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604

DasBuchfüvAlle

Heft 26

ls der alte Prjö am nächsten Tage mit der Nachricht von Reval
heimkam, der gnädige Herr werde im Laufe der folgenden Woche
im Ritterhause zur Tagung erwartet, fand er Väterchen in schwerem
Wundfieber und fast die gesamte übrige Bevölkerung des Gutes
im Rausch liegend. Denn die älteren Leute, die anfangs noch leidlich
vernünftig gewesen waren, hatten schließlich den Verlockungen der
unversiegbar scheinenden Branntweinquelle auch nicht widerstehen
können.
Man hatte einige Fässer auf den Hof gerollt, und vor diesen wälzte
sich nun in wüstem Durcheinander so ziemlich alles herum, was schon
oder noch Verstand genug hatte, Branntwein von Wasser zu unter-
scheiden: Männer und Weiber, jung und alt. Selbst die Hunde waren
betrunken, denn der ausgelaufene Branntwein stand in Pfützen auf
dem Hofe, und der Fuseldunst erfüllte die Luft bis vor das Tor.
Vater Yrjö ließ es sich zunächst mit großem Eifer angelegen sein,
seine Würde als Hofaufseher zu wahren und die Leute zur Ordnung
zu mahnen. Bald aber hatte auch ihn der Schnapsteufel ersaßt.
Noch ehe eine Stunde seit seiner Ankunft vergangen war, lag auch er
mit den anderen seelenvergnügt unter einem der Branntweinfässer.

er Herbst hatte jetzt auch die letzte Nachhut des Spätsommers
aus dem Lande vertrieben. Seit Tagen war die Sonne nicht
mehr zu sehen gewesen. Mehr und mehr kühlte die Luft sich aus,
während der Nordwind sie vom Meere her gleichzeitig mit eisiger,
alles durchdringender Feuchtigkeit erfüllte. So war es denn im
Moor von Tag zu Tag unwirtlicher geworden. Selbst die wetter-
festen Birkhühner siedelten an den Rand des großen Sumpfwaldes
über, wo frische Luft und offene Felder in der Nähe waren. Wölfe und
Füchse folgten ihnen, und der Bär richtete sich für den Winterschlaf ein.
Arwi suchte sich in seiner Hütte gegen die Angriffe des Winters
zu wappnen. Er bekleidete sie von außen mit einer noch dickeren
Moosschicht und von innen mit Fellen. Wenn dann noch die Schnee-
decke hinzukam, brauchten sie die Kälte nicht zu fürchten. Aber-
schlimmer als der Frost waren die Herbstnebel, gegen die es keinen
Schutz gab. Unerbittlich drangen sie mit ihrem giftigen Hauch durch
Moos und Pelz und förderten den Todeskeim in Mailas Brust.
Ihr Zustand verschlechterte sich zusehends. Ihre Züge wurden
spitz, ihre Lippen bleich, das Feuer in ihren Augen wich einem un-
heimlichen, kalten Glanze, und ihre Stimme wurde schwach und
heiser,- ihr Gemüt verdüsterte sich immer mehr.
Arwi sah dies Siechtum, aber in seiner frischen, kraftvollen Weise
dachte er nicht an das Schlimmste und hoffte darauf, daß der Winter
bald kommen würde. Mit dem ersten Frost verschwanden ja die
Nebel. Er hoffte, daß die Kranke in der reinen, gesunden Kälte bald
wieder genesen würde.
Maila verfiel mehr und mehr in Hoffnungslosigkeit. Sie über-
ließ sich bald völlig dumpfer Verzweiflung, in der sie fast ohne Auf-
hören Gebete und alte Sprüche murmelte oder sich in Selbstanklagen
erging, daß sie sich von Gott abgewendet und gegen die Obrigkeit
aufgelehnt habe. Die Anschauungen, in denen sie groß geworden
war, traten jetzt immer schroffer hervor, und sie klammerte sich mit
einer Hartnäckigkeit daran, gegen die Arwi machtlos blieb. Anfangs
kämpfte er dagegen an und versuchte, ihr alles auszureden. Das
reizte sie aber nur noch mehr, so daß er es vorzog, ihre Klagen schwei-
gend anzuhören und den Winter herbeizusehnen, der auch das wieder
bessern würde. Mit unendlicher Geduld pflegte er sie und ersann
immer neue Mittel, um sie zu trösten und aufzuheitern.
Die Hütte verließ Arwi nur noch selten, denn Maila fürchtete sich
immer mehr, allein zu bleiben. Wenn er nur ein paar Minuten hin-
ausging, um Wasser aus der Quelle zu holen, verfiel sie in qualvolle
Aufregung. Der Gedanke an das rothaarige Weib verfolgte sie; die
Befürchtung saß unausrottbar in ihr fest, daß die Fremde ihr Arwi
abspenstig machen wolle. Sie lebte in ewiger Angst, daß er sie
verlassen werde, denn sie fühlte, daß er, nachdem der erste Liebes-
rausch verflogen war, wieder anfing, sich mit seinen Freiheitsplänen
zu beschäftigen, und daß es ihm keine Ruhe ließ, untätig in der Hütte
zu sitzen, indes die beste Zeit zum Handeln ungenützt verstrich.
„Was meinst du, Maila," sagte er eines Tages, „wenn ich einmal
nach Kostifer ginge und nachsähe, wie die Dinge stehen? Die Tagung
muß bald sein, und dann muß ich doch nach Reval, so oder so."
Da hatte sie ihn mit hilfloser Verzweiflung angestarrt und war
schluchzend zusammengebrochen. Arwi vermied es seitdem, wieder
davon zu reden; er behielt seine Gedanken für sich, aber sie empfand
doch, was in ihm vorging, und verzehrte sich in tiefer Angst, daß er
doch eines Tages von ihr gehen würde.

Immer schwächer und elender wurde sie, und bald sah Arwi sin,
daß er sie hier im Moor nicht bis zum Frostwetter durchbringen würde.
Lange sann er darüber nach, einen anderen Zufluchtsort zu finden,
bis ihm eines Tages Kiwi einfiel. Er erwog den Gedanken, nach der
Höhle überzusiedeln. Sie war warm und nebelfrei. Dort würde
Maila wieder gesund werden. Eine Weile sträubte er sich mit aller-
hand Einwendungen gegen diesen Ausweg. Sich mit Räubern ein-
lassen, auch nur den Schlupfwinkel mit ihnen teilen, das schien ihm
unmöglich. Aber er kam immer wieder darauf zurück, stellte den
Einwänden viele Gründe gegenüber, die dafür sprachen, namentlich
den, daß es sich ja nicht um ihn, sondern um Maila handle, deren
Leben gerettet werden müsse; schließlich wurde er so ganz davon
eingenommen, daß es zur Ausführung nur noch eines äußeren An-
stoßes bedurfte.
Da fand er eines Morgens, als er von der Quelle zurückkam,
Maila totenbleich und blutüberströmt vor der Hütte im Moose liegend.
Als sie ihm in ihrer Herzensangst hatte nachlaufen wollen, hatte sie
ein Blutsturz überfallen. Sie war besinnungslos, das Herz schlug
aber noch. Er trug sie vorsichtig in die Hütte, hüllte sie in Pelze und
versuchte auf alle Weise, die noch leise glimmende Lebensflamme
wieder anzufachen.
Stunden vergingen, ehe die Kranke sich zu erholen, begann.
Endlich öffnete sie die Augen, sah ihn mit einem Blick voll unendlicher
Dankbarkeit an und flüsterte etwas, was er nicht verstehen konnte.
Er versuchte, ihr Nahrung einzuflößen. Sie nahm auch etwas, trank
in hastigen Zügen von den: frischen Quellwasser und versank dann in
tiefen, ruhigen Schlaf. Diesen Zustand beschloß Arwi zu benützen,
um, ohne daß sie etwas davon merkte, nach der Höhle zu eilen und
sich dort nach einem Platz für sie umzuschauen. In einer Stunde
konnte er am Jagowallschen Bache sein. Um die Festigkeit ihres
Schlummers zu prüfen, nahm er ihre Hand, trocknete ihr die Stirn
und gab ihr Wasser und Beerenwein zu trinken. Sie trank und
schlief ruhig weiter. Er wartete, bis der Mond aufgegangen war.
Sie schlief noch ebenso fest. Eindringlich sprach der Verfall ihrer
Züge zu ihm und ließ seinen Entschluß reifen. Hastig warf er
Büchse und Jagdtasche über die Schulter, verrammelte den Eingang
zur Hütte Und eilte fort.
Der Mond war mit einer dichten Dunstschicht umschleiert; ein
Zeichen, daß es bald Regen geben würde. So schnell das trügerische
Licht es erlaubte, sprang er von Baum zu Baum vorwärts. Ein
paar Wölfe zogen ihm nach. Dicht hinter sich hörte er ihr Knurren.
Er achtete nicht darauf. Er dachte nur daran, daß er nun bald den
Rand des Moores erreicht haben würde.
Endlich wurde es lichter. Noch wenige Sprünge, und in bläu-
lichem Dunst lag die offene Landschaft vor ihm, die er seit Wochen
nicht gesehen. Einen Augenblick blieb er stehen, blickte in der
Richtung nach Kostifer hinüber und dachte darüber nach, wie es dort
jetzt wohl aussehen möchte. Alte Wünsche regten sich wieder. Sie
durften ihn nicht locken. Maila mußte erst wieder gesund werden.
Er eilte weiter. Am Rande des Moores hin lief er zum Heiligen
Hain und dann querfeldein. Die frische freie Lust tat ihm wohl;
er fühlte, wie seine Kräfte wuchsen. Endlich hörte er das Rauschen des
Wasserfalls, und bald stand er dort, wo der Bach sich in die Tiefe wälzte.
In wenigen Sätzen sprang er an dem Hang hinab. Hier war das
kleine Tal, wo er zuerst mit Maila glücklich gewesen. Ein wunder-
bares Empfinden ergriff ihn; unwillkürlich blickte er hinein. Die
Birken waren jetzt kahl, und der Abendwind wehte ihm ein paar
welke Blätter entgegen. Aber ohne sich aufzuhalten, lief er weiter.
Dort, wo der Bach im Boden verschwand, stieg Arwi empor und sah
nun vor sich im Mondschein die weiße Kalksteinplatte aufleuchten, die
Kiwi ihm bezeichnet hatte.
m Hintergrund einer der großen Erdhöhlen des Jagowallschen
Baches hockte Pryska auf einem Bärenfell. Im Schein der ihr
zu Füßen brennenden Erlenscheite waren ihre bleichen Züge von
einer kräftigen Röte belebt, die den Glanz ihrer Augen noch er-
höhte und ihrem energischen Gesicht mit der scharfgeschnittenen Nase
und den in der Mitte zusammengewachsenen Brauen einen fremd-
artig unheimlichen Ausdruck verlieh. Starr blickte sie in die Flam-
men, ohne das Gespräch der sechs Männer zu beachten, die um das
Feuer herum auf Wolfs- und Bärenfellen am Boden lagen und die
Branntweinflasche herumgehen ließen. Sie sprachen über eine ver-
unglückte Unternehmung, bei der zwei Gefährten gefangen worden
waren, und die Stimmung war so gedrückt, daß selbst der Brannt-
wein sie nicht zu heben vermochte.
 
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