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Böttiger, Carl August; Sillig, Julius [Hrsg.]
C. A. Böttiger's kleine Schriften archäologischen und antiquarischen Inhalts (Band 1) — Dresden, Leipzig, 1837

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https://doi.org/10.11588/diglit.5484#0410

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Zu den erwünschtesten Elrennes de Melpomene gehörte den
2ten Januar 1802 die Aufführung des Ion, eines Schauspiels
in 5 Aufzügen , dessen Verfasser bis jetzt in der strengsten Ver-
borgenheit geblieben ist. Es war lange im Voraus darüber ge-
sprochen nnd durch die anfserordentliche Sorgfalt, womit das Stück
cinstndirt und Alles dazu vorbereitet wurde, die Erwartung- darauf
auf's Hiichsfe gespannt worden. Mancherlei Betrachtungen und
Kunslfragcn waren vorausgegangen. Man las das griechische Ori-
ginal des Euripides. Der Eine erinnerte sich , bei'm Vater B rn-
moy gelesen zu haben, dafs nach einer lauge schon bestehenden
Knnstmeinung nichts theatralischer gedacht weiden könne als der
. Stoff jener Fabel, wie sie Euripides behandelt hat. Eine zärtliche
Mutter, die ihren Sohn vergiften, ein edler Sohn, der den Pfeil
auf seine Mutter abdrücken will, während dieser doppelte Frevel
die gegenseitige Anerkennung herbeiführt, was kann uns mehr er-
greifen, spannen, befriedigen? Ein Anderer, der die fröhlichen
Erinnerungen ans seinem Racine gern mitIheilte, ermangelte nicht,
^anf dessen Athalie hinzudeuten nnd zu erzählen, wie fein der fran-
zösische Tragiker seinen Ioas nach dem Ion des Euripides zu
bilden gewußt habe. Ein Dritter endlich wollte die Anekdote selbst
aus dem Munde des ehrwürdigen Dichters gehört haben, unter des-
sen unsterblichen Werken auch der Agathon glänzt, dafs die Lek-
türe des Euripideischen Ion in ihm die erste Idee zur Ilcrvorbring-
ung jenes Meisterwerks geweckt nnd befruchtet habe. Alle aber
stimmten darin überein, dafs die ^Bearbeitung und Wiedererweck-
ung dieses Stoffes für unser Theater zu den schwierigsten Aufga-
ben gehöre, die im Kreise der dramatischen Dichtkunst lägen.
Schon die unvermeidliche Weglassung des Chors, der doch hier
nicht blos durch Mitleid, sondern auch durch rasches Eingreifen
an der Handlung selbst Theil nimmt, machte grofse Abänderungen
in der Oeconomie des Stückes und Einlheilungeu in Acte nölhig,
die bei dein griechischen Tragiker kaum angedeutet sind. Die
schöne Einfachheit der griechischen Fabel ist für unseren an hun-
dertfache Verstärkungen verwöhnten Geschmack zu nüchtern und
einschläfernd. Wie mifslich sind aber hier alle Zusätze und Er-
weiterungen! Endlich, und dieser Zweifel schien besonders einige
gebildete, aber doch noch nicht aller moralischen Beschränkung
iiberhobene Menschen hart zu ängstigen , wufste man nicht recht,
•wie der Dichter eines neuen Ion über gewisse schlüpfrige Confes-
sionen mit Ehren wegkommen könne, da sich die ganze Verwick-
lung des Stückes um die Wiedererkennnng eines Jungfernkindes
und um die kritischen Augenblicke dreht, wo Ion sein Dasein em-
pfing. Das Alles hatte nun auf der Athenischen Bühne gar nichts
auf sich. Keine ehrbare Frau besuchte dort jemals das Schau-
spiel und selbst die weiblichen Rollen wurden nur von männlichen
Schauspielern gegeben. Was in einer puren Münnergesellschaft
 
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