170
— FUr ALLE
heft 7.
Das Weſßſer.
9 von
Ienny Hirſch.
EFortſetzung.)
Nachdruck verboten.)
4 wirſt es lange ſchon errathen haben,“
fuhr Mühling in ſeiner Exzählung fort-
„ich bin der Verſuchung erlegen, ich habe
das Geld genommen. Das Geld ſolle,
ſo beruhigte ich mein Gewiſſen, nur ein
Darlehen ſein, das ich, ſobald ich dazu
\ im Stande ſein würde, mit Zins zurück-
zahlen wolle. Und fürchtend, man könne kommen, das
Körbchen und den Selbſtmörder zu ſuchen, machte ich
mich, fo ſchnell meine immer noch nicht ganz gehobene
Schwäche dies erlaubte, auf den Weg, um die nächſte
Eifenbahnſtation zu erreichen.
Ich fuhr die Nacht hindurch direkt nach Hamburg
und von doͤrt als Zwiſchendeckspaſſagier nach Amerika.
Daß ich daſelbſt praͤktiſch das geworden bin, wozu ich
mich auf dem Polytechnikum gern ausgebildet hätte,
Ingenieur und Maſchinenbauer, iſt Dir bekannt, ebenſo,
daß unſer verſtorbener Schwiegervater bei Gelegenheit
einer Reiſe, die er nach Amerika gemacht, mich kennen
gelernt und unter ſehr günſtigen Bedingungen für ſein
Unternehmen gewonnen hat. Wie er mir ſpaͤter geſtand,
fchon damals in der Abſicht, mich zum Theilnehmer und
Schwiegerſohn zu machen.
Ich durfte ſein Anerbieten ohne Bedenken annehmen,
denn mein Onkel, an den ich reumüthig geſchrieben,
allerdings mit Verſchweigung des Vorfalls, im Walde
zu Hohetanne, hatte mir verziehen, und ich beſaß die
** alle hinter mir zurückgelaſſenen Schulden zu
ezahlen.
55 habe ſie getilgt, bis auf eine — die ſchwerſte
und dkückendſte. Diẽ 380 Mark, welche ich dem Förſter
Gruniberg entwendet habe, konnte ich nicht zurückgehen
Er war, wie ich auf meine Erkundigungen erfuhr, ſchon
dor Jahren geſtorben; ſeine einzige Tochter war ihm
ſehr bald im Tode nachgefolgt.“
„Aber,“ wandte hier der Rechtsanwalt ein, da Müh-
ling tief erſchüttert einen Augenblick inne hielt, doch
ſchon begann dieſer wieder:
Es war ein 'beklagenzwerther Irrthum, den ich erſt
heuie eingeſehen habe. Meine Retterin war nicht die
Tochter, ſondern die Enkelin des Törſters Grumberg,
die mit ihrer früh verwittweten Mutter hei ihm ge-
woͤhnt hatte. Während ich ſie als todt beklagte, hatte
*
ſchon feit zwei Jahren ganz in meiner Nähe. — Auf der
Anklagebaͤnk, unter der Anſchuldigung, ein verruchtes,
toͤdeswuͤrdiges Verbrechen begangen zu haben, mußte
ich ſie wieder finden!“
Mühling ſprang auf und machte einen raſchen Gang
durch das Zimmer, ſetzte ſich dann aber wieder, und
wartete, daß Brandhoͤrft, der unter dem Eindruck des
Vernonimenen noch immer ſchweigend daſaß, eine Aeuße-
rung thun ſolle.
Der Rechisanwalt fragte endlich: „Du haſt ſie wieder
erkannt?“
„Zunächſt nicht; aber die Namen Hohetanne und
Förfter Grümberg erweckten die Erinnerung an jenen
Dezembertag. Und dann ſah ich das Meſſer, hielt es
in meiner Hand! Das Meſſer, mit dem ſie den Strick
zerſchnitten hat, das Meſfer, mit welchem ſie ihren
Adoptivvater erſtochen haben ſoll!“
„Du haſt es ſogleich wieder erkannt?“
„Wie follte ich nicht? Das Meſſer war ein Erbſtück
in der Familie meiner Mutter und wurde hochgehalten
ſeiner wunderbar feinen Klingen halbex, noch mehr aher
wegen der kunſtvollen Arbeit der beiden Schalen. Es
ſcheint, daß das junge Mädchen, nachdem ſie mich von
dem Baume abgẽſchuitten hat, in blinder Haſt dapon-
geſtürzt iſt, das Meſſer in der Hand behalten und es
ſpäter wie eine Reliquie aufbewaͤhrt hat. Seltſamex-
weiſe ſcheint ſie Niemand geſagt zu haͤben, auf welche
Weiſe e8 in ihren Beſitz gelangt iſt. Sie antwortete
auch heutẽ auf die auf meine Veranlaſſung geſtellte Frage,
ſie habe es im Walde von Hohetanne gefunden.“
„Und ſie hat ſehr wohl daran gethan,“ erwiedexte
Brandhorſt aus tiefem Nachdenken auffahrend, „die
Anklage würde daran nur einen neuen Stützpunkt ge-
wonnen haben.“
„Inwiefern?“ fragte Mühling verwundert.
„Aber das liegt doch auf der Hand,“ lächelte der
Rechtsanwalt. „Ein Mädchen, das, ein halhes Kind
noch, den Muth beſitzt, einen Erhängten abzuſchneiden,
das ſpäter einen Mann, der in Gefahr iſt, aus dem
Eiſenbahnwagen zu fallen, während der vollen Fahrt
ſo lange feſthält, bis eine Station erreicht iſt, dem iſt
auch zuzutrauen —“
„Nicht weiter!“ unterbrach ihn Mühling, „Du kannſt,
Du darfſt dieſen Schluß nicht ziehen; er iſt grauſam,
erbarmungslos.“
„Aber weit wahrſcheinlicher, als der Deine, daß
dieſe Gertrud an dein Morde ſchuldlos ſein müſſe, weil
ſie Dir vor vielen Jahren das Leben gerettet hat.“
„Mag ſein. Ich kaͤnn nicht an ihre Schuld glauben.
Und ſie follte jetzt einem Schickſal preisgegeben werden,
das ſchlimmer iſt, als der Tod? Nein, das darf nicht
ſein; ſie muß gerettet werden! Und wenn es wein
ganzes Vermögn koſtet; wenn ich meine bürgerliche
Stellung vernichten ſoll, ich muß ſie retten. Ich bahne
ihr den Weg zuͤr Flucht, ich fliehe mit ihr —“
„Gemach, gemach, Kurt,“ verſetzte der Rechtsanwalt,
indem er ſich erhob und dem in der größten Erxegung
vor ihm ſtehenden Freunde die Hand beſchwichtigend
auf die Schulter legte. „Wir leben in einer ſehr nüch-
ternen Zeit, in der ſolche romantiſche Dinge ſich nicht
mehr auͤsführen laſſen; man würde Dich und die von
„Sei nicht ſo hart, ſo erbarmungslos, Ernſt. Habe
ich durch mein Bekenntniß auch Deine Achtung, Deine
Freundſchaft verſcherzt, ſo laß das die Arme nicht ent-
gelten. Rathe mir, hilf mir, ſie zu befreien!“
„Kurt, mein lieber Junge, was redeſt Du da?“ ver-
ſetztẽ Brandhoxſt. „Ich ſollte Dich nicht mehr achten,
nicht mehr lieben! Bin ich fehlerlos durch das Leben
gegangen? Habe ich mir nicht mancherlei vorzuwerfen,
das ſchwerer verziehen werden kann, als das, deſſen
Du Dich anklagſt? Haſt Du nicht viel, nicht Alles
gut gemacht? Wer aus einem Sumpf, in den er ge-
rathen iſt, aus eigener Kraft ſich ſo emporzuarbeiten
verinag, wie Du, der perdient die höchſte Achtung, die
höchſte Anerkennung, der hat weit mehr geleiſtet, als
Deijenige, welcher, auf glatier Bahn wandelnd, niemals
geſtrauchelt iſt.“
„Ich danke Dir, Ernſt, Deine Worte haben mir
ſehr wohl gethan!“ ſagte Kurt Mühling aus tiefſtem
Herzen. „Aber was wird aus ihr, der ich es verdanke,
daß'ich weiter leben und ſühnen konnte, was ich ver-
broͤchen hatte? Ich darf ſie nicht untergehen laſſen!
Sie hat mich erfannt, das ſagte mir der Blick, den fie
auf mich richtete, bevor ſie bewußtlos zulammenbrach!
Sie hat meine Verheißung als einzigen Troſt mit ſich
in die Nacht ihres Kerkers genommen. Soll ich zum
zweiten Male zum Schurken an ihr werden? Hilf mir,
Er ſank auf ſeinen Stuhl zurück. Auch Brandhorſt
nahm wieder Platz, und mehrexe Minuten herr{chte ein
tiefes, banges Schweigen zwiſchen den beiden Männern.
Endlich begann der Rechtsanwalt:
„Wenn Du in dieſer Gertrud Schondorf nicht das
Maͤbchen erkannt hätteſt, welches in ſo entſcheidender
daͤnn ebenfalls ſo feſt von ihrer Schuldloſigkeit über-
zeugt ſein?“
„Ja, das würde ich. Wie kann man dieſes Mädchen
jehen und hören und ſie für eine Mörderin halten;
So vergreift ſich die Natur in ihren Bildungen nicht.“
„Wenn Du mehr von Verbrechern und Vexhreche-
rinnen gefehen hätteſt, ſo würdeſt Du das nicht be-
haupten,“ bemerkte Brandhorft. „Unter der heſtechendſten
Außenſeite wohnt oft große Schlechtigkeit.“
„Du hältſt ſie alſo für ſchuldig?“
Die Beweiſe für ihre Schuld ſind erdrückend.“
Weiche mir nicht aus. Gib mir eine klare und
beſtimmte Antwort.“
„Das kann ich nicht. Alles, was ich Dir zu ſagen
vermag, iſt, daß ich glaube, ſie hätte wirkſamer ver-
theidigt werden können.“
„D, warum mußte ich erſt im letzten Augenblick
erfahren, um wen es ſich handelte! Warum konnteſt
nicht Du ihre Vertheidigung übernehmen; es wäre
anders gekommen!“
„Hälte ich die Angelegenheit in Händen gehabt, ſo
würdẽe ſie in der That möglichexweiſe eine andere Wen-
dung erhalten haben. Es ſind mir, während ich als
Zuhörer der Verhandlung beiwohnte, manche Dinge
aufgeltoßen, die der Vertheidigung entgangen zu ſein
44 und auf welche die Richter keinen Werth gelegt
aben.“
„Und Du biſt nicht ſogleich hervorgekommen und
haſt darauf aufmerkſam gemacht?“ rief Mühling vor-
wurfsvoll.
Der Rechtsanwalt lächelte gutmüthig und ironiſch
zugleich, indem er erwiederte: „Es war genug an dem
ungewoͤhnlichen, Aufſehen erregenden Benehmen eines
Geſchworenen. Was hätte man dan einem Rechtsanwalt
gedacht, der, plötzlich aus dem Zuſchauerxaum hervor-
tretend, ſich in die Verhandlung gemiſcht hätte, um
ſeinen Kollegen wie die Richter ins Unrecht zu ſetzen
Man würde ihn für einen Wahnſinnigen gehalten haben!“
„Und ſolchen Erwägungen hätteſt Du Deine beſſere
Ueberzeugung geopfert?“
„Was ich gethan hätte, wenn Du mich nicht für
die Verurtheilté intereſſirt hätteſt, vermag ich nicht zu
ſagen,“ antwortete Brandhorſt ehrlich. „Jetzt aber —“
„Du willſt die Sache in die Hand nehmen?“
Das will ich! Es gilt zuerſt die Nichtigkeits-
beſchwerde einzulegen, wegen eines Formfehlers, der
ſich unſchwer finden laſſen wird.“
„Und wenn ſie verworfen wird?“
„So haben wir immerhin Zeit gewonnen, denn bis
über die Beſchwerde entſchieden iſt, wird das Urtheil
nicht rechtskraftig. Ich werde mich morgen ſogleich mit
Händel in Verbinduͤnß ſetzen. Er iſt mir glücklicher-
weiſe freundlich geſinnt. Ich will thun, was in meinen
Kräften ſteht.“
„O, dann iſt ſie gerettet !“ jubelte Mühling.
Mache Dir keine zu großen Hoffnungen; ich habe
bis jetzt nichts als einige fehr gewagte, ſehr unſichere
Vermuͤthungen.“
„Und die wären?“
„Erlaube, daß ich ſie, eben weil ſie ſo ſehr gewagt
ſind vorläufig noch für mich behalte. Nur ſo viel kann
ich Dir fagen: wenn Gertrud Schondorf den Mord
nicht begangen hat, ſo muß ihn doch ein Anderer verübt
haben. Dieſen Anderen ausfindig zu machen und zu
uͤberführen, muß unſere Aufgabe fein, denn das iſt die
einzige Möglichkeit, ihre Schuldloſigkeit darzuthun.“
„Wie willſt Du das anfangen?“
Das weiß ich im Augenblick ſelbſt noch nicht. Ueber-
haußt iſt es nothwendig daß die ganze Sache als tiefes
Geheimniß behandelt, und es wo möglich gar nicht be-
kannt wird, daß ich dabei betheiligt bin.“
„Und ich? Soll ich gar nichts thun?” fragte Mühling.
„Vorläufig haſt Du Dich ganz ſtill zu verhalten,
Deine Zeit wird ſchon kommen. Wenn Dir das eine
Beruhigung gibt, magſt Du einen Brief an Deinen
Schüßling ſchreiben; ich mache mich anheiſchig, ihn in
ihre Hände gelangen zu laſſen. Aber errege ihr keine
zu großen Hoffnungen, ſie könnten doch getäuſcht werden.“
„O Freund, wie ſoll ich Dir danken!“
Er umarmte den Rechtsanwalt, der ſich lachend
losmachte und erwiederte: „Geduld, ich werde Dir
meine Rechnung ſchon ſchicken, wir Rechtsanwälte thun
nichts um Gottes willen.“
„Und wie ſteht es mit der Reiſe nach der Liviera?“
Die werde ich jetzt wohl aufgeben müſſen. Die Sache
erfordert meine ganze Kraft. Lebe wohl, Du ſollſt bald
Weiteres hören.“
15.
Seit Gertrud Schondorf's Verurtheilung war eine
Woche vergangen. Rechtsanwalt Händel hatte die Nichtig-
keitsbeſchwerde eingelegt, weil der Gerichtshof die Ver-
nehmung einer Entlaſtungszeugin, dexen perſönliches Er-
ſcheinen er gefordert, als ünerhehlich abgelehnt hatte.
Es war Doktor Brandhorſt nicht leicht geworden, den
älteren Kollegen zu dieſem Schritte zu bewegen, von
deſſen Erfolgloſigkeit er im Voraus überzeugt wax. Er
hatte ʒu dieſem Zweck ihm mehr von ſeinen Karten aufdecken
müſſen, als ihm erwünſcht geweſen war; nachdem dies
aber geſchehen, hatte er keine Urſache, es zu bereuen.
Rechtoaanwalt Händel hatte Brandhorſt's Darlegungen
zuerſt ſehr zweifelnd gegenüber geſtanden, je mehr ihm
dieſer aber mittheilte, deſto mehr leuchtete ihm die
Sache ein. Mit anerkennenswerthem Freimuth bekannte
er ſich zu ſeinen Unterlaſſungsſünden und war jetzt
Feuer und Flamme, ſie wieder gut zu machen. Er
jtellte ſich ſeinem jüngeren Kollegen ganz zur Verfügung,
verſchaffte dieſem auf deſſen Wunſch eine längere Unter-
redung mit der Gefangenen, ließ ihn aber, da Brand-
horſt c8 ſo für gut fand, bei der ganzen Angelegenheit
im Hintergrunde bleiben. —
es war an einem unfreundlichen, kalten Tage im
Januar. Dunkelgraue Schneewolken hatten ſchon lange
ſchwer am Himmel gehangen, und in den Nachmittagoͤ—
ſtuͤnden begaͤnn ein Floͤckentanz, durch welchen die ohne-
hin früh hereinbrechende Dämmerung noch mehr be-
ſchleunigt ward. ;
In ihrem Wohnzimmer in der Kneſebeckſtraße in
Charlottenburg ſaß Frau Konſul Wehrmann- in der
Nähe des eine wohlthuende Wärme verbreitenden Ofens.
Die Rollläden waren herabgelaſſen, die Lampe an-
gezündet, unter dem ſummenden Waſſerkeſſel brannte
die Spiritusflamme, der friſch aufgebrühte Kaffee ſtrömte
einen aromatiſchen Duft aus. Trotz dieſer behaglichen
Umgebung befand die alte Dame ſich aber in einer
nichts weniger als behaglichen Stimmung, Sie fühlte
ſich, ſeit ihre Tochter an der Riviexa weilte, ſehr ein-
jam und erkannte erſt jetzt recht, was ſie an der immer
freundlichen, immer geduldigen und liebenswürdigen
Elvira für einen Schaͤtz beſaß, wenn ſie ſich das auch
nicht ſo recht eingeſtehen wollte.
In ſeiner ganzen Stärke war der ſie ſeit dem Be-
ginn ihrer Wittwenſchaft erfüllende Groll, den die Ver-
lobung Elvira's mit Dallmex etwas beſchwichtigt ge-
habt hatte, von Neuem erwacht. Sie verglich nicht nur
die Vergangenheit mit der Gegenwart, ſondern malte
ſich auch aus, wie die Zukunft ſich geſtaltet haben würde,
hätte zwiſchen Lipp' und Kelchesrand nicht der finſteren
Mächte Hand geſchwebt.
Statt hier einſam in der beſchränkten Gartenwohnung
zu ſitzen, hätte ſie drüben in der Faſanenſtraße den
Mittelpunkt eines angeregten geſelligen Kreiſes in dem
— FUr ALLE
heft 7.
Das Weſßſer.
9 von
Ienny Hirſch.
EFortſetzung.)
Nachdruck verboten.)
4 wirſt es lange ſchon errathen haben,“
fuhr Mühling in ſeiner Exzählung fort-
„ich bin der Verſuchung erlegen, ich habe
das Geld genommen. Das Geld ſolle,
ſo beruhigte ich mein Gewiſſen, nur ein
Darlehen ſein, das ich, ſobald ich dazu
\ im Stande ſein würde, mit Zins zurück-
zahlen wolle. Und fürchtend, man könne kommen, das
Körbchen und den Selbſtmörder zu ſuchen, machte ich
mich, fo ſchnell meine immer noch nicht ganz gehobene
Schwäche dies erlaubte, auf den Weg, um die nächſte
Eifenbahnſtation zu erreichen.
Ich fuhr die Nacht hindurch direkt nach Hamburg
und von doͤrt als Zwiſchendeckspaſſagier nach Amerika.
Daß ich daſelbſt praͤktiſch das geworden bin, wozu ich
mich auf dem Polytechnikum gern ausgebildet hätte,
Ingenieur und Maſchinenbauer, iſt Dir bekannt, ebenſo,
daß unſer verſtorbener Schwiegervater bei Gelegenheit
einer Reiſe, die er nach Amerika gemacht, mich kennen
gelernt und unter ſehr günſtigen Bedingungen für ſein
Unternehmen gewonnen hat. Wie er mir ſpaͤter geſtand,
fchon damals in der Abſicht, mich zum Theilnehmer und
Schwiegerſohn zu machen.
Ich durfte ſein Anerbieten ohne Bedenken annehmen,
denn mein Onkel, an den ich reumüthig geſchrieben,
allerdings mit Verſchweigung des Vorfalls, im Walde
zu Hohetanne, hatte mir verziehen, und ich beſaß die
** alle hinter mir zurückgelaſſenen Schulden zu
ezahlen.
55 habe ſie getilgt, bis auf eine — die ſchwerſte
und dkückendſte. Diẽ 380 Mark, welche ich dem Förſter
Gruniberg entwendet habe, konnte ich nicht zurückgehen
Er war, wie ich auf meine Erkundigungen erfuhr, ſchon
dor Jahren geſtorben; ſeine einzige Tochter war ihm
ſehr bald im Tode nachgefolgt.“
„Aber,“ wandte hier der Rechtsanwalt ein, da Müh-
ling tief erſchüttert einen Augenblick inne hielt, doch
ſchon begann dieſer wieder:
Es war ein 'beklagenzwerther Irrthum, den ich erſt
heuie eingeſehen habe. Meine Retterin war nicht die
Tochter, ſondern die Enkelin des Törſters Grumberg,
die mit ihrer früh verwittweten Mutter hei ihm ge-
woͤhnt hatte. Während ich ſie als todt beklagte, hatte
*
ſchon feit zwei Jahren ganz in meiner Nähe. — Auf der
Anklagebaͤnk, unter der Anſchuldigung, ein verruchtes,
toͤdeswuͤrdiges Verbrechen begangen zu haben, mußte
ich ſie wieder finden!“
Mühling ſprang auf und machte einen raſchen Gang
durch das Zimmer, ſetzte ſich dann aber wieder, und
wartete, daß Brandhoͤrft, der unter dem Eindruck des
Vernonimenen noch immer ſchweigend daſaß, eine Aeuße-
rung thun ſolle.
Der Rechisanwalt fragte endlich: „Du haſt ſie wieder
erkannt?“
„Zunächſt nicht; aber die Namen Hohetanne und
Förfter Grümberg erweckten die Erinnerung an jenen
Dezembertag. Und dann ſah ich das Meſſer, hielt es
in meiner Hand! Das Meſſer, mit dem ſie den Strick
zerſchnitten hat, das Meſfer, mit welchem ſie ihren
Adoptivvater erſtochen haben ſoll!“
„Du haſt es ſogleich wieder erkannt?“
„Wie follte ich nicht? Das Meſſer war ein Erbſtück
in der Familie meiner Mutter und wurde hochgehalten
ſeiner wunderbar feinen Klingen halbex, noch mehr aher
wegen der kunſtvollen Arbeit der beiden Schalen. Es
ſcheint, daß das junge Mädchen, nachdem ſie mich von
dem Baume abgẽſchuitten hat, in blinder Haſt dapon-
geſtürzt iſt, das Meſſer in der Hand behalten und es
ſpäter wie eine Reliquie aufbewaͤhrt hat. Seltſamex-
weiſe ſcheint ſie Niemand geſagt zu haͤben, auf welche
Weiſe e8 in ihren Beſitz gelangt iſt. Sie antwortete
auch heutẽ auf die auf meine Veranlaſſung geſtellte Frage,
ſie habe es im Walde von Hohetanne gefunden.“
„Und ſie hat ſehr wohl daran gethan,“ erwiedexte
Brandhorſt aus tiefem Nachdenken auffahrend, „die
Anklage würde daran nur einen neuen Stützpunkt ge-
wonnen haben.“
„Inwiefern?“ fragte Mühling verwundert.
„Aber das liegt doch auf der Hand,“ lächelte der
Rechtsanwalt. „Ein Mädchen, das, ein halhes Kind
noch, den Muth beſitzt, einen Erhängten abzuſchneiden,
das ſpäter einen Mann, der in Gefahr iſt, aus dem
Eiſenbahnwagen zu fallen, während der vollen Fahrt
ſo lange feſthält, bis eine Station erreicht iſt, dem iſt
auch zuzutrauen —“
„Nicht weiter!“ unterbrach ihn Mühling, „Du kannſt,
Du darfſt dieſen Schluß nicht ziehen; er iſt grauſam,
erbarmungslos.“
„Aber weit wahrſcheinlicher, als der Deine, daß
dieſe Gertrud an dein Morde ſchuldlos ſein müſſe, weil
ſie Dir vor vielen Jahren das Leben gerettet hat.“
„Mag ſein. Ich kaͤnn nicht an ihre Schuld glauben.
Und ſie follte jetzt einem Schickſal preisgegeben werden,
das ſchlimmer iſt, als der Tod? Nein, das darf nicht
ſein; ſie muß gerettet werden! Und wenn es wein
ganzes Vermögn koſtet; wenn ich meine bürgerliche
Stellung vernichten ſoll, ich muß ſie retten. Ich bahne
ihr den Weg zuͤr Flucht, ich fliehe mit ihr —“
„Gemach, gemach, Kurt,“ verſetzte der Rechtsanwalt,
indem er ſich erhob und dem in der größten Erxegung
vor ihm ſtehenden Freunde die Hand beſchwichtigend
auf die Schulter legte. „Wir leben in einer ſehr nüch-
ternen Zeit, in der ſolche romantiſche Dinge ſich nicht
mehr auͤsführen laſſen; man würde Dich und die von
„Sei nicht ſo hart, ſo erbarmungslos, Ernſt. Habe
ich durch mein Bekenntniß auch Deine Achtung, Deine
Freundſchaft verſcherzt, ſo laß das die Arme nicht ent-
gelten. Rathe mir, hilf mir, ſie zu befreien!“
„Kurt, mein lieber Junge, was redeſt Du da?“ ver-
ſetztẽ Brandhoxſt. „Ich ſollte Dich nicht mehr achten,
nicht mehr lieben! Bin ich fehlerlos durch das Leben
gegangen? Habe ich mir nicht mancherlei vorzuwerfen,
das ſchwerer verziehen werden kann, als das, deſſen
Du Dich anklagſt? Haſt Du nicht viel, nicht Alles
gut gemacht? Wer aus einem Sumpf, in den er ge-
rathen iſt, aus eigener Kraft ſich ſo emporzuarbeiten
verinag, wie Du, der perdient die höchſte Achtung, die
höchſte Anerkennung, der hat weit mehr geleiſtet, als
Deijenige, welcher, auf glatier Bahn wandelnd, niemals
geſtrauchelt iſt.“
„Ich danke Dir, Ernſt, Deine Worte haben mir
ſehr wohl gethan!“ ſagte Kurt Mühling aus tiefſtem
Herzen. „Aber was wird aus ihr, der ich es verdanke,
daß'ich weiter leben und ſühnen konnte, was ich ver-
broͤchen hatte? Ich darf ſie nicht untergehen laſſen!
Sie hat mich erfannt, das ſagte mir der Blick, den fie
auf mich richtete, bevor ſie bewußtlos zulammenbrach!
Sie hat meine Verheißung als einzigen Troſt mit ſich
in die Nacht ihres Kerkers genommen. Soll ich zum
zweiten Male zum Schurken an ihr werden? Hilf mir,
Er ſank auf ſeinen Stuhl zurück. Auch Brandhorſt
nahm wieder Platz, und mehrexe Minuten herr{chte ein
tiefes, banges Schweigen zwiſchen den beiden Männern.
Endlich begann der Rechtsanwalt:
„Wenn Du in dieſer Gertrud Schondorf nicht das
Maͤbchen erkannt hätteſt, welches in ſo entſcheidender
daͤnn ebenfalls ſo feſt von ihrer Schuldloſigkeit über-
zeugt ſein?“
„Ja, das würde ich. Wie kann man dieſes Mädchen
jehen und hören und ſie für eine Mörderin halten;
So vergreift ſich die Natur in ihren Bildungen nicht.“
„Wenn Du mehr von Verbrechern und Vexhreche-
rinnen gefehen hätteſt, ſo würdeſt Du das nicht be-
haupten,“ bemerkte Brandhorft. „Unter der heſtechendſten
Außenſeite wohnt oft große Schlechtigkeit.“
„Du hältſt ſie alſo für ſchuldig?“
Die Beweiſe für ihre Schuld ſind erdrückend.“
Weiche mir nicht aus. Gib mir eine klare und
beſtimmte Antwort.“
„Das kann ich nicht. Alles, was ich Dir zu ſagen
vermag, iſt, daß ich glaube, ſie hätte wirkſamer ver-
theidigt werden können.“
„D, warum mußte ich erſt im letzten Augenblick
erfahren, um wen es ſich handelte! Warum konnteſt
nicht Du ihre Vertheidigung übernehmen; es wäre
anders gekommen!“
„Hälte ich die Angelegenheit in Händen gehabt, ſo
würdẽe ſie in der That möglichexweiſe eine andere Wen-
dung erhalten haben. Es ſind mir, während ich als
Zuhörer der Verhandlung beiwohnte, manche Dinge
aufgeltoßen, die der Vertheidigung entgangen zu ſein
44 und auf welche die Richter keinen Werth gelegt
aben.“
„Und Du biſt nicht ſogleich hervorgekommen und
haſt darauf aufmerkſam gemacht?“ rief Mühling vor-
wurfsvoll.
Der Rechtsanwalt lächelte gutmüthig und ironiſch
zugleich, indem er erwiederte: „Es war genug an dem
ungewoͤhnlichen, Aufſehen erregenden Benehmen eines
Geſchworenen. Was hätte man dan einem Rechtsanwalt
gedacht, der, plötzlich aus dem Zuſchauerxaum hervor-
tretend, ſich in die Verhandlung gemiſcht hätte, um
ſeinen Kollegen wie die Richter ins Unrecht zu ſetzen
Man würde ihn für einen Wahnſinnigen gehalten haben!“
„Und ſolchen Erwägungen hätteſt Du Deine beſſere
Ueberzeugung geopfert?“
„Was ich gethan hätte, wenn Du mich nicht für
die Verurtheilté intereſſirt hätteſt, vermag ich nicht zu
ſagen,“ antwortete Brandhorſt ehrlich. „Jetzt aber —“
„Du willſt die Sache in die Hand nehmen?“
Das will ich! Es gilt zuerſt die Nichtigkeits-
beſchwerde einzulegen, wegen eines Formfehlers, der
ſich unſchwer finden laſſen wird.“
„Und wenn ſie verworfen wird?“
„So haben wir immerhin Zeit gewonnen, denn bis
über die Beſchwerde entſchieden iſt, wird das Urtheil
nicht rechtskraftig. Ich werde mich morgen ſogleich mit
Händel in Verbinduͤnß ſetzen. Er iſt mir glücklicher-
weiſe freundlich geſinnt. Ich will thun, was in meinen
Kräften ſteht.“
„O, dann iſt ſie gerettet !“ jubelte Mühling.
Mache Dir keine zu großen Hoffnungen; ich habe
bis jetzt nichts als einige fehr gewagte, ſehr unſichere
Vermuͤthungen.“
„Und die wären?“
„Erlaube, daß ich ſie, eben weil ſie ſo ſehr gewagt
ſind vorläufig noch für mich behalte. Nur ſo viel kann
ich Dir fagen: wenn Gertrud Schondorf den Mord
nicht begangen hat, ſo muß ihn doch ein Anderer verübt
haben. Dieſen Anderen ausfindig zu machen und zu
uͤberführen, muß unſere Aufgabe fein, denn das iſt die
einzige Möglichkeit, ihre Schuldloſigkeit darzuthun.“
„Wie willſt Du das anfangen?“
Das weiß ich im Augenblick ſelbſt noch nicht. Ueber-
haußt iſt es nothwendig daß die ganze Sache als tiefes
Geheimniß behandelt, und es wo möglich gar nicht be-
kannt wird, daß ich dabei betheiligt bin.“
„Und ich? Soll ich gar nichts thun?” fragte Mühling.
„Vorläufig haſt Du Dich ganz ſtill zu verhalten,
Deine Zeit wird ſchon kommen. Wenn Dir das eine
Beruhigung gibt, magſt Du einen Brief an Deinen
Schüßling ſchreiben; ich mache mich anheiſchig, ihn in
ihre Hände gelangen zu laſſen. Aber errege ihr keine
zu großen Hoffnungen, ſie könnten doch getäuſcht werden.“
„O Freund, wie ſoll ich Dir danken!“
Er umarmte den Rechtsanwalt, der ſich lachend
losmachte und erwiederte: „Geduld, ich werde Dir
meine Rechnung ſchon ſchicken, wir Rechtsanwälte thun
nichts um Gottes willen.“
„Und wie ſteht es mit der Reiſe nach der Liviera?“
Die werde ich jetzt wohl aufgeben müſſen. Die Sache
erfordert meine ganze Kraft. Lebe wohl, Du ſollſt bald
Weiteres hören.“
15.
Seit Gertrud Schondorf's Verurtheilung war eine
Woche vergangen. Rechtsanwalt Händel hatte die Nichtig-
keitsbeſchwerde eingelegt, weil der Gerichtshof die Ver-
nehmung einer Entlaſtungszeugin, dexen perſönliches Er-
ſcheinen er gefordert, als ünerhehlich abgelehnt hatte.
Es war Doktor Brandhorſt nicht leicht geworden, den
älteren Kollegen zu dieſem Schritte zu bewegen, von
deſſen Erfolgloſigkeit er im Voraus überzeugt wax. Er
hatte ʒu dieſem Zweck ihm mehr von ſeinen Karten aufdecken
müſſen, als ihm erwünſcht geweſen war; nachdem dies
aber geſchehen, hatte er keine Urſache, es zu bereuen.
Rechtoaanwalt Händel hatte Brandhorſt's Darlegungen
zuerſt ſehr zweifelnd gegenüber geſtanden, je mehr ihm
dieſer aber mittheilte, deſto mehr leuchtete ihm die
Sache ein. Mit anerkennenswerthem Freimuth bekannte
er ſich zu ſeinen Unterlaſſungsſünden und war jetzt
Feuer und Flamme, ſie wieder gut zu machen. Er
jtellte ſich ſeinem jüngeren Kollegen ganz zur Verfügung,
verſchaffte dieſem auf deſſen Wunſch eine längere Unter-
redung mit der Gefangenen, ließ ihn aber, da Brand-
horſt c8 ſo für gut fand, bei der ganzen Angelegenheit
im Hintergrunde bleiben. —
es war an einem unfreundlichen, kalten Tage im
Januar. Dunkelgraue Schneewolken hatten ſchon lange
ſchwer am Himmel gehangen, und in den Nachmittagoͤ—
ſtuͤnden begaͤnn ein Floͤckentanz, durch welchen die ohne-
hin früh hereinbrechende Dämmerung noch mehr be-
ſchleunigt ward. ;
In ihrem Wohnzimmer in der Kneſebeckſtraße in
Charlottenburg ſaß Frau Konſul Wehrmann- in der
Nähe des eine wohlthuende Wärme verbreitenden Ofens.
Die Rollläden waren herabgelaſſen, die Lampe an-
gezündet, unter dem ſummenden Waſſerkeſſel brannte
die Spiritusflamme, der friſch aufgebrühte Kaffee ſtrömte
einen aromatiſchen Duft aus. Trotz dieſer behaglichen
Umgebung befand die alte Dame ſich aber in einer
nichts weniger als behaglichen Stimmung, Sie fühlte
ſich, ſeit ihre Tochter an der Riviexa weilte, ſehr ein-
jam und erkannte erſt jetzt recht, was ſie an der immer
freundlichen, immer geduldigen und liebenswürdigen
Elvira für einen Schaͤtz beſaß, wenn ſie ſich das auch
nicht ſo recht eingeſtehen wollte.
In ſeiner ganzen Stärke war der ſie ſeit dem Be-
ginn ihrer Wittwenſchaft erfüllende Groll, den die Ver-
lobung Elvira's mit Dallmex etwas beſchwichtigt ge-
habt hatte, von Neuem erwacht. Sie verglich nicht nur
die Vergangenheit mit der Gegenwart, ſondern malte
ſich auch aus, wie die Zukunft ſich geſtaltet haben würde,
hätte zwiſchen Lipp' und Kelchesrand nicht der finſteren
Mächte Hand geſchwebt.
Statt hier einſam in der beſchränkten Gartenwohnung
zu ſitzen, hätte ſie drüben in der Faſanenſtraße den
Mittelpunkt eines angeregten geſelligen Kreiſes in dem