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Heft 26

DcisBuchsürAlle

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„Ich sage ja, wir kriegen nichts mehr fertig!" brummte ein
kleiner, dicker Bursche, der wegen seines aufgedunsenen, augen-
brauenlosen Gesichtes und seiner weißblonden, borstigen Haare
„das Schweinchen" genannt wurde. „Wir kriegen beim Kuckuck
nichts mehr fertig, seit sie aus dem langen Apolinarii einen Seil-
tänzer gemacht haben."
Der lange Apolinarii war der Stockknecht gewesen, der Pryska
damals zur Flucht verholten hatte. Seines Ansehens wegen, das er
als ehemalige Gerichtsperson genoß, hatte er eine Art Hauptmanns-
rolle in der Bande gespielt, bis er vor etwa einer Woche ergriffen
und gehenkt worden war. Nach der Meinung seiner Genossen hatte
er dieses Schicksal nicht ganz unfreiwillig erduldet; als eigentliche
Ursache seines Unglücks sahen sie die Verzweiflung an, daß Pryska
ihn um den verheißenen Liebeslohn betrogen habe.
Das Schweinchen begleitete seine Worte mit einem vorwurfs-
vollen Blick auf die Polin, und die anderen Männer folgten unwill-
kürlich diesem Beispiel. Im stillen waren sie alle in die hübsche
junge Gefährtin verliebt, was für den Frieden und die Sicherheit der
Gemeinschaft, in der sie das einzige weibliche Wesen war, verhängnis-
voll gewesen wäre, wem: Pryska einen von ihnen auch nur im ge-
ringsten bevorzugt Hütte. Aber sie war stolz und klug genug, sich in
vollkommener Unnahbarkeit über ihnen allen zu halten, und er-
reichte dadurch, daß alle ihr dienten und sie mit einer gewissen plumpen,
aber ehrfurchtsvollen Rücksicht behandelten.
Der Stoßseufzer des Schweinchens wurde mit zustimmendem
Gebrumnr beantwortet, worauf langes Schweigen folgte.
Endlich meinte einer, der von dem Gute Taps entlaufen war und
deshalb der Tapfer hieß, man müsse sich wieder nach einem tüchtigen
Kerl umsehen, der die Führung übernehmen könne, denn Gott habe
die Welt nun einmal so eingerichtet, daß jedes Tier einen Kopf haben
müsse.
Diese Äußerung rief lebhaften Widerspruch hervor. Es habe
ja doch feder seinen Kopf für sich, und wenn sie nicht freie Männer sein
sollten, so Hütten sie lieber Leibeigene bleiben und sich von den Ver-
waltern weiter schinden lassen können.
Da mischte sich auch Pryska ein. „Der Tapfer hat recht," sagte sie
mit ihrer scharfen, gebieterischen Stimme. „Es ist höchste Zeit, daß
ein Mann unter euch kommt, und wenn ihr nicht Tölpel wäret, hättet
ihr längst den, den ihr braucht, und kämpftet für eine große Sache,
statt bei Nacht und Nebel euer erbärmliches Handwerk zu treiben.
Wenn ich gewußt hätte, daß ihr so klägliche Schurken seid, wäre ich
damals ins Meer gesprungen, statt mich mit euch e-inzulassen."
„Haben wir dich nicht immer geschützt?" brummte einer von den
Männern. „Was verlangst du mehr?"
„Ich verlange keinen Schutz!" rief Pryska. „Ich verlange Rache
und Freiheit! Aber in diesem traurigen Lande ist nur einer, der
mich verstehen könnte. Ein einziger Mann unter einen: Volk von
verprügelten Hunden. Und der eine weiß, was er von euch Feig-
lingen zu halten hat, und geht seine eigenen Wege."
Keiner der Männer wagte zu widersprechen. Sie wußten alle,
daß Arwi gemeint war, den Pryska damals im Streit mit den:
Verwalter auf der Anhöhe gesehen hatte. Seitdem war fast kein
Tag vergangen, ohne daß die Polin sie nicht fortgetrieben hätte, ihn
zu suchen. Aber es lag ihnen nicht allzuviel daran, ihn zu finden.
Selbst Kiwi, der im Anfang mit so viel Begeisterung von seinem
Retter gesprochen, wollte nichts von ihm wissen, nachdem durch
Pryskas fortwährendes Drängen die Eifersucht in ihm aufgestachelt
worden war. „Ihm wird sie sich an den Hals werfen," dachte er,
„und wir anderen können uns das Maul wischen." Trotzdem wagte
er nicht, das offen auszusprechen, und wenn die Polin befahl, ge-
horchte er ebenso wie die anderen. Auch jetzt sagte er nichts, und
schweigend hockten die Männer am Feuer, bis einer die Balalaika
zur Hand nahm und darauf zu klimpern und schließlich auch zu singen
anfing.
Plötzlich klangen von oben her dumpfe Geräusche. Aber ihnen
ging ein Mensch. Man konnte jeden Schritt durch die dünne Fels-
wand hören. Der Sänger verstummte, und alle blickten mit an-
gehaltenem Atem nach oben. Das war noch nicht vorgekommen, seit
sie in der Höhle hausten. In diese verlassene Gegend, wo nichts
wuchs und nichts zu holen war, kam sonst niemand. So sicher sich
die Burschen in diesem Schlupfwinkel bisher gefühlt hatten, jetzt
verloren sie alle den Kopf. Mit bleichen Gesichtern sprangen sie auf,
um so schnell als möglich in die Felsspalten zu entkommen, die rechts
und links nach anderen Höhlen führten. Jeder wollte der erste sein,
und es entstand ein wüstes Drängen um die besten Stellen.
XXVI. 1018.

„Hier war ich zuerst! Hier kommt keiner mehr >rein!" fauchte das
Schweinchen, sich in einen engen Felsgang hineinzwängend.
„Machh daß du vorwärts kommst, oder ich trete dich zu Brei, du
fette Wanze!" antwortete eine rauhe Stimme.
An einer anderen Stelle war der Tapfer mit einem Gefährten
aneinandergeraten, und eine Weile hallte die Höhle von Schimpf-
reden wider, bis jeder einen Ort gefunden hatte, an dem er sich ge-
borgen glaubte.
Mit Verachtung blickte Pryska auf das klägliche Treiben. Sie
schämte sich dieser Gesellschaft, und einen Augenblick dachte sie wie
schon so oft daran, ob es nicht das beste wäre, dem Treiben ein Ende
zu machen. Aber der Wunsch nach Rache in ihrer unversöhnlichen
wilden Natur war stärker. Entschlossen machte sie sich daran, das
Feuer zu verlöschen, das sie leicht hätte verraten können.
Eben war sie dabei, die glimmenden Scheite mit Erde zu bedecken,
als in gleichmäßigen Zwischenräumen drei Schläge hörbar wurden,
als ob jemand mit einem schweren Gegenstände auf die Felsplatte
klopfte. In freudiger Überraschung hielt sie inne und rief nach Kiwi.
„Was willst du?" flüsterte nach einer Weile der Bursche, der auch
aufmerksam geworden war, aber es doch vorzog, in seinem Versteck
zu bleiben.
„Was für ein Zeichen hast du mit ihm verabredet?"
„Drei Schläge mit der Büchse auf den Stein."
„So ist er^s! Geh hinauf und führe ihn."
„Mag schon sein, daß er>s ist. Aber ich traue ihm nicht. Es ist
eine kitzliche Sache um das Gehenktwerden."
„Feiger Schurke!" rief die Polin. „Ich werde selbst gehen."
Sie hängte sich ein Fell um die Schultern, ergriff einen Kienspan,
der über ihr im Gestein steckte, und entzündete ihn am Feuer, das
jetzt wieder hell aufloderte, nachdem sie die aufgeworfene Erde zurück-
geschoben hatte.
Kiwi fing an, sich vor ihr zu schämen, und kam zögernd hervor.
Aber als er ihr die Fackel aus der Hand nehmen wollte, stieß sie ihn
mit verächtlichen Blicken zurück und schritt dem Ausgang der Höhle zu.

S)<rwi war nicht wenig erstaunt, statt Kiwi, den er erwartet hatte,
^^ein Weib aus dem Gebüsch treten zu sehen. Ohne seine ver-
wunderten Blicke zu beachten, forderte sie ihn auf, ihr zu folgen.
Der Klang ihrer Stimme hatte etwas seltsam Aufregendes, das
ihm noch lange in der Erinnerung blieb. Er betrat das Buschwerk
und sah, wie sie in eine dahinter verborgene Erdspalte hinabstieg.
Das Mondlicht fiel grell auf das weiße Kalkgestein, und Arwi
bemerkte mit Bewunderung die große, .stolze Gestalt des vor ihm
schreitenden Weibes. Die Erdspalte zog sich eine ganze Strecke weit
hin und war hinten dicht mit Gestrüpp bewachsen. Dann rückten
oben die Steinschichten eng und enger zusammen. Es blieb nur eine
handbreite Spalte, durch die ein Streifen Mondlicht auf das rote
Haar des Weibes fiel. Dann wuchsen die Felsen vollends zusammen.
Bald wurde es so finster, daß er seine Führerin nicht mehr zu er-
kennen vermochte. Aber das Rauschen ihres verwitterten Stadt-
kleides vernahm er und tappte sich im Dunkeln weiter.
Plötzlich fühlte er eine weiche Hand auf der seinen. Sie war kalt
und feucht, so daß ihm ein Schauer über den Rücken lief. Gleichzeitig
hörte er wieder die eindringliche Stimme: „Warte hier."
Seine Hand wurde losgelassen, und an dem Geräusch erkannte er,
daß die Fremde vorsichtig in dem engen Gange weiterschritt. Er
hatte sie fragen wollen, wo Kiwi sei, und ob sie bald an: Ziele wären.
Aber über etwas Geheimnisvollem, das in ihm vor ging, unterließ
er es.
Im nächsten Augenblick wurde es hell. Blinzelnd schaute er vor
sich und sah, daß Kiwi mit einem brennenden Kienspan auf ihn
zukam.
„Bist du endlich da?" flüsterte der Bursche mit unverschämtem
Grinsen. „Hast lange genug auf dich warten lassen. Wir dachten
schon, du erinnertest dich deiner Freunde nicht mehr. Aber komm nur,
einen tüchtigen Kerl können wir immer brauchen."
„Kiwi," rief Arwi, von der plumpen Vertraulichkeit beleidigt,
„ehe wir weiter miteinander reden, sollst du wissen, daß ich noch
immer der Arwi von Kostifer bin und daß ich mit euch nichts zu
schaffen haben will. Maila ist krank. Sie muß aus dem Moor.
Habt' ihr einen Platz hier für sie?"
„Platz für hundert!" prahlte der Bursche, ohne auf Arwis Zurück-
weisung zu achten. „Das ganze Revaler Spital könnten wir unter-
bringen, und ich glaube, die Kranken würden es nicht schlechter haben,
 
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