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DasBuchfüvAlle

Heft 27

642

„Pünktlich zur Minute!" Serrurier winkte. Der Kellner hatte
gerade noch Zeit, mit einem gewandten Satz hinter den Schenktisch
zu eilen. Dann sprang er eilfertig hinzu und ritz die Tür auf.
„Auf Wiedersehen, mein Herr!" Er machte eine Verbeugung mit
fliegender Serviette, um die ihn der Zimmerkellner aus dem „Königs-
hof", der braungelockte Herr Eduard Molle, Fritz genannt, beneidet
hätte.
Dann überzeugte er sich, datz Serrurier eine Droschke bestieg.
Als er ins Zimmer zu Aristide Schepen zurückkehrte, fand er ihn in
begreiflicher Aufregung hin und her gehend, und es vergingen Mi-
nuten, bis er sich wieder beruhigte.
„Das vergesse ich mein Lebtag nicht!" stöhnte er, während er
sich mit dem Taschentuch den Schweitz von der Stirne wischte. „Ich
bin ganz erschöpft. So ein Schuft! So ein Spitzbube! Die ganze
Nacht werde ich kein Auge zutun. Haben Sie schon so etwas erlebt,
Herr Recking?"
Der Detektiv hatte die Kellnerschürze abgelegt. „Bringen Sie
eine Flasche Champagner," sagte er dem neugierig nähertretenden
Wirt. „Das wird Ihre Lebensgeister erfrischen, lieber Herr Schepen.
Jetzt wollen wir's uns gemütlich machen. Ob ich so was schon erlebt
habe, fragen Sie? Meine Hochachtung. Sie spielten Ihre Rolle mit
einer Natürlichkeit, die manche schauspielerische Glanzleistung eines
alten Praktikers in den Schatten stellt."
„Ist das Ihr Ernst?" Schepen richtete den Kopf empor.
„Meine Hand darauf! Ihre Fragen vor allem waren so geschickt,
datz Sie mir zeitraubende Stunden gespart haben. Und was das
Allerwichtigste ist: jetzt soll uns der Kerl nicht mehr entrinnen. Seiner
Sünden Matz ist gerüttelt voll."
„Aber morgen ... wissen Sie," erklärte Aristide Schepen, „wenn
Sie mich morgen aus dem Spiel lassen wollten, würden Sie mir
wahrhaftig einen großen Gefallen tun; nehmen Sie es mir nicht
übel."
„Gewitz nicht. Ich will es Ihnen versprechen. Was ich mit
Ihrer Hilfe zu erzielen hoffte, glückte wider Erwarten. Die noch
übrig bleibende, traurige Arbeit soll ohne Sie zu Ende geführt werden.
Haben Sie für den Rest des heutigen Abends noch etwas vor?"
Als der Bankbeamte verneinte, rief Ralf Recking den „Hof von
Flandern" an und bat, Mijnheer van Jercken und sein Kollege Martin
möchten ihm und Aristide Schepen noch bei einem Glase Wein in
der „Forelle" Gesellschaft leisten. Die beiden Herren versprachen,
sich sofort auf den Weg zu machen.
„Ist das Wild im Garn?" fragte der Brüsseler Detektiv. „Schon
hinter schwedischen Gardinen? Sollen wir den Sieg feiern?"
„Sie vergessen, datz ich Sie bat, Sie möchten sich für morgen für
mich frei halten. Dabei bleibt es. Ich bitte Sie nur zum Kriegsrat."
„Um so besser!" Ralf Recking glaubte förmlich zu hören, wie sein
Kollege aufatmete. Der Mann brannte darauf, mehr zu spielen als
den mützigen Zuschauer. _
s war um die Mittagstunde des folgenden Tages, und der
Köln-Aachener Schnellzug mutzte in wenigen Minuten einfahren,
als Ralf Recking auf dem Bahnsteig des Brüsseler Nordbahnhofs
wartend auf und ab ging.
Die letzte Nacht und der vergangene Morgen hatten ihn nicht
mützig gesehen. Wenn er gestern davon gesprochen hatte, datz ein
Kriegsrat gehalten werden sollte, so war das nicht zu viel gesagt.
Die Stunden waren genützt, um die letzten Maschen des Netzes eng
zusammenzuziehen, dem ein Schuldbeladener bisher auf fast wunder-
bare Weise entgangen war, zusammengezogen um den Schlupfwinkel,
der durch eine unvorsichtig genannte Fernsprechnummer zu finden
sein mutzte. Gleich nach dem Zusammensein mit Mijnheer van
Jercken und seinen beiden anderen Helfern hatte Ralf Recking das
einsame Landhaus im Vorort Laeken aufgesucht, in dem Serrurier
als Franyois Soule mit „Frau und Kind" eine möblierte Wohnung
bezogen hatte. Sie war von Geheimpolizisten umstellt für den Fall,
datz dieser Soule im letzten Augenblick seine Abreise von Brüssel auf
einer: früheren Zeitpunkt zu verlegen für gut befinden sollte.
Ernstlich rechnete der Detektiv indes nicht mehr mit dieser Mög-
lichkeit. Dieser Soulö, der nachgerade mehr Namen hatte als die
Zwiebel Häute, glaubte sich sicher. Der falsche Bart war die letzte
Vorsichtsmaßnahme des Mannes gewesen, der durch das bisherige
Gelingen seiner Pläne mit keinem Fehlschlag mehr zu rechnen schien,
der sogar schon wieder die Fäden zu neuen Unternehmungen geschickt
zu fügen gewußt hatte. Selten war das Matz eines schlauen Ver-
brechers voller gewesen, und Ralf Recking glaubte, mehr als bloßen

Zufall darin erkennen zu dürfen, daß es ihm vorbehalten war, den
Unseligen endlich unschädlich zu machen.
Die Räder des einfahrenden Schnellzuges rollten noch, als der
Blick des Detektivs schon alle Fenster und Abteiltüren abspürte. Der
Mann, den er erwartete, kam mit diesem Zuge nicht an; aber er ent-
deckte ein anderes bekanntes Gesicht. Im nächsten Augenblick stand
er, den Hut schwenkend, vor einer jungen Dame: „Fräulein Hempel!
Seien Sie willkommen! Und allein, wie ich sehe?"
„Ja! Herr Bahr erkrankte durch die Aufregungen der letzten
Woche ernstlich, und der Arzt erklärte, datz er die Reise nicht machen
dürfe, zumal ja alles in Ihren Händen gut aufgehoben sei. Aber
Herr Bahr fühlte sich doch sehr beruhigt, als ich mich erbot, ihn zu
vertreten. Ich bin sehr froh, datz ich Sie gleich am Bahnhof finde,
das dürfen Sie mir glauben."
Der Detektiv winkte eine Droschke heran und setzte sich an ihre
linke Seite. „Und ich bin Ihnen dankbar, datz Sie die weite Fahrt
nicht gescheut haben. Nun braucht der Knabe nicht erst fremden
Händen übergeben zu werden."
„Er ist wirklich hier?" Es klang wie ein Aufjubeln, und Ralf
Recking freute sich über ihr hübsches Gesicht in seiner lebhaften Röte.
Und abermals empfand er es als ein überaus seltenes Glück, datz
dies schöne, gemütvolle Mädchen dem unglücklichen Vater des ge-
raubten Knaben wie ein Geschenk des Himmels ins Haus gesandt
worden sei. Der Knabe würde gewitz noch viel durchmachen müssen,
aber er konnte nun nicht mehr zugrunde gehen, so lange Fräulein
Hempel ihn betreute. Sie war offenbar liebend um ihn besorgt, und
das Kind stand ihrem Herzen näher als dem seiner eigenen Mutter.
„Ich finde Jörg hier?" wiederholte sie. „Und er lebt? Er ist
gesund?"
„Das nehme ich an. Ich sah ihn noch nicht."
„Lassen Sie uns eilen. Ich — wir sind auf alles gefaßt. Als
wir Brüssel als Aufgabeort auf Ihren: gestrigen Telegramm lasen,
öffneten sich uns die Augen. Es sind Verwandte oder Bekannte
von Herrn Bahrs verstorbener Gattin, die die Entführung ins Werk
setzten, nicht wahr? Es ist den Leuten um eine Erpressung zu tun?"
„Nein, so liegen die Dinge nicht."
„Handelt es sich um einen Akt der Rache? Vielleicht hatte Herr
Bahr Feinde in Brüssel zurückgelassen; wie soll ich sagen? Vielleicht
konnte es jemand Herrn Bahr nie verzeihen, datz er ihm die Freundin
wegheiratete, und der es sich zur Aufgabe setzte, das Lebensglück des
schwer genug geprüften Mannes endgültig zu zerstören?"
„Grübeln Sie nicht. In einer Stunde werden Sie alles wissen."
„Und wohin führen Sie mich jetzt? Nicht zu dem Entführer Jörgs?"
„In den ,Hof von Flandern', liebes Fräulein, wo ich mich mit
guten Freunden treffe."
„Kann der schlechte Mensch nicht während dieser Zeit entkommen?"
„Schwerlich! Er müßte denn auf einem Besen durch den Schorn-
stein in die Hölle fahren. Sie dürfen beruhigt sein. Seit gestern abend
ist der Mann — der übrigens außer der Mitschuld an der Entführung
des Knaben noch ein stattliches Sündenregister hat und tief im
Schuldbuch ungesühnter Verbrechen steht —, ohne datz er es ahnt,
von jedem unbeobachteten Verkehr mit der Außenwelt abgeschnitten.
Das Landhaus ist umstellt, und die Fernsprechzentrale überwacht
jedes Wort, das von dort aus gesprochen werden könnte. Wer es auch
sein mag, der das umstellte Haus verlassen will, wird auf Schritt und
Tritt verfolgt."
„Und warum haben Sie, wenn der Fuchs im Bau ist, noch nicht
zugegriffen?"
„Weil wir planmäßig zu Werke gehen. Der Hauptangriff ist auf
Punkt zwei Uhr festgesetzt. Übrigens haben uns die Ferngespräche,
die heute vormittag belauscht werden konnten, sehr wertvolle Finger-
zeige gegeben. Wir wissen, datz die Abreise des gesuchten Paares —
denn es handelt sich außer um den Verbrecher noch um eine Frau —
erst für die Abendstunde geplant ist. Wir erfuhren das schon von
anderer Seite, erhielten aber die genaue Zeit durch eine Droschken-
bestellung bestätigt. Ohne eine glückliche Verkettung von Zufällen,
wobei mir die Freunde, die ich Ihnen gleich vorstellen werde, tat-
kräftig halfen, hätten wir von heute nacht an die Spur des kleinen
Jörg in Paris suchen müssen."
„In Paris?" Fräulein Hempel schlug die Hände zusammen.
„Kamen denn die Entführer aus Paris nach Berlin? Der arme
Jörg! Welchem Geschick wäre er da entgegengegangen!"
„In Paris wohnt das verbrecherische Paar. Datz die Rückreise
über Brüssel erfolgte, hat seinen Grund darin, datz der Schuft hier,
wie wir aus Telephongesprächen errieten, Helfershelfer für unlautere
 
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