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V SEXUELLE GEWALT ALS BILDTHEMA:
LUCRETIA ROMANA VIOLATA DA TARQUINIO
Die Beschäftigung mit Tizians erotischen Frauenbildnissen hat
gezeigt, daß sie nicht nur in einem von Genuß und Vergnügen, son-
dern auch in einem von Gewalt geprägten Kontext entstanden. Insbe-
sondere die Kurtisanen waren von Körperverletzung und Gewalt
bedroht, wenn sie dem Idealbild, das sie repräsentierten, nicht ent-
sprechen konnten. Obwohl Tizian mit diesem Konflikt vertraut war
und sich Bildnisse wie die «Flora» und das «Mädchen im Pelz» oder
auch die liegenden Akte auf die Kurtisanenkultur beziehen, stellen
seine Gemälde allein eine ideale Sphäre kultivierter Erotik dar. Die
antike Legende von Lucretias Vergewaltigung bot ihm jedoch die
Gelegenheit, sich in einer anderen Bildgattung direkt mit der Gewalt
gegen Frauen auseinanderzusetzen. Die Suche nach einer geeigneten
Darstellungsform brachte ihn sogar zu einer Revision seiner eigenen
Konzeption vom weiblichen Körper als erotischem Körper.
Dreimal innerhalb weniger Jahre arbeitete Tizian an dem Verge-
waltigungsmotiv, anscheinend ohne einen direkten Auftrag. Die erste
Version schickte er 1571 Philipp II. Doch wahrscheinlich bezog sich
schon seine Ankündigung von 1568, daß er mit großer Mühe an einer
neuen Bilderfindung arbeite, auf dieses Gemälde (Abb. 37).431 Tizian
konnte zurecht die jetzt in Cambridge befindliche «Lucretia Romana
uiolata daTarquinio» als eine besondere Leistung ankündigen, da die
V SEXUELLE GEWALT ALS BILDTHEMA:
LUCRETIA ROMANA VIOLATA DA TARQUINIO
Die Beschäftigung mit Tizians erotischen Frauenbildnissen hat
gezeigt, daß sie nicht nur in einem von Genuß und Vergnügen, son-
dern auch in einem von Gewalt geprägten Kontext entstanden. Insbe-
sondere die Kurtisanen waren von Körperverletzung und Gewalt
bedroht, wenn sie dem Idealbild, das sie repräsentierten, nicht ent-
sprechen konnten. Obwohl Tizian mit diesem Konflikt vertraut war
und sich Bildnisse wie die «Flora» und das «Mädchen im Pelz» oder
auch die liegenden Akte auf die Kurtisanenkultur beziehen, stellen
seine Gemälde allein eine ideale Sphäre kultivierter Erotik dar. Die
antike Legende von Lucretias Vergewaltigung bot ihm jedoch die
Gelegenheit, sich in einer anderen Bildgattung direkt mit der Gewalt
gegen Frauen auseinanderzusetzen. Die Suche nach einer geeigneten
Darstellungsform brachte ihn sogar zu einer Revision seiner eigenen
Konzeption vom weiblichen Körper als erotischem Körper.
Dreimal innerhalb weniger Jahre arbeitete Tizian an dem Verge-
waltigungsmotiv, anscheinend ohne einen direkten Auftrag. Die erste
Version schickte er 1571 Philipp II. Doch wahrscheinlich bezog sich
schon seine Ankündigung von 1568, daß er mit großer Mühe an einer
neuen Bilderfindung arbeite, auf dieses Gemälde (Abb. 37).431 Tizian
konnte zurecht die jetzt in Cambridge befindliche «Lucretia Romana
uiolata daTarquinio» als eine besondere Leistung ankündigen, da die