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Heft 28

665


„^>st es nrcht furchtbar, daß Jörg die Frau dieses Serrurier für
seine Muiter hält? Ich kann es ihm nicht ausreden und weiß gar
nicht, was ich ihm antworten soll."
„Gnädiges Fräulein," die Stimme Reckings sank zum Flüsterton
— „wenn es Wahrheit wäre ..."
Fräulein Hempel zitterte. „Dann ist das Unfaßbare doch wahr.
Heinrich Bahrs Frau wäre nicht umgekommen?"
„Sie sagen es," gab er leise zurück. „Sie war die Begleiterin
Serruriers. Erschrecken Sie nicht: Eugenie Bahr lebt nicht mehr."
LTurz schilderte er dem tpdblassen Fräulein, was vor einer Stunde
in dem Laekener Landhause geschehen war.
Er schloß seine so schonend wie möglich ausgesprochenen Auf-
klärungen: „Fürchten Sie nicht, ich wollte Ihnen zumuten, diese
traurigen Geschehnisse Herrn Bahr berichten zu müssen. Ich werde
Sie begleiten. Zwar führt mich noch ein Weg ins Polizeispital,
aber damit ist alles getan. Was weiter noch geschehen muß, geht
durch andere Hände. Ich schlage Ihnen vor, wir belegen Schlaf-
plätze in dem um acht Uhr Brüssel verlassenden Durchgangszug."
Es klopfte, und der Zimmerkellner bestellte, Herr Recking werde
an den Fernsprecher gebeten.
Man rief ihn ins Spital. Mijnheer van Jercken begleitete ihn.
Sie fanden Arzte und Untersuchungsrichter am Bett Serruriers.
Es war eine unverkennbare Wendung zum Schlimmsten eingetreten.
Jean Serrurier hatte die Schuld an der Katastrophe der „Thetis"
nicht zugegeben. Er lag in traumartiger Betäubung und ließ sich
nur mit größter Mühe zu kurzen Unterredungen erwecken.
„Erleichtern Sie Ihr Gewissen," redete ihm der Untersuchungs-
richter eindringlich zu. „Ihre Verletzung ist schwer. Sie werden
bald vor dem Throne des gerechten, ewigen Richters stehen."
Der Kranke stöhnte. „Retten Sie mich! Ich gestehe ... ich bin
schuldig . . . helfen Sie mir ..."
Er starb unter den Händen des Arztes.
Schweigend verließ Mijnheer van Jercken mit Ralf Recking das
Haus. Auf der Straße atmete der Holländer auf.
„So ist dem Lauf der Gerechtigkeit ein Ziel gesetzt," sagte er.
„Wäre es zu einer Verhandlung gekommen, so wäre ein tiefes Er-
schrecken durch die Welt gegangen. Das ist uns nun erspart."
„Und die über der Wahrheit schwebenden Zweifel?" fragte Ralf
Recking. „Es wird sich nun manches nie völlig aufklären lassen."
„Sie haben mir alle Zweifel zerstreut, und wir hörten ja das

Geständnis des Sterbenden. Damit ist, wenn auch anders, als ich
dachte, der Zweck meiner Reise erfüllt."
„Auch meine Arbeit ist getan. Ich reise mit dem Abendzug."
„Grüßen Sie Ihre schöne Heimat!" sagte der Holländer. „Mögen
Sie in der Ausübung Ihres Berufs, den ich bewundern gelernt habe,
allezeit glücklich sein. Bleiben Sie der frohgemute Kämpfer. Nicht
jeder hat Zeit und Gelegenheit, die Früchte seines Berufes so zu kosten."
Und um Mijnheer van Jerckens Mundwinkel schwebte das verlorene
Lächeln des Verzichtens. „Unsereins erkennt nachträglich von der bunten
Herrlichkeit nur die Zahlen und Daten. Sie erleben die feinen Er-
regungen und die großen Stürme. Ich werde oft an Sie denken,
wenn ich ,de Boompjes' entlang gehe oder zum Kontor fahre."
Noch ein herzliches Händeschütteln, und die Herren trennten sich.
Ralf Recking holte Fräulein Hempel und Jörg Bahr ab zur Heimfahrt.
Als er ihr die Fahrkarten gab, sagte er: „Ich hätte beinahe ver-
gessen, den Brief zu lesen, den Sie mir von Kommerzienrat Lürsen
mitbrachten. Aber die Vergeßlichkeit ist entschuldbar. Dieser Brief
wird nichts sein als ein Notschrei, wo ich bleibe, oder die Frage, ob ich
meinen Auftrag von Lürsen L Doller vergessen habe."
Er überflogene Zeilen und lächelte. „Kommen Sie so schnell
wie möglich zu mir," schrieb Friedrich Lürsen. „Der kriegerische
Oberstleutnant v. Mößlacher kam gestern abend wieder nach Berlin
und kündigte mir seinen Besuch an. Diesmal richtet sein Zorn sich
nicht gegen den Dänen Jens Lyhne allein, sondern auch gegen Sie,
verehrter Herr Recking. Er will wissen, wie Sie dazu kamen, seinen
Graveur wegen eines Spazierstockes mit silberner Krücke zu ver-
hören. Und dann? Wo stecken Sie zurzeit? Ich gebe zu, daß Ihnen
die väterlichen Sorgen unseres lieben Heinrich Bahr vorgechen
müssen. Aber lassen Sie uns recht bald wissen, ob Sie auch in unserem
Falle ,Graf Gothenü noch etwas zu erreichen hoffen. Ich muß
mich sonst entschließen, auf eine soeben von Ihrem Kollegen Lyhne
eingegangene Depesche zu antworten. Er kabelt: ,Totsichere Spur.
Schicken Sie umgehend Vorschuß dreitausend? Was raten Sie mir?"
„Da muß ich wahrhaftig schnell noch ein Telegramm an Friedrich
Lürsen aufgeben," sagte der Detektiv lachend. „Sie entschuldigen
mich eine Minute, verehrtes Fräulein ..."
Und er ging in das Bahntelegraphenbüro und drahtete: „Fall
Graf Gothem erledigt. Behalten Sie die dreitausend und nehmen
Sie die fünfunddreißigtausend, die ich mitbringe, dazu. Auf Wieder-
sehen — Ralf Recking."

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/x Gottesdienst in der Ukraine (S. 656). — Durch den Zusammenbruch
der Zarenherrschaft ist auch die russische Kirche aus versteinernder Abhängig-
keit befreit. Seit Jahrhunderten wurden alle belebenden Einflüsse, die von
den Schwesterkirchen im westlichen Europa aurgiugen, gewaltsam unterdrückt,
die Priesterschaft absichtlich auf geistig und wirtschaftlich niedriger Stufe ge-
halten. Orthodoxe Rechtgläubigkeit wurde zur strengsten Staatspflicht ge-
macht, war aber nichts anderes als sklavische Unterwerfung unter den Büro-
kratismus des „allerheiligsten" Synod. So erstarrte der Gottesdienst in leb-
losen Formen; endlose Zeremonien, prunkend aber unverstanden, machen
sein Wesen aus. Stets hat der Russe ängstlich auf Innehaltung der zahl-
losen Vorschriften, der Fest- und der Fasttage geachtet, aber die gottesdienst-
lichen Handlungen — die Predigt spielt nur eine ganz untergeordnete Rolle —
ließen Geist und Gemüt darben. Daß trotzdem echtes religiöses Bedürfnis
nicht erstickt ist, spricht für die Innerlichkeit besonders auch der Ukrainer. Oft.
genug hat sie sich in wunderlichen Bildungen mystischer Sekten einen — wenn
auch leider irreführenden Ausweg gesucht. Jetzt erhebt nun inmitten der
Verwüstung, die Krieg und Revolution hinterlassen haben, das Verlangen
nach Erneuerung der Religion und der Kirche seine Stimme. Nach jahr-
hundertelanger Unterdrückung wurde 1917 zum erstenmal wieder ein russisches
Konzil einberufen, und 1918 hat die zweite Tagung einen Ausschuß eingesetzt,
der über Maßnahmen zur Wiedervereinigung aller christlichen Kirchen beraten
soll. Was diesem Versuch beschieden sein wird, ist freilich in den Wirren der
Gegenwart nicht vorauszusehen.
s General v. Lettow-Vorbecks Truppen in Portugiesisch-Gstafrika
(S. 658/59). — „Fern von der Heimat hält eine kleine heldenmütige Schar
unserer Schutztruppe erdrückender Übermacht tapfer stand"; mit diesen Worten
gedachte der Deutsche Kaiser in seinem Aufruf zu Beginn des fünften Kriegs-
jahres der Truppe des Generals v. Lettow-Vordeck. Es ist fürwahr eine helden-
mütige Schar, , die sich vier Jahre lang, Hunderte von Meilen von der Heimat
entfernt, in der afrikanischen Wildnis gegen, einen wohlausgerüsteten und
wohlverpflegten übermächtigen Feind behauptete. Fünfhundert Kilometer
tief ist das kleine Häuflein in portugiesisches Gebiet eingedrungen, und immer
noch zeigt es die Kraft des Angriffs, so gar nicht an das Bild des gehetzten, er-
matteten Wildes erinnernd, wie es die Gegner so gern ihren Völkern zeigen.

Am 3. August 1918 muß die portugiesische Zeitung „Seculo" berichten, daß
bei einem Gefecht allein zwanzig portugiesische Offiziere von Lettow-Vorbeck
gefangen wurden; die Gesamteinbuße verschweigt vorsichtig das Blatt. Am
31. August griff, nach dem amtlichen englischer: Bericht, die Heldenschar die
britischen Truppen bei Lioma an. „Die Verfolgung wird scharf fortgesetzt",
schließt die Meldung. Es ist vermessen, zu glauben, daß die kleine Truppe
nicht schließlich doch das Schicksal ereilt; einmal wird die vielfache Übermacht
doch den „Sieg" über das Häuflein erringen. Aber das heroische Aushalten
wird nicht vergebens gewesen sein; das Lied von der deutschen Manneskraft
und Treue wird in den Eingeborenendörfern erklingen und seine Wirkung tun.
„Kolonisieren heißt Missionieren. Diejenigen Staaten, die nach diesem Grund-
satz vor dem Kriege zu handeln bestrebt waren, die die Menschheit auch in den
Farbigen achteten, diese Nationen haben das moralische Recht erworben,
Kolonialmacht zu sein. Dieses Recht hatte sich Deutschland vor dem Kriege
erworben." Dieses Glaubensbekenntnis des Staatssekretärs des Reichs-
kolonialamtes vr. Solf wird die aufrichtige, ehrliche Menschheit rückhaltlos
unterschreiben.
1- Her Kampf um die Mauer (S. 661). — Es ist noch gar nicht lange her,
daß viele militärische Kreise der Ansicht waren, die Zeit der „blanken Waffe"
sei bei den jetzigen Schlachtbedingungen vorüber. Es ist anders gekommen;
der Nahkampf spielt auch heute wieder eine große Rolle. So blutig aber auch
der Kampf um einen neuzeitlichen Schützengraben ist, er reicht, glücklicherweise,
nicht an die Grauenhaftigkeit heran, die in früheren Jahrhunderten stets einen
Sturm auf die Mauern einer befestigten' Stadt begleitete. Wohl fehlte den
Kämpfern damals noch die Feuerwaffe, aber um so reichhaltiger waren die
anderen Mordwaffen. War es dem Feinde gar gelungen, auf Sturmleitern
bis zur Mauerkrone emporzudringen, dann begann ein entsetzliches Morden,
an dem sich öfters die Frauen der bedrohten Stadt beteiligten, indem sie
siedendes Pech und Sl und schwere Steine auf die Angreifer schleuderten.
Die Verzweiflung gab ihnen häufig Riesenkräfte, wußten sie doch, daß der
Gegner nach der Eroberung kein Erbarmen kannte; er machte keinen Unterschied
zwischen Kämpfern und Nichtkämpfern. Wir sind so stolz auf den Fortschritt
der Kultur, der die Bürger vor des Gegners Mordstahl sichert — wo finden
wir ihn .aber bei den feindlichen Fliegerangriffen auf friedliche deutsche Städte?
 
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