I. Kirchliche Gebäude.
A. Stiftskirchen.
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Charakteristisch für dieses Bauwerk ist, dass sich bei ihm ganz ungewöhnlich
viel Abweichungen von dem finden, was sonst als Grundregel für die altdeutsche
Baukunst angesehen wird. Dahin gehört namentlich, dass die Längenachse eine
gebrochene Linie bildet, dass die Umfassungsmauern des Schiffs nicht parallel
laufen, dass die Länge des Chors der des Langschiffs beinahe gleich kommt, seine
Breite die des Mittelschiffs übertrifft und die Breite des letzteren hinter der der
Seitenschiffe zurückbleibt, endlich dass sich zwischen dem Chore und dem Quer-
schiffe ein breiter Mittelbau mit einem sie verbindenden Gange findet, Avie er in
gleicher Ausdehnung wohl kaum noch bei einer anderen romanischen oder gothischen
Kirche getroffen werden möchte. Diese Abweichungen von den Regeln der Kunst
werden durch die Beschaffenheit des Platzes, auf dem die Kirche steht und der
zu einer künstlichen Vergrösserung nöthigte, und durch das sich mehr und mehr
steigernde Raumbedürfniss, Avelches sich bei den verschiedenen Umbauten geltend
machte, mehr erklärt als gerechtfertigt.
Das Material, aus dem die Kirche gebaut worden, ist überwiegend ein vor-
zügliches, behauener Seeberger Sandstein, der insbesondere die gute Eigenschaft
besitzt, dass er je älter um so fester wird.
Die C a v a t e.
Die vorgedachte künstliche Erweiterung des Platzes, auf dem die Kirche sich
befindet, führt den Kamen: die Cavate.
Als im Laufe der Zeit die Zahl der Kirchenbesucher so anwuchs, dass jene
in ihrer bisherigen Ausdehnung sie nicht mehr alle zu fassen vermochte und sich
daher eine Vergrösserung nöthig machte, als namentlich die Erhebung der Kirche
zum Collegiatstifte zwang, einen besonderen, grösseren Raum als abgesonderte Ab-
theilung für die Stiftsgeistlichkeit zu beschaffen, da zeigte sich, dass auf der Stelle,
avo die Kirche lag, nicht der erforderliche Platz vorhanden sei. Man musste daher
zu dessen Vergrösserung schreiten. Diese erfolgte in der Art, dass man auf der vor-
liegenden Ebene geAvaltige viereckige Pfeiler von Stein errichtete, die vermittelst sie
verbindender GeAvölbe dem Bau Zusammenhang und Festigkeit verliehen und so ge-
eignet waren als Fundament für den Hohenchor zu dienen. Wie bereits oben
bemerkt worden, muss die erste Anlage dieser Substruction, die, da sie höhlen-
artige Räume enthielt, den Kamen Cavate1 bekam, schon vor 1283 erfolgt sein,
die Erweiterung bis zur späteren Ausdehnung hat aber erst 1329 —1350 statt-
gefunden, als die Vergrösserung des Chors und die Anlage der 1353 eingeAveihten
Krypta, die auf der Cavate ruht, sie nöthig machte.
Dieselbe besteht in ihrem östlichen Theile in einem Kerne, der zwei über-
einander liegende, in ihrer Mitte von einem gewaltigen viereckigen Grundpfeiler
getragene GeAvölbe enthält, dessen Aussenmauer der in einem halben Zehnecke
abschliessenden Ostseito des Chors genau entspricht, und an den sich auf der
Kord- und der Südseite parallel mit der Choraxe Futtermauern anschliessen. Von
1 Im mittelaltrigen Latein bedeutet das Wort: Cavate, eigentlich eine tiefe Schüssel.
Du Gange — Henschel Glossar, med. latinit. II. p. 234: Cavata, a cavaudo sic dictus catinus
profundior, gallice: ecuelle. — Doch wurde es auch von anderen ausgehöhlten Gegenständen
und Vertiefungen gebraucht. — concav im Gegensatz zu: convex,
A. Stiftskirchen.
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Charakteristisch für dieses Bauwerk ist, dass sich bei ihm ganz ungewöhnlich
viel Abweichungen von dem finden, was sonst als Grundregel für die altdeutsche
Baukunst angesehen wird. Dahin gehört namentlich, dass die Längenachse eine
gebrochene Linie bildet, dass die Umfassungsmauern des Schiffs nicht parallel
laufen, dass die Länge des Chors der des Langschiffs beinahe gleich kommt, seine
Breite die des Mittelschiffs übertrifft und die Breite des letzteren hinter der der
Seitenschiffe zurückbleibt, endlich dass sich zwischen dem Chore und dem Quer-
schiffe ein breiter Mittelbau mit einem sie verbindenden Gange findet, Avie er in
gleicher Ausdehnung wohl kaum noch bei einer anderen romanischen oder gothischen
Kirche getroffen werden möchte. Diese Abweichungen von den Regeln der Kunst
werden durch die Beschaffenheit des Platzes, auf dem die Kirche steht und der
zu einer künstlichen Vergrösserung nöthigte, und durch das sich mehr und mehr
steigernde Raumbedürfniss, Avelches sich bei den verschiedenen Umbauten geltend
machte, mehr erklärt als gerechtfertigt.
Das Material, aus dem die Kirche gebaut worden, ist überwiegend ein vor-
zügliches, behauener Seeberger Sandstein, der insbesondere die gute Eigenschaft
besitzt, dass er je älter um so fester wird.
Die C a v a t e.
Die vorgedachte künstliche Erweiterung des Platzes, auf dem die Kirche sich
befindet, führt den Kamen: die Cavate.
Als im Laufe der Zeit die Zahl der Kirchenbesucher so anwuchs, dass jene
in ihrer bisherigen Ausdehnung sie nicht mehr alle zu fassen vermochte und sich
daher eine Vergrösserung nöthig machte, als namentlich die Erhebung der Kirche
zum Collegiatstifte zwang, einen besonderen, grösseren Raum als abgesonderte Ab-
theilung für die Stiftsgeistlichkeit zu beschaffen, da zeigte sich, dass auf der Stelle,
avo die Kirche lag, nicht der erforderliche Platz vorhanden sei. Man musste daher
zu dessen Vergrösserung schreiten. Diese erfolgte in der Art, dass man auf der vor-
liegenden Ebene geAvaltige viereckige Pfeiler von Stein errichtete, die vermittelst sie
verbindender GeAvölbe dem Bau Zusammenhang und Festigkeit verliehen und so ge-
eignet waren als Fundament für den Hohenchor zu dienen. Wie bereits oben
bemerkt worden, muss die erste Anlage dieser Substruction, die, da sie höhlen-
artige Räume enthielt, den Kamen Cavate1 bekam, schon vor 1283 erfolgt sein,
die Erweiterung bis zur späteren Ausdehnung hat aber erst 1329 —1350 statt-
gefunden, als die Vergrösserung des Chors und die Anlage der 1353 eingeAveihten
Krypta, die auf der Cavate ruht, sie nöthig machte.
Dieselbe besteht in ihrem östlichen Theile in einem Kerne, der zwei über-
einander liegende, in ihrer Mitte von einem gewaltigen viereckigen Grundpfeiler
getragene GeAvölbe enthält, dessen Aussenmauer der in einem halben Zehnecke
abschliessenden Ostseito des Chors genau entspricht, und an den sich auf der
Kord- und der Südseite parallel mit der Choraxe Futtermauern anschliessen. Von
1 Im mittelaltrigen Latein bedeutet das Wort: Cavate, eigentlich eine tiefe Schüssel.
Du Gange — Henschel Glossar, med. latinit. II. p. 234: Cavata, a cavaudo sic dictus catinus
profundior, gallice: ecuelle. — Doch wurde es auch von anderen ausgehöhlten Gegenständen
und Vertiefungen gebraucht. — concav im Gegensatz zu: convex,