buſch herum?

Ich glaub', es iſt Napolium.

Was hat er 'rumzukrauchen dort?

Auf, Kameraden! Jagt ihn fort!“ ...
 
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