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Bickell, Ludwig [Hrsg.]
Die Bau- und Kunstdenkmäler im Regierungsbezirk Cassel (Band 1): Kreis Gelnhausen: Textband — Marburg, 1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.13326#0061

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Die Marienkirche.

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wird unentschieden bleiben müssen. ThatBäehlich war kein Theil des alten Holzwerkes vor der Herstellung
im Jahre 1877 mehr vorhanden. Ein Sturm hatte bereits im Jahre 1412 einen der Thürme in den Pfarrhof
geschlendert. Wie die Tafel 50 erkennen lässt, war die Construction der Chorthürme keine mittelalterliche über
das 15. Jahrhundert hinausreichende.

Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde das südliche Seitenschiff durch eine angebaute Capelle mit reich
profilirten Fenstergewänden und einem originellen Westportal bis zur Flucht des Westthurmes verlängert. Sie
enthielt einen Dreifaltigkeitsaltar; welcher bereits vor 1418 bestand, in welchem Jahre eine .Messe auf den-
selben gestiftet wurde (Jungh. ]». 444). Diese Capelle war später bis zur Restauration durch eine Wand von
dem Seitenschiff getrennt und wurde als Fruchtboden benutzt.

Ebenfalls in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zu setzen ist ein mit dem Kirchenbau eng ver-
bundenes Ausstattungsstück der Lettner. Ks hat den Anschein, als habe die gerade Wand mit den beiden
Kleebogenthüren und dem Rosenfenster ursprünglich allein bestanden, und sei erst nachträglich und wenig später
der polygone Vorbau zugefügt wurden.

Die Form der Brüstungssäulchen dürfte darauf hindeuten, dass der Steinmetz, welcher die schlanken
Seitenthürme des Chores zum Abschluss brachte, wobei er „seine Kunst nicht weisen- konnte, dies Prachtstück
schuf, von dem man ruhig zugeben kann, dass es ausser Verhältnis* zu der Crosse des Baues steht und die
Innenwirkung wesentlich umgestimmt hat.

Mit vielen älteren Kirchen theilt die Marienkirche die Kigenthümlichked. dass in dem ursprünglichen
Bauplan eine Sacristei nicht vorgesehen ist. Da der offenbar sehr alte Pfarrhof, in welchem der plebanus
mit seinen elf capellani — sämmtlich Gliedern des Klosters Solbold -• in kanonischer Weise lebte, nur durch
eine schmale < lasse von der Pfarrkirche getrennt lag. mag das BedÜrfnisS einer Sacristei nicht empfunden
worden sein. Ks bleibt aber räthselhaft. dass nicht wenigstens eine gleichzeitige Chorpforte existirt. Die
Geistlichen waren deshalb zu dem Umweg durch das Nordportal gezwungen. Ks ist freilich wahrscheinlich,
dass Meister Vingerhut eine etwa im alten Chor vorhandene Pforte seinen Waudblenden zu Liebe unterdrückt
und nicht erneuert hat. Die jetzige Sacristeithüre gehört nach ihrem Birnstabprofil der Mitte des 14. Jahrhunderts
an, und hat in einen angebauten Raum, nicht ins Freie geführt. Die Sacristei liniss also damals erbaut sein.
Obgleich sie erst 1418 urkundlich genannt wird (cf. oben Dreifaltigkeitscapelle), und obgleich das modern er-
neuerte Fenstermasswerk späteren Charakter trägt1). Auch diese Sacristei hatte keinen Ausgang ins Freie, da
die jetzige Thüre nach Osten an Stelle eines Fensters getreten ist (1877), unter dem ein kleiner Altar stand.
Dass für einzelne Altäre in den für die Altnriston gestifteten Häusern in unmittelbarer Nähe der Kirche Räume
zur Vornahme der sonst in den Sacristeien erledigten Vorbereitungen vorhanden waren, zeigt der Abschnitt
„SteitzA

Die letzte grosse Veränderung erfuhr die Kirche durch den Kau eines Oberstockwerks über den Seiten-
schiffen im Jahre 144(5. wie eine Inschrift hoch oben an der Xordwestecke besagt. Die Fensterreihe dieses
Oberstockwerkes beleuchtete bis zur Restauration von 1877 eine Empore, deren Balkenlage an den Aussen-
wänden mittelst einer Mauerlatte auf schönen Konsolen ruhte und anderseits über Träger, die den Kämpfer-
gesimsen der Mittelschiffarkaden aufgelagert waren, etwa einen Meter weil in das Mittelschiff, hier mit einer
schönen durchbrochenen Spitzbogenbalustrade abschliessend, hineinragten.

Diese Brüstung war auf der Aussenseite bei einer Renovation der Kirche im Jahre 17(il mit einer
Brettertäfelung verdeckt, das zugehörige Schwellen- und Rahmenprofi] in gleicher Weise völlig unkenntlich ge-
macht, als der Verfasser diese Anlage im Jahre 1869 fand und in dem alten Inventar beschrieb. Im Jahre
1877 ist leider kein«1 Aufnahme der Construction gemacht, und von den charakteristischen Theilen derselben
nur ein kleines Stück der Brüstung als Abschluss der Nebenapsiden erhalten worden. Der Fussboden der
Empore war mit geprossten Ziegelfliessen belegt-), und die Treppen besassen Eckpfosten, welche in schön
profilirte Knäufe ausliefen. Auch von diesen ist nur der reichste, kreuzblumenartige, aber deshalb am wenigsten
charakteristische Knauf aufbewahrt worden, während die einfachen, aber höchst seltenen „blas" profilirten, als
zu einfach unbeachtet blieben.

Die Veranlassung zur Anlage des fast ganz isolirten Oberstocks erscheint bei näherer Betrachtung
durchaus räthselhaft, da er keine dem Aufwand irgend entsprechende Zahl weiterer völlig brauchbarer Plätze

') Siehe Über dessen ganz w illkürliche Gestaltung den Abschnitt „Herstellung der Marienkirche".
-) Probe davon in der Sammlung des hessischen Ceschiehtsvercins zu Marburg;.

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