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I DIE FLEISCHWERDUNG DER FARBE
l, Tizians «Verkündigung» von San Salvador
Der wolkige Himmel reißt auf, ein helles Licht erstrahlt und die
Taube fliegt zur Jungfrau Maria am Betpult herab. Von links stürmt
ein großer, massiver Engel auf die Kniende zu, die sich zu ihm
umwendet. Wolken, Engelscharen und das Licht ergießen sich in den
Raum, der durch die Säulenflucht und die rot-weißen Bodenplatten
an eine venezianische Kirche erinnert. Durch zwei Stufen an der unte-
ren Kante des in situ befindlichen Altarbildes verbindet sich der
Bildraum mit dem realen Kirchenraum. An dieser Stelle hat Tizian
seine Signatur angebracht. Eine weitere Inschrift deutet die auf dem
Boden stehende Vase als Mariensymbol (Abb. i).17 Ikonographisch
allem Anschein nach unspektakulär, hat diese gut vier Meter hohe
«Verkündigung» seit ihrer Fertigstellung zwischen 1563 und 156618
die Betrachter durch ihre formale Konzeption bewegt. Singulär ist die
Leiblichkeit der Figuren und die Auflösung des Raumes in die zer-
fließenden Farb-Wolken.
Der durch die quadratischen Fliesen gegliederte Boden und die
Stufen deuten einen begehbaren Raum an. Ebenso suggeriert die Säu-
lenflucht Tiefe. Doch dieser Raum endet unvermittelt: Nach der vier-
ten Säule bricht der Boden in einer scharfen Kante ab und öffnet den
Blick in einen weiten Hintergrund, der mehr aus Licht und Schatten
gebildet ist, denn aus einer erkennbaren Landschaft. So findet die
I DIE FLEISCHWERDUNG DER FARBE
l, Tizians «Verkündigung» von San Salvador
Der wolkige Himmel reißt auf, ein helles Licht erstrahlt und die
Taube fliegt zur Jungfrau Maria am Betpult herab. Von links stürmt
ein großer, massiver Engel auf die Kniende zu, die sich zu ihm
umwendet. Wolken, Engelscharen und das Licht ergießen sich in den
Raum, der durch die Säulenflucht und die rot-weißen Bodenplatten
an eine venezianische Kirche erinnert. Durch zwei Stufen an der unte-
ren Kante des in situ befindlichen Altarbildes verbindet sich der
Bildraum mit dem realen Kirchenraum. An dieser Stelle hat Tizian
seine Signatur angebracht. Eine weitere Inschrift deutet die auf dem
Boden stehende Vase als Mariensymbol (Abb. i).17 Ikonographisch
allem Anschein nach unspektakulär, hat diese gut vier Meter hohe
«Verkündigung» seit ihrer Fertigstellung zwischen 1563 und 156618
die Betrachter durch ihre formale Konzeption bewegt. Singulär ist die
Leiblichkeit der Figuren und die Auflösung des Raumes in die zer-
fließenden Farb-Wolken.
Der durch die quadratischen Fliesen gegliederte Boden und die
Stufen deuten einen begehbaren Raum an. Ebenso suggeriert die Säu-
lenflucht Tiefe. Doch dieser Raum endet unvermittelt: Nach der vier-
ten Säule bricht der Boden in einer scharfen Kante ab und öffnet den
Blick in einen weiten Hintergrund, der mehr aus Licht und Schatten
gebildet ist, denn aus einer erkennbaren Landschaft. So findet die