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II DIE KUNST UND DER TOD
1. Tod in Venedig
Im Zentrum von Tizians «Pietä» (Abb. 10)126, auf dem Schoß Mariens,
liegt der Leichnam Christi. Er ist von fahler Farbe und erweckt den An-
schein einer schon einige Tage alten Leiche. Sein von der Mutter ge-
stützter Kopf ist nach hinten gesunken, die Glieder sind steif. Dem Ge-
sicht mit den geschlossenen Augen ist kein Ausdruck abzulesen, es
wirkt allein sehr fern, da der Farbauftrag nur unbestimmt die dunkle
Höhlung der Augen angibt und Mund, Bart und Haare den gleichen
Farbton haben (Abb. n). Darüber liegen unregelmäßige Glanzlichter,
die den Eindruck erzeugen, das Gesicht sei verschleiert. Das Fleisch
des Leichnams ist seltsam fleckig und scheint schon zu zerfallen.
Der an seiner Seite kniende greise Heilige hält mit seiner Lin-
ken die Hand Jesu und faßt mit der Rechten unter dessen Achsel, als
ob er den Zustand seines toten Heilands erfassen wolle. Das kräftig
braune Inkarnat des Alten kontrastiert mit dem bleichen Fleisch
Christi. Der trotz seines Alters muskulös wirkende Heilige blickt zu
Maria, die sich ihrerseits dem toten Sohn zuwendet. Ihr Gesicht zeigt
keine Gefühlsregung, sie scheint wie versteinert in ihrer Trauer. An
ihrer Seite befindet sich Magdalena. Diese ist einen Schritt vorgegan-
gen und weist mit der einen Hand auf Christus und erhebt die andere
in einem Klagegestus. Ihr stummer Schrei geht über die Betrachter
hinweg aus dem Bild heraus und scheint keine Antwort zu finden. Sie
II DIE KUNST UND DER TOD
1. Tod in Venedig
Im Zentrum von Tizians «Pietä» (Abb. 10)126, auf dem Schoß Mariens,
liegt der Leichnam Christi. Er ist von fahler Farbe und erweckt den An-
schein einer schon einige Tage alten Leiche. Sein von der Mutter ge-
stützter Kopf ist nach hinten gesunken, die Glieder sind steif. Dem Ge-
sicht mit den geschlossenen Augen ist kein Ausdruck abzulesen, es
wirkt allein sehr fern, da der Farbauftrag nur unbestimmt die dunkle
Höhlung der Augen angibt und Mund, Bart und Haare den gleichen
Farbton haben (Abb. n). Darüber liegen unregelmäßige Glanzlichter,
die den Eindruck erzeugen, das Gesicht sei verschleiert. Das Fleisch
des Leichnams ist seltsam fleckig und scheint schon zu zerfallen.
Der an seiner Seite kniende greise Heilige hält mit seiner Lin-
ken die Hand Jesu und faßt mit der Rechten unter dessen Achsel, als
ob er den Zustand seines toten Heilands erfassen wolle. Das kräftig
braune Inkarnat des Alten kontrastiert mit dem bleichen Fleisch
Christi. Der trotz seines Alters muskulös wirkende Heilige blickt zu
Maria, die sich ihrerseits dem toten Sohn zuwendet. Ihr Gesicht zeigt
keine Gefühlsregung, sie scheint wie versteinert in ihrer Trauer. An
ihrer Seite befindet sich Magdalena. Diese ist einen Schritt vorgegan-
gen und weist mit der einen Hand auf Christus und erhebt die andere
in einem Klagegestus. Ihr stummer Schrei geht über die Betrachter
hinweg aus dem Bild heraus und scheint keine Antwort zu finden. Sie