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Bickell, Ludwig [Hrsg.]
Die Bau- und Kunstdenkmäler im Regierungsbezirk Cassel (Band 1): Kreis Gelnhausen: Textband — Marburg, 1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.13326#0088

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Die Marienkirche.

gekuppelten Säulenstämme der Vorderseite ganz erneuert, eine von »Schwartze mit vielem Geschick ohne den
geringsten Nachtheil ausgeführte äusserst schwierige Arbeit. Auch die Base einer dieser .Säulen sowie das
Capital links vom Kreuzaltar sowie ein Theil des Reliefs, welches die Verdammten darstellt, ist erneuert.
Schäfer hatte eine Ausbesserung in Cement vorgeschlagen. Während jetzt nicht mehr exakt festzustellen ist,
wie weit die Erneuerung geht; hätte jene Ergänzung alles alte bewahrt und das zugesetzte erkenntlich gemacht,
während jetzt die alten Theile völlig zerstört sind.

Im Kreuzschiff hatten an den Eingangspfeilern zum Chor gemauerte Altarmensen gestanden. Die
Basen und Sockel waren deshalb hier zerstört und sind jetzt neu, zum Theil noch unfertig. Audi die Eck-
dienste erhielten zum Theil neue Basen, sodass das in der Baugeschichte auf den jetzigen Zustand hin abgegebene
Urtheil von der Zuverlässigkeit dieser Ergänzung abhängig gemacht werden muss. Umfangreiche Ergänzungen
kleiner abgeschlagener Stücke wurden an den Hauptportalen nöthig, sind aber bei aufmerksamer Betrachtung
leicht erkenntlich. Das Tympanon des südlichen war wohl durch den terrae motus von 1273 geborsten, und
wurde durch eine geschickte seitliche Verkeilung wieder zum Schluss der klaffenden Fuge gebracht.

Die vorerwähnten Ergänzungen der sculpirten Theile wurden von dem Bildhauer Massler in Hannover
trefflich ausgeführt1). Daneben sind auch mancherlei Profile und dergl. ergänzt, ohne dass es möglich wäre,
den ursprünglichen Zustand zu ermitteln. Wenn in den Nebenchören Kämpfer und Sockel zum Theil erneuert
sind, so zeigen doch genügend umfangreiche alte Stücke, dass dies unter genauem Anschluss an das Alte
geschah. Bedenklich ist es jedoch, dass der Dachsims der flacher gelegten Seitenschiffdächer genau das an
dem übrigen Bau verwendete alte Profil zeigt, während doch ein mit dem spätgothischen Aufbau entstandenes
sicher vorhanden gewesen dürfte.

Von den mittelalterlichen Thürflügeln hatte sich offenbar keine Spur, nicht einmal ein Beschlag er-
halten, und Rubi bildet auch nur solche ab, die etwa aus 1761 stammen können. Nur in dem Dachwerk hat
sich ein höchst merkwürdiges seltenes, schmales Thürchen erhalten, welches nach einer eigenen Scizze (von 1869)
auf Tab. 96 dargestellt ist. Die 1867 seq. eingesetzten neuen Thürflügel sämmtlicher Portale sind leider nicht
in der an allen alten Thüren in Hessen verwendeten Construction aus genutheten oder gedübelten Bohlen
mit Einsehiebleisten und äusserem reichem Zierbeschlag hergestellt, und beeinträchtigen offenbar mit ihren un-
ruhigen Flächen die Wirkung der Prachtportale.

Vom Standpunkt der Denkmalpflege kann die Herstellung der Marienkirche als Bauwerk an sich wohl
als durchaus gelungen, und mit grosser Treue, Sorgfalt und technischem Geschick durchgeführt bezeichnet
werden. Vom kunsthistorischem Standpunkt jedoch bleibt zu beklagen, dass im Anschluss an die damals noch
herrschende puristische Richtung ein grosser Theil der „nicht stylgemässen" Ausstattung der Vernichtung an-
heimfiel. Die Emporen, als bestimmend für das ganze äussere Aussehen des Schiffes, hätten wenigstens in
der oben angedeuteten Reduktion beibehalten werden müssen, Orgel und Kanzel jedenfalls ohne Einschränkung.
Bezüglich der Bemalung des Innern muss festgehalten werden, dass die ursprüngliche Malerei des 13. Jahr-
hunderts durch eine spätgothische und eine noch spätere Neubemalung bis zur Unkenntlichkeit fast durchweg
zerstört war. Das wenige erhaltene hätte wohl unbedenklich im unrestaurirten Zustand stehen bleiben können.
Es kann aber nur gebilligt werden, dass man von einer nachempfundenen, im besten Falle doch nur der da-
maligen Kenntniss mittelalterlicher Malerei entsprechenden, und wohl schon in der nächsten Generation mit
lächelndem Bedauern betrachteten Neubemalung absah, und den reich sculpirten und profilirten Bau unverhüllt
in der warmen, natürlichen Steinfarbe beliess. Thatsächlich kommen jetzt alle Bautheile zu so vollkommen
wahrer, plastischer Wirkung, wie es bei noch so günstiger Polychromirung kaum zu erreichen wäre, und es
darf als eine günstige Fügung betrachtet werden, dass gerade ein so hervorragend reiches Baudenkmal die
Gelegenheit bietet, sich durch eigene Anschauung ein Urtheil über den Werth der Polychromie zu bilden.

') Massler hat damals Abformungen eines grossen Theiles der besseren Sculpturen gemacht und ein mit einer Lichtdruck-
tafel illustrirtes Preisverzeichniss dieser Gypsabgüsse herausgegeben.
 
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