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Heft 4

wobei sie die Genugtuung vorausempfand, daß die oft gerügte
Mangelhaftigkeit der Fernsprechleitung endlich einmal dem Mann,
der sie bediente, deutlich vor Augen geführt wurde. Herr Joseph
Melber antwortete, er verstehe keinen Ton. Tante Reppchen wieder-
holte kurz und bündig, und die Folge war, daß der bäurische Post-
meister ein paar Worte in den Apparat hineinschrie, die ähnlich
in irgend einer unverkürzten Goetheausgabe vorkommen und das
Freifräulein veranlaßten, den Hörer so schnell beiseite zu legen, als
habe sie eine giftige Otter angefaßt. Aber ebenso schnell ergriff
sie ihn wieder und fragte: „Sagten Sie noch etwas?"
Der Postmeister versicherte, er hätte nichts gesagt, es müsse etwas
nicht in Ordnung sein, oder er habe sich in der Verbindung ver-
griffen.
Da erhob sich Fräulein Regine und sagte zu ihrem Neffen: „Ich
bin dir für deinen Vorschlag, dem Fräulein Neureuther die Stelle
zu geben, sehr dankbar."
Gar zu gern hätte sie gewußt, wer denn Hans-Albrecht um
seine Vermittlung angegangen hatte. Aber er ging ihren Fragen
geschickt aus dem Wege, ohne zu ahnen, daß er damit die Einbildungs-
kräfte seiner Tante lebhaft zur Tätigkeit zwang. Auch kluge Frauen
können irren, und Tante Reppchen hatte von jetzt an den Verdacht,
daß der Hauptmann Halm v. Gäudecker derjenige war, dem an
einer guten Versorgung Fräulein Neureuthers etwas lag.
Annemarie tat ihr leid. Vertrauensselig hatte sie sich die Hul-
digungen eines Mannes gefallen lassen, dessen Gedanken sicherlich
anderswo weilten. Aber sie erhob ihre Warnerstimme noch nicht.
Auf Wahrscheinlichkeiten hin soll man keinen Menschen verurteilen.
Außerdem hatte sie jetzt Besseres zu tun. Seit gestern war eine Schnei-
derin im Schloß. Kleider machen Leute. Altfränkisch wollte weder
sie, noch sollte Annemarie vor Esther und den fremden Gästen er-
scheinen. Auch sonst ging sie weitsichtig daran, nachzuholen, was
aus Sparsamkeitsgründen bisher immer wieder hinausgerückt
worden war. Die Dielen mußten gestrichen, verblichene Tapeten
durch neue ersetzt werden. Man konnte Gästen, die aus den Königs-
schlössern kamen, nicht zumuten, daß sie beim Flackern einer Talg-
kerze zu Bett gingen. Schon seit Jahr und Tag trug sie sich mit dem
Gedanken, im Schloß elektrisches Licht legen zu lassen. Jetzt sollte
es eingerichtet werden.
Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Grobe Hand-
werkerstiefel begannen den Familienfrieden mit Füßen zu treten.
Aus den sonst so stillen Zimmern schallten allerlei Arbeitsgeräusche.
Echoweckend kam aus dem anderen Flügel des Hauses das melo-
dische Geräusch des Teppichklopfens. Neben Hans-Albrechts Studier-
stube fauchte ein Staubsauger. Hans-Albrecht selbst versuchte zu-
nächst durch energisches Einführen von Wattebäuschen in beide
Ohren die harten Gegensätze von einst und jetzt auszugleichen. Vor
ihm lag ein weißer Bogen, der die Aufschrift trug: „Alle Lust will
Ewigkeit". Hans-Albrechts Abhandlung, die er zu dieser Forderung
Nietzsches schreiben wollte, war noch nicht über die drei ersten Wörter
hinausgekommen. Sie lauteten: „Nach ruhigem Nachprüfen ..."
Weiter kam er nicht. Hilflos und verzweifelt zerfetzten seine
nervösen Finger ein Löschblatt nach dem anderen in tausend Stück-
chen. Zum ruhigen Nachprüfen fehlte ihm alles, was er brauchte
und suchte und liebte: Ruhe und Frieden. In mutloser Ermattung
ließ er die Arme sinken.
So traf ihn Onkel Heinrich. Er hatte einen Morgenritt auf einem
Pferd hinter sich, das ihm der Neffe zur Verfügung gestellt hatte
und das er unter Umständen kaufen wollte. Er sah frisch und ver-
jüngt aus. Seit er sich mit seinem Neffen ausgesprochen hatte,
lag für ihn kein Grund mehr vor, Tante Reppchen aus dem Wege
zu gehen. Daß auf Hans-Albrecht Verlaß war, wußte er. Der Neffe
hatte ja versprochen, ihn rechtzeitig zu benachrichtigen, wenn irgend
ein Umschwung eintrat, und der Junge war ehrlich.
„Ein netter Lärm bei euch!" meinte er und zog sich einen Stuhl,
von dem er vorher Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung"
zu Boden kippte, an den Schreibtisch heran. „Brauchst du das zur
Arbeit?"
Hans-Albrecht stöhnte auf. „Tante Reppchen tötet mich. Es
ist furchtbar, wie die Leute hier Hausen. Meinen sanften Vorstellungen
gegenüber ist sie taub. Sie sagt, was sein müsse, müsse sein."
„Solchen tiefgründigen Weisheiten kann man sich nicht ver-
schließen," erwiderte der Major. „Auch muß man Herr im Hause
sein, wenn man in die Jahre kommt. Ob dabei Junggeselle oder
Ehegatte, ist gleichgültig. Nun die Handwerker aber einmal mitten
in der Ärbeit sind, falle ihnen ja nicht in den Arm, sonst wird die

Plage endlos. Übrigens, was ich fragen wollte — du hast doch
Tante Reppchen nicht verraten, daß ich dich um deine Verwendung
bei der Lehrerinnenstelle bat?"
„Nein. Das hätte sie ja doch gegen die Bewerberin nur einge-
nommen, da ihr euch ja nicht immer versteht."
Der Major nickte. „Auf Annemaries Verschwiegenheit ist zu
rechnen. Ich darf sonach annehmen, daß Tante Reppchen auch
nicht weiß, daß die Kleine die Nichte ist?"
„Welche Kleine? Ja so! Du redest von deiner Hausdame — oder
darf ich sagen —"
„Bitte, laß es dabei! Tante Reppchen darf es auch nicht erfahren,
bis die junge Dame die Stelle angetreten hat. Ich möchte auf jeden
Fall vermeiden, daß auf Ursula auch nur der leiseste Verdacht der
Selbstsucht fallen könnte."
Hans-Albrecht verstand die Feinfühligkeit.
„Übrigens sah sie damals allerliebst aus," fuhr der Major fort
und buchstabierte kopfschüttelnd den Titel des Buches, das er wieder-
aufgehoben hatte. „Welt als Wille und Vorstellung . . . Scheint
ein ziemlich alter Schmöker zu sein."
„Von wem sprichst du, Onkel?"
„Von Ursulas Nichte. Sie wird nach den beendeten Osterferien
ihr neues Amt übernehmen. Wenn du ihr die Vorstellung bei Tante
Reppchen etwas erleichtern kannst, bin ich dir dankbar. Ursula kommt
morgen und bringt sic mit. Sie dürfte Sonntag hier ihre Aufwartung
machen."
„Was soll ich denn dabei tun?"
„Lediglich zugegen sein. Tante Regine wird gewiß alles mög-
liche fragen. Klarheit zu schaffen, ist lobenswert. Aber dann käme
heraus, was ich, wie du weißt, nicht wünsche."
Auch das fand der Neffe verständlich. Morgen werde also Fräu-
lein Kölsch ankommen? Und wie schon kürzlich, in Gegenwart des
Justizrats, fragte er auch heute, ob der Oheim nicht, dem Legat
zum Trotz, langgehegte Wünsche zur Tat machen wolle.
Onkel Heinrich schenkte dem Neffen längst volles Vertrauen
und gestand ehrlich, daß das, was er denke, natürlich auch an die
Reihe kommen werde. Nur daß — wie gesagt — seine Base Regine
unter keinen Umständen davon erfahren dürfe. Ganz bestimmt
'werde er mit endgültigen Entschließungen warten, bis Esther da-
gewesen sei. „Ich meine," schloß er, „man ist das gewissermaßen
dem Sinne des Testaments schuldig, daß man noch unverheiratet
dasteht, wenn sie uns besucht."
Das hörte sich allerdings anders an, als was der Oheim neulich
herausgepoltert hatte. Ach, auch Hans-Albrecht hatte den Oheim
jetzt so recht kennen gelernt und merke, daß unter der rauhen Schale,
die er so gern zeigte, ein goldener Kern steckte. Nicht die Eier nach
dem ausgesetzten Gelde würde sich zwischen sie stellen. Ruhe und
Frieden würden wieder einziehen in Buchtenhagen wie auf Grinde-
rode, und der unerwartete Besuch der reiselustigen Esther sollte
keinem von ihnen beiden mehr den Tag trüben und in der Nacht
den Schlummer rauben.
„Mir wird das nicht mehr widerfahren," versicherte Onkel Hein-
rich, dem er ähnliches sagte. „Wer um deine Ruhe bin ich recht be-
sorgt. Und da vergiß nur vor allem nicht, falls Tante Reppchen
hier noch weiter Mauern einreißt, daß du jederzeit bei uns herzlich
willkommen bist. Selbst wenn du deine vergilbten Schwarten mit-
bringst. Keine Menschenseele stört dich."
Hans-Albrecht dankte gerührt und begleitete den Oheim, der
einmal übers andere den Kopf schüttelte, durch die Zimmer, wo
rauhe Hände die Tapeten abrissen. Hans-Albrecht meinte, das alte
Papier schreie förmlich vor Schmerz. Der lange Korridor be-
herbergte die in Tücher gehüllten Möbel. Der Major stieß sich rechts
und links; für seine Wohlbeleibtheit war die schmale, Halbwegs
freie „Fahrtrinne" in der Mitte nicht berechnet.
Am anderen Ende des Flurs erschien Annemarie mit lachendem
Gesicht; für sie bot die angeordnete Palastrevolution unterhaltsame
Abwechslung. Sie lachte hellauf, als Hans-Albrecht bei einer schnellen
Wendung einen Eimer Kalk umriß. Die weißen Spritzer streiften
bis zu Onkel Heinrich.
„Gut, daß mein Gaul noch gesattelt ist!" sagte er. „Bei euch
ist mir's zu lebensgefährlich."
Da tauchte Tante Regines Kopf zwischen den beiden Oleander-
bäumen am Eingang auf, deren frisch gestrichene Kübel in den Landes-
farben strahlten.
„Bereit sein ist alles," sagte sie. „Wenn das Wetter anhält,
ist in drei Wochen alles prächtig hergerichtet. Es stellt sich immer
 
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