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Bickell, Ludwig [Hrsg.]
Die Bau- und Kunstdenkmäler im Regierungsbezirk Cassel (Band 1): Kreis Gelnhausen: Textband — Marburg, 1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.13326#0057

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Die Marienkirche.

39

Ctiltur- und Localgeschichte interessante hölzerne Epithaphien aufgehängt. Auch ist liier die Gedenktafel für
die hochherzigen Wohlthäter der Kirche und Förderer der Herstellung angebracht.

Der Lettner.

Da die zahlreiche Geistlichkeit der Marienkirche aus Mönchen des Klosters Seibold bestand, war sie
genöthigt auch hier den vollen Chordienst ihres Ordens mit Hören etc. durchzuführen und zu diesem Zweck
den Chor in herkömmlicher Weise durch einen Lettner abzuschliessen, sodass dieser, wenn auch nicht dem
ursprünglichen Bauplan angehörend, doch als ein wesentlicher Bautheil an dieser Stelle zu beschreiben sein
dürfte, während alle Ausstattungsstücke erst nach Erörterung der Bausgeschichte zu betrachten sind.

Der Lettner besteht aus einer Quaderwand, welche von zwei reichgegliederten Kleebogenthüren zur
Seite eines grossen, mit sechs Nasen besetzten Rundfensters durchbrochen ist. an welche sieb ein im Grundriss
halb sechsseitiger, von zwei freistehenden und vier an diese Wand gelehnten Säulen bezw. Säulenpaaren ge-
tragener Gewölbebau schliesst. welcher über dem Laienaltar ein Ciborium bildet, und dessen von einer Brüstung
umgebene, mittelst einer schmalen Treppe vom Chor aus zugängliche Oberfläche als Sängerbühne, ursprünglich
wohl auch sicher zur Aufstellung der Chororgel diente. Wie die Abbildungen Taf. 73, auch 70 und 79, er-
kennen lassen, tragen alle Glieder und Ornamente des Bautheiles ein ausgesprochen frühgothisches Gepräge,
welches besonders in den birnförmigen Gliedern und den Hohlkehlen zwischen schrägen Plättchen an Gesimsen
und Bögen, sowie in dem naturalistischen Laubwerk und dem lebendigen, weichen Styl des figürlichen Schmuckes
zum Ausdruck kommt.

Die den Hau tragenden Säulen sind an der Vorderseite aus drei Individuen verwachsen, und haben an
den Capitälen verschiedenes Laubwerk:

Disteln, stylisirte Knospen, Kosen, Schöllkraut.
Wein-, Eichenlaub.

Das Gewölbe besteht aus einem mittleren, quadratischen und zwei seitlichen, dreieckigen Feldern mit
Birnstabrippen, von denen nur die letzteren Schlusssteine haben, welche nördlich ein Eichenkranz, südlich eine
Rose schmücken.

Von der tiefen Profilirung der Haupttragbögen ruhen die vorderen Glieder an der Wand auf besonderen
Säulchen, kragen an den freien Ecken aber unter Vermittlung geschwungener Blätter aus. Diese Auskragung
setzt die massive Brüstung fort, welche so trotz ihrer kräftigen Gliederung mit Spitzbögen auf schlanken,
schmucklosen Säulchen einen wuchtigen Gegendruck gegen den Gewölbeschüb ausübt.

Als guter Constructeur wusste der Meister dieses Schmuckstückes den fast bei allen Ciborienaltären
empfindlich berührenden Uebelstand der Zuganker durch die gewählte Grundform zu mildern, indem er den
Schuh des überdies spitzen Mittelbogens durch die schrägen Böigen abfing, und so nur zweier innerer, wenig
sichtbarer Anker bedurfte, die so allerdings doppelt beansprucht werden.

Die Zwickel der Tragbögen enthalten in vier Gruppen einen Theil der typischen, in unzähligen Bild-
werken des ganzen Mittelalters wiederkehrenden Darstellung des jüngsten Gerichtes, und zwar an dem nörd-
lichen Zwickel die Auferstehung, an dem folgenden die Einführung der (Juten als Seelige in die himmlischen
Widmungen, an den beiden südlichen die Yerstossung der Bösen und Verdammten in die Hölle.

Die Körperform der Figuren ist bereits eine annähernd naturwahre; die Züge der Gesichter, von con-
ventioneil jugendlich vollen Formen, lassen auch die Seelenstimmung erkennen. Aber es fehlt noch an scharfer
[ndividualisirung und lebendiger Bewegung, auch wenn man die Schwierigkeiten des zu Gebot stehenden Raumes
in Anschlag bringt. Ein Theil der Sculpturen ist erneuert, wie bei der „Herstellung" des näheren zu finden.

In den Blenden der Brüstung befanden sich spätgothische, leidlich wohlerhaltene, geinalte Heiligen-
figuren auf Goldgrund, welche sämmtlich völlig- übermalt sind.

Die Mensa des unter dem Lettner stehenden Kreuzaltares hat mit denen der Seitenapsiden eine gegen
die des Hochaltars jüngere Profilirung an Sockel und Deckplatte, in welcher an Stelle des schmalen Flättchens
eine kleine Fase tritt. Die Rückseite des Lettners ist einfach behandelt, und nur die obere Brüstung in fünf
Felder getheilt, welche ein Hohlkehlenprofil umrahmt, das am oberen Rand zu schwebenden Spitzböigen aus-
gebildet ist. Diese Gliederung unterbricht unorganisch und offenbar als späterer Zusatz die enge, höchst un-
bequeme Treppe, deren massives Geländer auch schon mit schmalen, nasenbesetzten Spitzbogenblenden verziert
 
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