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602

DasBuchfüvAlle

Heft 26

mit zwei Stangen oben an der Stubendecke befestigt wurden, an
denen sie in der Nähe der Ofenbank in der Luft schwebten.
Wenn nur auch die „guten Beine zum Springen" erst dagewesen
wären. Damit war die Heiratserlaubnis vom gnädigen Herrn oder
seinem Stellvertreter gemeint, ohne die kein Mädchen den Hof ver-
lassen durfte. Leena wußte, daß Väterchen Stjepan Julewitsch,
nachdem er von Maila heimgeschickt worden war, sich an ihr schadlos
halten wollte. Sie fürchtete, mit ihm reden zu müssen, schützte des-
halb Krankheit vor und schickte ihren Vater an einem der nächsten
Tage in der Mittagstunde zum Verwalter. Jakuschkin, der stark
über den Durst getrunken hatte, saß in der Gerichtstube und kritzelte
in den Protokollen. Mit gebeugtem Rücken, die Mütze in der Hand
drehend, wartete Heikki, bis es Väterchen gefallen würde, ihn zu
bemerken.
Endlich blickte Stjepan Julewitsch auf, sah ihn mit drohenden
Blicken an und brummte: „Was willst du?"
Stotternd brachte der Alte sein Anliegen vor,- aber noch ehe er
ausgesprochen hatte, sprang Jakuschkin auf, schlug wütend ein paar-
mal auf den Tisch und schrie ihn an: „Sollich dir das Fell gerben lassen,
alter Esel? Muß man dir*s erst mit der Knute einbleuen, daß deine
Tochter selber kommen muß, wenn sie die Heiratserlaubnis haben will?
Ah! Ich weiß schon, was in euch gefahren ist. Der Ausreißer steckt
euch im Kopf! Aber ich will euch lehren, die Obrigkeit achten!"
„Ich weiß schon, Väterchen," entgegnete verschüchtert der Alte,
„ich weiß schon, daß meine Tochter selber kommen muß. Aber — die
Wassermutter, Väterchen, die Wassermutter hat es ihr angetan.
Sie hat — wenn du es gnädigst gestatten willst — das Fieber."
„Wenn sie das Fieber hat, kann sie auch nicht heiraten!" brüllte
Stjepan Julewitsch. „So dumm ist selbst kein estnischer Lümmel,
daß er sich eine Frau nimmt, wenn sie das Fieber hat. Sie wird
gesund werden. Dann mag sie kommen." Er setzte sich wieder in
den Gerichtstuhl und begann zu schreiben.
Unter vielen Verbeugungen schob sich der Alte nach der Tür.
Da er aber wußte, daß es zu Hause auch einen tüchtigen Strauß
geben würde, wenn er mit dieser Antwort heimkäme, begann er nach
einer Weile noch einmal: „Aber die Hochzeit, Väterchen! Am Sonntag,
wenn du es gestatten willst, am Sonntag soll doch die Hochzeit sein!"
„Bist du noch da, du Vieh?" brüllte der Verwalter, aufspringend
und nach der Knute greifend. „Ich werde dir beibringen, die Ohren
offen zu halten, wenn ich zu dir rede!" Damit zog er ihm ein paar
über und stieß ihn mit einem so gewaltigen Fußtritt zur Tür hinaus,
daß der alte Mann gegen einen der großen Schränke flog und mit
blutendem Kopfe auf der Diele liegen blieb.

iese Mißhandlung steigerte den Ingrimm der Leute aufs neue,
und es wäre diesmal in der Spinnstube gewiß zu offener Em-
pörung gekommen, wenn Stjepan Julewitsch nicht selbst rechtzeitig
erschienen wäre. Es war ihm nicht entgangen, daß in den scheuen
Blicken der Burschen jetzt zuweilen ein unheimliches Feuer aufloderte,
und daß ihm überall stiller Widerstand entgegengesetzt wurde, der
zunahm, je mehr er dagegen ankämpfte. Er hütete sich davor, sich
schon am Tage völlig zu betrinken, verrammelte des Nachts seine Tür,
ging nie aus, ohne in jede Tasche seines Kaftans eine geladene Pistole
zu stecken, und spionierte überall hinter den Leuten her.
So schlich er auch an diesem Abend vor den Fenstern der Spinn-
stube herum, als der rote Spatz eben damit prahlte, er hätte Väterchen
heute beinahe schon übel mitgespielt. Es sei nur der alte Dachs, der
Yrjö, dazugekommen und habe kurz vorher die Luke eingehakt.
Morgen solle er ihm aber ganz gewiß nicht in die Quere kommen;
er habe sich seiner: Plan schon zurechtgelegt.
Jakuschkin hörte die letzten Worte noch; aber er war nicht mehr-
nüchtern genug, um die Lage zu durchschauen. Nur seine Wut wurde
aufgestachelt; ohne zu wissen, was er tat, stürzte er in die Spinnstube,
packte den kleinen Schreier beim Kragen, warf ihn zu Boden und
bearbeitete ihn mit Fäusten und Füßen, bis er keinen Laut mehr von
sich gab.
Wäre in diesem Augenblick nur einer der Burschen mutig genug
gewesen, dem Gefährten beizuspringen, so wäre es für Jakuschkin
schlimm genug abgelaufen. Aber die Furcht vor ihm steckte den
Leuten noch zu tief in den Knochen. Sie wichen alle scheu zurück
und überließen den roten Spatz seinem Schicksal.
Erst am nächsten Morgen kam es Jakuschkin zum Bewußtsein,
in welcher Gefahr er geschwebt, und daß es schlimmer stand, als er
gefürchtet hatte. Er schickte deshalb eilends den alten Yrjö, auf den
er sich noch am meisten verlassen zu können glaubte, mit einem Briefe

in die Stadt und ließ darin den gnädigen Herrn ersuchen, sofort nach
seiner Ankunft in Reval nach Kostifer herauszukommen. Es war
Mitte September, die Ritterschaft mußte also demnächst zur Tagung
zusammentreten; bis dahin hoffte er die Leute noch im Zaum halten
zu können.
Er hütete sich, sie noch mehr zu reizen, hielt sich meist bei ver-
schlossenen Türen in der Gerichtstube auf und stellte auch Leena
nur im geheimen nach.
Aber gerade darauf hatte der rote Spatz, durch die Mißhandlung
in der Spinnstube noch giftiger gemacht, seinen Plan gebaut. Kaum
hatte der alte Yrjö den Hof verlassen, als er den Verwalter unter
einem Vorwand nach dem Strohboden lockte, nachdem er dafür ge-
sorgt hatte, daß Leena dort allein an einer Stelle arbeitete, die nur
wenige Schritte von der in die Gerätekammer hinunterführenden
Falltür entfernt war. Auf diesen Köder würde er schon gehen.
Während unten in der Gerätekammer der rote Spatz die Sensen
mit den Schneiden nach oben unter der nur mit einer dünnen Stange
gestützten Lukentür aufstellte, fragte Stjepan Julewitsch oben das
Mädchen: „Bist also wieder gesund, du?" seiner vom Branntwein noch
rauher gewordenen Stimme einen freundlichen Klang gebend.
„Ja," antwortete sie, ohne sich in ihrer Arbeit stören zu lassen.
„Dann kannst du nachher kommen und dir die Heiratserlaubnis von
mir holen. Hörst du nicht?" fuhr er nach einer Weile fort, als das
Mädchen beharrlich schwieg. „Wenn du nicht reden kannst, werde ich
dir den Mund schon aufmachen!" rief er, nach ihrer Schulter greifend.
Leena, die entschlossen war, mit der Hochzeit zu warten, bis der
gnädige Herr kam, von dem sie die Erlaubnis erbitten wollte, kehrte
ihm den Rücken.
Da stürzte er wütend auf sie zu. Das Mädchen drehte sich um
und stieß ihn so derb vor die Brust, daß er ein Stück weit zurücktaumelte.
Dabei geriet er auf die Lukentür. Die Tür gab nach, und im nächsten
Augenblick stürzte der schwere Körper hinunter in die Gerätekammer,
mitten hinein in die aufgerichteten Sensen.
Es war alles so schnell gegangen, daß Leena erst durch sein furcht-
bares Geschrei zum Bewußtsein kam, was geschehen war. Sie eilte
zur Luke und sah, wie der Verwalter, blutüberströmt, mit zerfetzten
Händen sich vergeblich mühte, seiner entsetzlichen Lage zu entrinnen.
Er war mit der einen Seite in eine aufrechtstehende Klinge gefallen,
und das scharfgeschliffene Eisen hatte sich so tief in das Fleisch gebohrt,
daß er nicht mehr davon loskommen konnte. Sie lief hinunter und
zog ihm die Klinge aus der weitklasfenden Wunde, während der rote
Spatz und einige andere Burschen grinsend in der Scheunentür standen,
um sich an Väterchens Qualen zu weiden.
Durch das rasende Geschrei herbeigelockt, kamen von allen Seitea
die Leute herbei. Bald war die ganze Riege voll von schadenfrohen
Gesichtern.
„Ei, Väterchen! Hältst du jetzt schon Schlachtfest, wo die Eicheln
kaum reif sind?" höhnten die einen.
„Du reitest aber ein mageres Pferd, Väterchen!" spotteten die
anderen. „Da wäre uns ja das Teufelsroß noch lieber und hat doch
wahrlich einen harten Trab."
Mitgefühl erweckte der entsetzliche Zustand des verhaßten
Peinigers, der über dem starken Blutverlust die Besinnung verloren
hatte, nur bei wenigen.
Endlich erbarmten sich ein paar ältere Männer. Sie schleppten
ihn für tot nach dem Verwalterhause auf sein Lager und überließen
ihn der alten Pekka, die ihm die Wunden besprach und verband und
die bösen Fiebergeister durch ihre Zaubermittel zu bannen suchte,
während draußen auf dem Hofe die Burschen johlten und tanzten.
Der rote Spatz war der Held des Tages. Piitri hatte ihn auf die
Schulter genommen, und von diesem Reitersitze aus ahmte er den
Verwalter nach, wetterte und fluchte und schlug mit einem Stroh-
seil unter die Bürschen wie Väterchen sonst mit der Knute,
„Wollt ihr die Mäuler halten, ihr estnischen Hunde! Ich will
euch lehren, einem freiherrlichen Eutsverwalter zu begegnen, der in
einem Tage mehr.Branntwein säuft als ihr in der ganzen Woche!"
rief er, und die Burschen jubelten ihm zu.
Plötzlich schrie einer dazwischen: „Ja, Branntwein! Wir wollen
uns Branntwein holen!"
Im nächsten Augenblick stürmten sie das Verwalterhaus und
erbrachen den Keller. Dort lag in großen Stückfässern die ganze
Jahresausbeute der mit dem Gut verbundenen Brennerei, viele
hundert Kannen Branntwein, die erst im Frühjahr im Hafen von
Reval verladen und nach Finnland und Schweden verkauft werden
sollten. —
 
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