330
Das Flr Ylle
geft 14.
die Bemannung des ‚Bojton‘ etwas herausgekommen, weil
ich dort angab, daß ich Paul Nehringer von Norderney
ſei und bei einer Nachfrage auf der Inſel Niemand
fehlte? — Iſt es auf der Inſel bekannt geworden, daß
ich das Geid genommen haͤbe, ſo gelte ich für einen
Dieb und bin verachtet und ehrlos. Was wird meine
arme Mutter ſagen! Wird dieſe Schande, die ich auf
die gute alte Frau geladen habe, ſie nicht unter die
Erde bringen?“
So drängten ſich in fieberhafter Schnelligkeit die
Gedanken in Klaus Gehren's Kopf und bedrückten ſein
Herz zum Zerſpringen. Das Geld hatte ihm bisher
1009 kein Glück gebracht. In New-Hork hatte er eine
ſorgenvolle, unruhige Zeit verlebt, und jetzt merkte er,
44 That herausgekommen ſei, und er verfolgt
werde.
Waäre es nicht beſſer, er würde von hier aus Alles,
was er an barem Gelde beſaß, ebenſo den Depotſchein
nach der Inſel ſchicken? „Was wäre aber damit er-
reicht?“ fragte er fich. „Auf der Inſel würde ich doch
für einen Dieb gelten, die That wäre nutzloz und ver-
geblich geweſen, ſie hätte mir und meiner Mutter nur
Elend und Schmach gebracht.“
„Nein!“ rief Klaus ſo laut aus, daß, wenn die
Zecher nicht ſo laut gelärmt hätten, ſie ſeine Erregung
hätien wahrnehmen müſſen. „Weiter, weiter! Wenn
ich etwas geworden bin, dann mögen ſie mich einſperren,
meinetwegen! Daß ich ein Maler geworden und nicht
mehr Segel zu flicken und Körbe zu flechten brauche,
das können ſie mir nicht mehr nehmen! Ich fechte es
durch, ich habe angefangen und will mit dem Schickſal
weiter ringen!“
Er beſchloß jedoch, nun nicht nach München, über-
haupt nicht nach Deutſchland zu gehen, wie er anfangs
gewollt hatte, das war jetzt zu gefährlich, ſondern nach
Paris. Er hatte dieſen Gedanken ſchon früher einmal
gehabt, ſeine völlige Unkenntniß der franzöſiſchen Sprache
ihn jedoch von dieſem Vorhaben abgeſchreckt. Jetzt
war er gezwungen, in dieſen üblen ÜUmſtand ſich zu
ergeben.
Waͤhrend Klaus in tiefem Sinnen ſo ſein Schickſal
ſich geſtaltete, hatte er mechaniſch zum Fenſter hinaus-
gefehen, jetzt erblickte er wieder den Aſſeſſor, dieſer ſchien
in 'ſeiner Wanderung Kehrt gemacht zu haben und kam
neuerdings an dem Reſtauxänt vorüber. Klaus ſtond
das Herz in der Bruſt ſtill. Der Aſſeſſor blieb ſtehen
und betrachtete die Laterne, warf einen Blick durch das
Fenſter und machte Miene, in das Gaſtzimmer einzu-
treten. Klaus war wie erſtarrt, ſeine Füße ſchienen
ihm am Boden feſtgewurzelt, er wagte ſich nicht einmal
umzuwenden, um dadurch nicht die Aufmerkſamkeit des
Maͤnnes draußen auf ſich zu ziehen. Zum Glück war
das Zimmer voll Dunſt und Taͤbaksrauch, und die Gas-
flammen brannten nicht ſehr hell.
Reinhard ging jedoch draußen weiter ſeines Wegs.
Klaus zög ſeine Ühr. Es war noch eine Viertelſtunde,
bis der Dampfer drüben an der Landungsbrücke an-
legen würde. Er zog ſeinen Mantel an und ſchlug
den Kragen hoch, naͤhm ſeine beiden Koffer, drückte den
Hut tief in das Geſicht und wartete ſo, den Rücken
gegen den Eingang des Lokals gerichtet, in dumpfem,
ſorgenſchwerem Bangen. Endlich hörte er die Schiffs-
glocke läuten. Er hob ſeine Koffer auf, verließ das
Woirthshaus und ſchritt, die Augen auf den Boden ge-
ſenkt, über den Plaͤtz dem Quai zu. Es hatte ſtärker
angefangen zu ſchneien, die Straße war ſchon mit einex
weißen Schicht bedeckt, die Laternen, das Buſchwerk,
die Umheguͤngen der Anlagen auf dem Platze bekamen
ſeltſame Kappen und Aufſätze. Die fünf Minuten,
welche der Frieſe bis zur Abfahrtsſtelle zurückzulegen
hatte, ſchienen ihm eine Meile. Er getraute ſich nicht,
ſchnell zu gehen. Gemeſſen, wie Jemand, der keine
Eile halte, ſchritt er ſeinem Ziel zu. Er wurde nicht
geſtört, von Niemand angehalten.
Er erreichte den Quai und ſah die Landungsbrücke
vor ſich und die Laternen eines Dampfers leuchten.
„Die ‚Königin Annat?“ frug er einen der Boots-
leute auf der Brücke.
„Ja, Sir,“ bekam er zur Antwort.
„Nach Calais?“
—— —
Klaus ſchritt auf das Schiff zu, betrat das Deck
und begab ſich ſofort in die Kajüte hinunter.
* *
*
Als der Aſſeſſor Miß Johny verlaſſen hatte, die
Dame wieder in ihrem Zimmer ſaß und ſich die Er-
lebniſſe des Tages vergegenwärtigte, ſtanden zwei Punkte
unaufgeklärt vor ihrem inneren Auge. Erſtens: welche
Urſache hatte die ſo ſchnelle Abreiſe des jungen Mannes?
Zweitens: was hatte jener unangenehme Fremde von
ihm gewollt? Ueber die erſte Frage kam Miß Johny
zu keiner befriedigenden Erklärung. Er hatte ſchon
lange fortreiſen wollen, ſchon mehrere Male die Kaffer
gepäckt und endlich ſein Vorhaben ausgeführt. Daß
etra die Seene, welche am Tage vorher zwiſchen ihnen
ſtattgefunden, ſeinen Entſchluß gereift haben könne,
glaubte ſie nicht. Er mußte etwas auf dem Gewiſſen
haben; ſie hätte blind und dumm ſein müſſen, wenn
ſie das nicht gemerkt hätte. Und damit ſtand der Be-
ſuch des großen plumpen Mannes in Verbindung. Wahr-
die kluge Amerikanerin.
Was war jener Fremde aber für ein Mann? Er
ſprach daſſelbe ſpitze Engliſch wie der Entflohene, und
ſah faſt aus wie ein Poliziſt in Civil. Für einen Ge-
heimpoliziſten benahm er ſich aber zu dumm und leiden-
ſchaftlich.
Miß Johny nahm des Aſſeſſors Karte zur Hand
und las feinen Namen. Eſens in Oſtfriesland ſtand
als Wohnort darauf. Miß Yohny ergriff einen Atlas
und ſuchte in Holland die Stadt Eſens. Sie fand ſie
endlich in Deulſchland, allerdings ſehr in der Nachbar-
ſchaft Hollands und ganz nahe bei der ſchrecklichen
Inſel, auf welcher ihre Freundin lebte. Das dünkte
Miß Johny höchſt merkwürdig. Miſter Laarſen hatte
angegeben, daß er aus Amſterdam ſei. Das war weit
von Eſens, wie Miß Johny auf der Landkarxte ſich über-
zeugte. Wie kam der Mann aus Eſens dazu, Peter
Laarſen hier zu ſuchen? Sollte er bei Maria Ribera
ihren Brief geleſen haben? Die Inſel lag ſo nahe, er
war Regierungsaſſeſſor, alſo ein Beamter, der vielleicht
auf der Inſel zu thun hatte.
Miß Fohny ging plötzlich ein Licht auf. „Alſo daher
wußte er meinen Namen und die Adreſſe von Peter
Laarſen!“ dachte ſie. „Sollte Maria ſo unzart geweſen
ſein und ihm meinen Brief gezeigt haben? Nein, das
Zlaube ich nimmermehr. Der Menſch iſt jedenfalls auf
unrechtmaͤßigem Wege zur Kenntniß des Briefes ge-
langt! Aber es muß eine ſehr wichtige Sache ſein, um
derentwillen er von Eſens aus bis hierher gereist iſt.“
Dieſes Wirrniß von Fragen beſchäftigte Miß Johny
den ganzen Abend, ohne daß ſie einen Faden fand, der
aus diefem Labyrinthe führte. Die Amerikanerin war
eine Dame von ſchnellen Entſchlüſſen, ſie ſetzte ſich hin
und ſchrieb einen freundſchaftlichen Brief an Maria,
verſchwieg in dieſem Schreiben, daß ihr Ideal durch-
gegangen ſei, frug jedoch an, ob ihre Freundin einen
Affeſſor Otto Reinhärd aus Eſens kenne, der nach New-
YNork gekommen ſei, um ihren Freund Peter Laarſen in
einer wichtigen Angelegenheit zu ſprechen. Und dieſen
Brief ſandte Miß Johny ſofort ab.
* *
*
Eine Stunde, bevor die „Königin Anna“ nach Calais
abging, mar der „Bellerophon“ in die Themſe ein-
gelaufen und hatte ebenfalls in Gravesend angelegt.
Der Aſſeſſor haͤtte das Verkrauen in ſeine Begabung
als Detektiv etwas verloren und beſchloſſen, die Hilfe
eines Fachmanns in London anzunehmen, vorher jedoch
ſelbſt die Liſte der mit der „Mayflower“ angekommenen
Paſſagiere nach einem Peter Laarſen durchzuſehen.
Der Aſſeſſor hatte ſich in den langen Tagen der
Ueberfahrt überlegt, daß Klaus Gehren doch wohl Pa-
piere, welcdhe auf dieſen in ganz Holland ſehr verbreiteten
Namen lauteten, in die Hände bekommen haben müſſe,
denn daß der ſchlaue Klaus gerade den Namen des
Inſelvorſtandes von Spiekeroog als ſeinen Falſchnamen
wählen würde, ſchien ihm ganz unglaublich.
Er ging ſofort nach ſeiner Ankunft auf das Hafen-
amt und bat, die Paſſagierliſte der heute Nachmittag
eingelaufenen, Mayflower“ durchſehen zu dürfen, Man
erwiederte ihm höflich, daß die Liſte erſt in einer Stunde
für ihn zugaͤnglich ſei, und dieſe Zeit mußte der Aſſeſſor
in dein Landungsorte todtſchlagen. Das Wettex wurde
ſchlecht, e& machte dem Aſſeſſox das Spazierengehen ſehr
zuwider, und er ſah ſich nach einer Reſtauration um;
hierbei kam er an jener vorbei, in welcher Klaus Gehren
ſaß. Einen Augenblick dachte der Aſſeſſor daran, ein-
zulreten, in dieſem Fall hätte ihm höchſt wahrſcheinlich
eine große Ueberraſchung bevorgeſtanden. Das Lokal
jedoch! der Lärm und der durch die Thüre dringende
Dunft trieben den feiner gewöhnten Mann fort, und
er begab ſich in einen der Gaſthöfe, um in beſſerer Luft
und aͤnſtändiger Geſellſchaft ein Glas Stout zu trinken.
Währenddeſſen ſchickte ſich die „Königin Anna“ an,
abzufahren, und läutete energiſch.
Wo geht das Schiff hin?“ erkundigte ſich der Aſſeſſor
bei dem Kellner.
„Nach Calais, Herr. Es iſt kein Paſſagierboot,
obwoͤhl es auch Reiſende aufnimmt. Wollen Sie mit?“
„D nein,“ lächelte der Aſſeſſor. „Ich werde wohl
ein paar Tage in London aufgehalten werden. Sind
mit der ‚Mayflower' viele 4 — angekommen?“
„So viel ich weiß, nur wehige, kleine Londoner
Kaufleute, die billig reiſen wollen. Man landet ge-
wöhnlich, wenn man von Amerika kommt, in South-
ampton, das iſt der Kurs für die großen Dampfer.“
„Sahen Sie vielleicht die ankommenden Paſſagiere?“
fragte der Aſſeſſor weiter.
„Ja, ich war zufällig an dex Brücke.“
War ein junger Mann mit grauem Mantel und
ſchwarzem, kleinem Filzhut, mit ausdrucksvollem Geſicht
und etwas langen blonden Haaren unter den Ankom-
menden?“
„Ja, Herr. Ich bot dem Herrn unſer Hotel an, er
[öste jedoch eine Karte nach London.“
Der Aifejjor ward roth vor freudiger Erregung und
ließ ſich noch ein Glas Stout geben.
Da pfiff die „Königin Anna“ zum letzten Male und
2— —
Nach Verlauf von fünf Stunden kam der Dampfer
in Caldis an, und zwei Stunden ſpäter rollte Klaus
inm Schnellzuge durch das verſchneite Hügelland, das
mit den Schatten der Nacht bedeckt war, der Hauptſtadt
Frankreichs zu.
Als der Sonnenball als große roſenrothe Scheibe
aus gelbgrauen Nebelbänken ſtieg, fuhr der Zug in die
mächtige Halle des Nordbahnhofes von Paris ein, und
Klauͤs umdab ein toſendes Geräuſch, Rufen und Schreien
in Liner Sprache, die er nicht verſtand. Es wurde ihm
hierbei in den erften Augenblicken recht unbehaglich zu
Muthe. Er kam ſich ſehr hilflos vor, und ein ſtarkes
Gefuͤhl von Unficherheit drohte ihm den Nuth zu rauben.
Er raͤffte ſich jedoch ſchnell auf und frug einen uni-
formirlen Mann, der auf dem Bahnſteig ſtand, in eng-
liſcher Sprache nach einem beſcheidenen Gaſthof in der
Nähe.
* Beamte verſtand ihn, winkte einen Kofferträger
herbei und ſprach zu dieſem einige Worte. Der Koffer-
traͤger lud darauf das Gepäck des Fremden auf feine
Schultern ging voraus, und Klaus folgte ihm auf die
Straße, wo eben die Gaslaternen ausgelöſcht wurden.
Nach wenigen Minuten ſaß Klaus in einem kleinen
Zimnier der „Weißen Taube“, das ſehr geſchnörkelte,
dackelige Möbel, dagegen viel Goldleiſten und andere
vergoldete Zierrathen haͤtte, und ein Stubenmädchen mit
weißgepudertem Geſicht und krauſem, ſchwarzem Locken-
haar ftand vor ihin und ſchwatzte auf ihn ein in un-
aufhörlich rollenden Sätzen, von denen Klaus nur das
häufig wiederkehrende Wort Monſieur verſtand.
Klaus hielt es für gut, manchmal zu nicken, worauf
ſchließlich das Mädchen lachte und fragend: „ Anglais —
Americain ?“ über die beweglichen rothen Lippen brachte.
„Americain,“ wiederholte Klaus, und die Zofe ver-
ſchwand.
Einige Minuten ſpäter erſchien die muntere Perſon
wieder und drückte dem Ankömmling ein kleines, altes
und ziemlich zerriſſenes Büchlein in die Hand. Klaus
warf einen Blick hinein, es war ein engliſch-franzöſiſches
Geſprächsbuch.
„Koftet nur einen Franken,“ machte das Mädchen
ihm bemerkbar.
Klaus bezahlte lachend das Verlangte, behielt das
Buch, und die Zofe eilte ſichtlich vergnügt aus dem
Zimmer.
Klaus fand die franzöſiſche Art, wie ſie hier ſich ihm
darbot, gar nicht übel und warf ſich ſofort auf das
Studium dieſes Sprachführers. Er war ſo vertieft in
ſeine Arbeit, daß er Eſſen und Trinken vergaß, bis
gegen zwölf Uhr die Zofe wieder erſchien, ihn beim
ım nahm und aus dem Zimmer die Treppe hinab in
einen kleinen Salon vor einen ſauber gedeckten Tiſch
führte. Nun kam ein magerer Kellner, der ihm ſtumm
und gewandt Braten, Rühreier und Salat auftrug,
auch eine kleine Flaſche Wein vor ihn hinſtellte. Klaus,
der keine geiſtißen Getränke zu ſich nahm, ſchob die
Flaſche zurück; der Kellner ſtellte ſie wieder vor ihn
hin. Döch ließ Klaus den Wein ſtehen und verzehrte
das ſehr gut zubereitete Frühſtück mit beſtem Appetit.
Als er auͤfſtand, machte der Kellner durch Finger-
bewegungen ihm klar, daß er zweieinhalb Franken zu
entrichten habe. Klaus hatte auf dem Schiffe ſich für
hundert Dollars franzöſiſches Geld eingewechſelt, er
zahlte und verließ das Eßzimmer. Beim Hinausgehen
beinerkte er, daß der Kellner mit größter Geſchwindigkeit
und ſichtlicher Geübtheit die Flaſche Wein ſelbſt trank.
Er ging wieder in ſein Zimmer und ſtudirte in dem
Geſprächbuch weiter. Gegen ſechs Uhr Abends wurde
er von dem Zimmermädchen wieder in das Eßzimmer
gerufen. Er nahm daſelbſt das Abendbrod in Geſell-
ſchaft von fünf aͤnderen Herren ein.
So ging das drei Tage, bis Klaus ſich auf die
Straße waͤgte. Er hatte die freundliche Zofe nach der
Ausſprache verſchiedener Sätze gefragt, und dieſe ihm
bereitwilligſt die Worte vorgeſprochen. Jetzt konnte er
ſehr verſtändlich vorbringen „Wo iſt die Akademie der
ſchönen Künſte? Ich wünſche den Direktor zu ſprechen.“
Ausgerüſtet mit dieſen Sprachkenntniſſen ging er zu
einem Droſchkenplatz und gab dem Kutſcher den erſten
Theil ſeines Sprachſchatzes zum Beſten. Der Kutſcher
befann ſich einige Augenblicke, dann lud er Klaus zum
Einſteigen ein und fuͤhr mit ihm davon. Nach langem
Fahren durch die menſchenwimmelnden Straßen voll
prächtiger Häuſer und glänzender Läden hielt der Wagen
vor einem alten, rieſigen Hauſe mit hohem Portal.
Klaus ſtieg aus und wandte ſich an einen Partier, der
in einer Loge innerhalb des Portals ſaß. Er brachte
hier ſeinen zweiten Satz vor, daß er den Herrn Direktor
ſprechen wolle.
Der Portier erwiederte Klaus etwas, das dieſer nicht
verſtand, und forderte ihn durch eine Handbewegung
auf, ihm zu folgen.
Das Flr Ylle
geft 14.
die Bemannung des ‚Bojton‘ etwas herausgekommen, weil
ich dort angab, daß ich Paul Nehringer von Norderney
ſei und bei einer Nachfrage auf der Inſel Niemand
fehlte? — Iſt es auf der Inſel bekannt geworden, daß
ich das Geid genommen haͤbe, ſo gelte ich für einen
Dieb und bin verachtet und ehrlos. Was wird meine
arme Mutter ſagen! Wird dieſe Schande, die ich auf
die gute alte Frau geladen habe, ſie nicht unter die
Erde bringen?“
So drängten ſich in fieberhafter Schnelligkeit die
Gedanken in Klaus Gehren's Kopf und bedrückten ſein
Herz zum Zerſpringen. Das Geld hatte ihm bisher
1009 kein Glück gebracht. In New-Hork hatte er eine
ſorgenvolle, unruhige Zeit verlebt, und jetzt merkte er,
44 That herausgekommen ſei, und er verfolgt
werde.
Waäre es nicht beſſer, er würde von hier aus Alles,
was er an barem Gelde beſaß, ebenſo den Depotſchein
nach der Inſel ſchicken? „Was wäre aber damit er-
reicht?“ fragte er fich. „Auf der Inſel würde ich doch
für einen Dieb gelten, die That wäre nutzloz und ver-
geblich geweſen, ſie hätte mir und meiner Mutter nur
Elend und Schmach gebracht.“
„Nein!“ rief Klaus ſo laut aus, daß, wenn die
Zecher nicht ſo laut gelärmt hätten, ſie ſeine Erregung
hätien wahrnehmen müſſen. „Weiter, weiter! Wenn
ich etwas geworden bin, dann mögen ſie mich einſperren,
meinetwegen! Daß ich ein Maler geworden und nicht
mehr Segel zu flicken und Körbe zu flechten brauche,
das können ſie mir nicht mehr nehmen! Ich fechte es
durch, ich habe angefangen und will mit dem Schickſal
weiter ringen!“
Er beſchloß jedoch, nun nicht nach München, über-
haupt nicht nach Deutſchland zu gehen, wie er anfangs
gewollt hatte, das war jetzt zu gefährlich, ſondern nach
Paris. Er hatte dieſen Gedanken ſchon früher einmal
gehabt, ſeine völlige Unkenntniß der franzöſiſchen Sprache
ihn jedoch von dieſem Vorhaben abgeſchreckt. Jetzt
war er gezwungen, in dieſen üblen ÜUmſtand ſich zu
ergeben.
Waͤhrend Klaus in tiefem Sinnen ſo ſein Schickſal
ſich geſtaltete, hatte er mechaniſch zum Fenſter hinaus-
gefehen, jetzt erblickte er wieder den Aſſeſſor, dieſer ſchien
in 'ſeiner Wanderung Kehrt gemacht zu haben und kam
neuerdings an dem Reſtauxänt vorüber. Klaus ſtond
das Herz in der Bruſt ſtill. Der Aſſeſſor blieb ſtehen
und betrachtete die Laterne, warf einen Blick durch das
Fenſter und machte Miene, in das Gaſtzimmer einzu-
treten. Klaus war wie erſtarrt, ſeine Füße ſchienen
ihm am Boden feſtgewurzelt, er wagte ſich nicht einmal
umzuwenden, um dadurch nicht die Aufmerkſamkeit des
Maͤnnes draußen auf ſich zu ziehen. Zum Glück war
das Zimmer voll Dunſt und Taͤbaksrauch, und die Gas-
flammen brannten nicht ſehr hell.
Reinhard ging jedoch draußen weiter ſeines Wegs.
Klaus zög ſeine Ühr. Es war noch eine Viertelſtunde,
bis der Dampfer drüben an der Landungsbrücke an-
legen würde. Er zog ſeinen Mantel an und ſchlug
den Kragen hoch, naͤhm ſeine beiden Koffer, drückte den
Hut tief in das Geſicht und wartete ſo, den Rücken
gegen den Eingang des Lokals gerichtet, in dumpfem,
ſorgenſchwerem Bangen. Endlich hörte er die Schiffs-
glocke läuten. Er hob ſeine Koffer auf, verließ das
Woirthshaus und ſchritt, die Augen auf den Boden ge-
ſenkt, über den Plaͤtz dem Quai zu. Es hatte ſtärker
angefangen zu ſchneien, die Straße war ſchon mit einex
weißen Schicht bedeckt, die Laternen, das Buſchwerk,
die Umheguͤngen der Anlagen auf dem Platze bekamen
ſeltſame Kappen und Aufſätze. Die fünf Minuten,
welche der Frieſe bis zur Abfahrtsſtelle zurückzulegen
hatte, ſchienen ihm eine Meile. Er getraute ſich nicht,
ſchnell zu gehen. Gemeſſen, wie Jemand, der keine
Eile halte, ſchritt er ſeinem Ziel zu. Er wurde nicht
geſtört, von Niemand angehalten.
Er erreichte den Quai und ſah die Landungsbrücke
vor ſich und die Laternen eines Dampfers leuchten.
„Die ‚Königin Annat?“ frug er einen der Boots-
leute auf der Brücke.
„Ja, Sir,“ bekam er zur Antwort.
„Nach Calais?“
—— —
Klaus ſchritt auf das Schiff zu, betrat das Deck
und begab ſich ſofort in die Kajüte hinunter.
* *
*
Als der Aſſeſſor Miß Johny verlaſſen hatte, die
Dame wieder in ihrem Zimmer ſaß und ſich die Er-
lebniſſe des Tages vergegenwärtigte, ſtanden zwei Punkte
unaufgeklärt vor ihrem inneren Auge. Erſtens: welche
Urſache hatte die ſo ſchnelle Abreiſe des jungen Mannes?
Zweitens: was hatte jener unangenehme Fremde von
ihm gewollt? Ueber die erſte Frage kam Miß Johny
zu keiner befriedigenden Erklärung. Er hatte ſchon
lange fortreiſen wollen, ſchon mehrere Male die Kaffer
gepäckt und endlich ſein Vorhaben ausgeführt. Daß
etra die Seene, welche am Tage vorher zwiſchen ihnen
ſtattgefunden, ſeinen Entſchluß gereift haben könne,
glaubte ſie nicht. Er mußte etwas auf dem Gewiſſen
haben; ſie hätte blind und dumm ſein müſſen, wenn
ſie das nicht gemerkt hätte. Und damit ſtand der Be-
ſuch des großen plumpen Mannes in Verbindung. Wahr-
die kluge Amerikanerin.
Was war jener Fremde aber für ein Mann? Er
ſprach daſſelbe ſpitze Engliſch wie der Entflohene, und
ſah faſt aus wie ein Poliziſt in Civil. Für einen Ge-
heimpoliziſten benahm er ſich aber zu dumm und leiden-
ſchaftlich.
Miß Johny nahm des Aſſeſſors Karte zur Hand
und las feinen Namen. Eſens in Oſtfriesland ſtand
als Wohnort darauf. Miß Yohny ergriff einen Atlas
und ſuchte in Holland die Stadt Eſens. Sie fand ſie
endlich in Deulſchland, allerdings ſehr in der Nachbar-
ſchaft Hollands und ganz nahe bei der ſchrecklichen
Inſel, auf welcher ihre Freundin lebte. Das dünkte
Miß Johny höchſt merkwürdig. Miſter Laarſen hatte
angegeben, daß er aus Amſterdam ſei. Das war weit
von Eſens, wie Miß Johny auf der Landkarxte ſich über-
zeugte. Wie kam der Mann aus Eſens dazu, Peter
Laarſen hier zu ſuchen? Sollte er bei Maria Ribera
ihren Brief geleſen haben? Die Inſel lag ſo nahe, er
war Regierungsaſſeſſor, alſo ein Beamter, der vielleicht
auf der Inſel zu thun hatte.
Miß Fohny ging plötzlich ein Licht auf. „Alſo daher
wußte er meinen Namen und die Adreſſe von Peter
Laarſen!“ dachte ſie. „Sollte Maria ſo unzart geweſen
ſein und ihm meinen Brief gezeigt haben? Nein, das
Zlaube ich nimmermehr. Der Menſch iſt jedenfalls auf
unrechtmaͤßigem Wege zur Kenntniß des Briefes ge-
langt! Aber es muß eine ſehr wichtige Sache ſein, um
derentwillen er von Eſens aus bis hierher gereist iſt.“
Dieſes Wirrniß von Fragen beſchäftigte Miß Johny
den ganzen Abend, ohne daß ſie einen Faden fand, der
aus diefem Labyrinthe führte. Die Amerikanerin war
eine Dame von ſchnellen Entſchlüſſen, ſie ſetzte ſich hin
und ſchrieb einen freundſchaftlichen Brief an Maria,
verſchwieg in dieſem Schreiben, daß ihr Ideal durch-
gegangen ſei, frug jedoch an, ob ihre Freundin einen
Affeſſor Otto Reinhärd aus Eſens kenne, der nach New-
YNork gekommen ſei, um ihren Freund Peter Laarſen in
einer wichtigen Angelegenheit zu ſprechen. Und dieſen
Brief ſandte Miß Johny ſofort ab.
* *
*
Eine Stunde, bevor die „Königin Anna“ nach Calais
abging, mar der „Bellerophon“ in die Themſe ein-
gelaufen und hatte ebenfalls in Gravesend angelegt.
Der Aſſeſſor haͤtte das Verkrauen in ſeine Begabung
als Detektiv etwas verloren und beſchloſſen, die Hilfe
eines Fachmanns in London anzunehmen, vorher jedoch
ſelbſt die Liſte der mit der „Mayflower“ angekommenen
Paſſagiere nach einem Peter Laarſen durchzuſehen.
Der Aſſeſſor hatte ſich in den langen Tagen der
Ueberfahrt überlegt, daß Klaus Gehren doch wohl Pa-
piere, welcdhe auf dieſen in ganz Holland ſehr verbreiteten
Namen lauteten, in die Hände bekommen haben müſſe,
denn daß der ſchlaue Klaus gerade den Namen des
Inſelvorſtandes von Spiekeroog als ſeinen Falſchnamen
wählen würde, ſchien ihm ganz unglaublich.
Er ging ſofort nach ſeiner Ankunft auf das Hafen-
amt und bat, die Paſſagierliſte der heute Nachmittag
eingelaufenen, Mayflower“ durchſehen zu dürfen, Man
erwiederte ihm höflich, daß die Liſte erſt in einer Stunde
für ihn zugaͤnglich ſei, und dieſe Zeit mußte der Aſſeſſor
in dein Landungsorte todtſchlagen. Das Wettex wurde
ſchlecht, e& machte dem Aſſeſſox das Spazierengehen ſehr
zuwider, und er ſah ſich nach einer Reſtauration um;
hierbei kam er an jener vorbei, in welcher Klaus Gehren
ſaß. Einen Augenblick dachte der Aſſeſſor daran, ein-
zulreten, in dieſem Fall hätte ihm höchſt wahrſcheinlich
eine große Ueberraſchung bevorgeſtanden. Das Lokal
jedoch! der Lärm und der durch die Thüre dringende
Dunft trieben den feiner gewöhnten Mann fort, und
er begab ſich in einen der Gaſthöfe, um in beſſerer Luft
und aͤnſtändiger Geſellſchaft ein Glas Stout zu trinken.
Währenddeſſen ſchickte ſich die „Königin Anna“ an,
abzufahren, und läutete energiſch.
Wo geht das Schiff hin?“ erkundigte ſich der Aſſeſſor
bei dem Kellner.
„Nach Calais, Herr. Es iſt kein Paſſagierboot,
obwoͤhl es auch Reiſende aufnimmt. Wollen Sie mit?“
„D nein,“ lächelte der Aſſeſſor. „Ich werde wohl
ein paar Tage in London aufgehalten werden. Sind
mit der ‚Mayflower' viele 4 — angekommen?“
„So viel ich weiß, nur wehige, kleine Londoner
Kaufleute, die billig reiſen wollen. Man landet ge-
wöhnlich, wenn man von Amerika kommt, in South-
ampton, das iſt der Kurs für die großen Dampfer.“
„Sahen Sie vielleicht die ankommenden Paſſagiere?“
fragte der Aſſeſſor weiter.
„Ja, ich war zufällig an dex Brücke.“
War ein junger Mann mit grauem Mantel und
ſchwarzem, kleinem Filzhut, mit ausdrucksvollem Geſicht
und etwas langen blonden Haaren unter den Ankom-
menden?“
„Ja, Herr. Ich bot dem Herrn unſer Hotel an, er
[öste jedoch eine Karte nach London.“
Der Aifejjor ward roth vor freudiger Erregung und
ließ ſich noch ein Glas Stout geben.
Da pfiff die „Königin Anna“ zum letzten Male und
2— —
Nach Verlauf von fünf Stunden kam der Dampfer
in Caldis an, und zwei Stunden ſpäter rollte Klaus
inm Schnellzuge durch das verſchneite Hügelland, das
mit den Schatten der Nacht bedeckt war, der Hauptſtadt
Frankreichs zu.
Als der Sonnenball als große roſenrothe Scheibe
aus gelbgrauen Nebelbänken ſtieg, fuhr der Zug in die
mächtige Halle des Nordbahnhofes von Paris ein, und
Klauͤs umdab ein toſendes Geräuſch, Rufen und Schreien
in Liner Sprache, die er nicht verſtand. Es wurde ihm
hierbei in den erften Augenblicken recht unbehaglich zu
Muthe. Er kam ſich ſehr hilflos vor, und ein ſtarkes
Gefuͤhl von Unficherheit drohte ihm den Nuth zu rauben.
Er raͤffte ſich jedoch ſchnell auf und frug einen uni-
formirlen Mann, der auf dem Bahnſteig ſtand, in eng-
liſcher Sprache nach einem beſcheidenen Gaſthof in der
Nähe.
* Beamte verſtand ihn, winkte einen Kofferträger
herbei und ſprach zu dieſem einige Worte. Der Koffer-
traͤger lud darauf das Gepäck des Fremden auf feine
Schultern ging voraus, und Klaus folgte ihm auf die
Straße, wo eben die Gaslaternen ausgelöſcht wurden.
Nach wenigen Minuten ſaß Klaus in einem kleinen
Zimnier der „Weißen Taube“, das ſehr geſchnörkelte,
dackelige Möbel, dagegen viel Goldleiſten und andere
vergoldete Zierrathen haͤtte, und ein Stubenmädchen mit
weißgepudertem Geſicht und krauſem, ſchwarzem Locken-
haar ftand vor ihin und ſchwatzte auf ihn ein in un-
aufhörlich rollenden Sätzen, von denen Klaus nur das
häufig wiederkehrende Wort Monſieur verſtand.
Klaus hielt es für gut, manchmal zu nicken, worauf
ſchließlich das Mädchen lachte und fragend: „ Anglais —
Americain ?“ über die beweglichen rothen Lippen brachte.
„Americain,“ wiederholte Klaus, und die Zofe ver-
ſchwand.
Einige Minuten ſpäter erſchien die muntere Perſon
wieder und drückte dem Ankömmling ein kleines, altes
und ziemlich zerriſſenes Büchlein in die Hand. Klaus
warf einen Blick hinein, es war ein engliſch-franzöſiſches
Geſprächsbuch.
„Koftet nur einen Franken,“ machte das Mädchen
ihm bemerkbar.
Klaus bezahlte lachend das Verlangte, behielt das
Buch, und die Zofe eilte ſichtlich vergnügt aus dem
Zimmer.
Klaus fand die franzöſiſche Art, wie ſie hier ſich ihm
darbot, gar nicht übel und warf ſich ſofort auf das
Studium dieſes Sprachführers. Er war ſo vertieft in
ſeine Arbeit, daß er Eſſen und Trinken vergaß, bis
gegen zwölf Uhr die Zofe wieder erſchien, ihn beim
ım nahm und aus dem Zimmer die Treppe hinab in
einen kleinen Salon vor einen ſauber gedeckten Tiſch
führte. Nun kam ein magerer Kellner, der ihm ſtumm
und gewandt Braten, Rühreier und Salat auftrug,
auch eine kleine Flaſche Wein vor ihn hinſtellte. Klaus,
der keine geiſtißen Getränke zu ſich nahm, ſchob die
Flaſche zurück; der Kellner ſtellte ſie wieder vor ihn
hin. Döch ließ Klaus den Wein ſtehen und verzehrte
das ſehr gut zubereitete Frühſtück mit beſtem Appetit.
Als er auͤfſtand, machte der Kellner durch Finger-
bewegungen ihm klar, daß er zweieinhalb Franken zu
entrichten habe. Klaus hatte auf dem Schiffe ſich für
hundert Dollars franzöſiſches Geld eingewechſelt, er
zahlte und verließ das Eßzimmer. Beim Hinausgehen
beinerkte er, daß der Kellner mit größter Geſchwindigkeit
und ſichtlicher Geübtheit die Flaſche Wein ſelbſt trank.
Er ging wieder in ſein Zimmer und ſtudirte in dem
Geſprächbuch weiter. Gegen ſechs Uhr Abends wurde
er von dem Zimmermädchen wieder in das Eßzimmer
gerufen. Er nahm daſelbſt das Abendbrod in Geſell-
ſchaft von fünf aͤnderen Herren ein.
So ging das drei Tage, bis Klaus ſich auf die
Straße waͤgte. Er hatte die freundliche Zofe nach der
Ausſprache verſchiedener Sätze gefragt, und dieſe ihm
bereitwilligſt die Worte vorgeſprochen. Jetzt konnte er
ſehr verſtändlich vorbringen „Wo iſt die Akademie der
ſchönen Künſte? Ich wünſche den Direktor zu ſprechen.“
Ausgerüſtet mit dieſen Sprachkenntniſſen ging er zu
einem Droſchkenplatz und gab dem Kutſcher den erſten
Theil ſeines Sprachſchatzes zum Beſten. Der Kutſcher
befann ſich einige Augenblicke, dann lud er Klaus zum
Einſteigen ein und fuͤhr mit ihm davon. Nach langem
Fahren durch die menſchenwimmelnden Straßen voll
prächtiger Häuſer und glänzender Läden hielt der Wagen
vor einem alten, rieſigen Hauſe mit hohem Portal.
Klaus ſtieg aus und wandte ſich an einen Partier, der
in einer Loge innerhalb des Portals ſaß. Er brachte
hier ſeinen zweiten Satz vor, daß er den Herrn Direktor
ſprechen wolle.
Der Portier erwiederte Klaus etwas, das dieſer nicht
verſtand, und forderte ihn durch eine Handbewegung
auf, ihm zu folgen.