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DER EROTISCHE KÖRPER
Vergewaltigungsszene bisher kaum als Thema eines eigenständigen
Tafelbildes genutzt worden war. Häufigerwaren narrative Zyklen, ins-
besondere auf Florentiner cassoni, die die Geschichte der römischen
Matrone von ihrer Vergewaltigung durch den Etruskersprößling Tar-
quinius, über ihren Selbstmord bis zu der Vertreibung der Etrusker-
könige aus Rom darstellten. Daneben gab es Einzelbilder von Lucre-
tia, die im Begriff ist, sich das Messer in die Brust zu stoßen. Die Ver-
gewaltigung selbst, beziehungsweise der Moment, in dem Tarquinius
Lucretia mit dem Dolch bedroht, wurde fast ausschließlich in der
Druckgraphik dargestellt, auf die Tizian auch für seine Komposition
zurückgriff.432 Tizian ließ selbst 1571 von Cornelius Cort die Kompo-
sition für Philipp II. nachstechen. Weil das Gemälde einen engeren
Bildausschnitt zeigt als die Graphik, vermutet man, daß es beschnit-
ten ist.433
Eine zweite Version, die das Cambridger Gemälde nur wenig va-
riiert, wird heute in Bordeaux aufbewahrt und ist in einem erbärmli-
chen Zustand (Abb. 39). Allein die Röntgenaufnahmen bezeugen, daß
Tizian zumindest an der Anlage des Gemäldes beteiligt war.434 Eine
weitere, eventuell nicht ganz vollendete Fassung befindet sich in der
Wiener Akademie. Hier ist schon vom Bildausschnitt her allesauf das
Wesentliche reduziert: die Vergewaltigung einer Frau (Abb. 38).435
Das Gemälde für Philipp II. (Abb. 37) bietet den Anblick auf
Lucretias Bettstatt. Der Hintergrund ist von Bettvorhängen ver-
schlossen, davor sieht der Betrachter direkt auf das Lager mit seinen
grünen Decken und den weißen Kissen, an die Lucretia gelehnt ist.
Der Betrachter ist scheinbar wie Tarquinius in das Schlafgemach der
Römerin eingedrungen und kann jetzt verfolgen, wie Tarquinius sie
angreift. Eine weitere Figur am linken Bildrand hat den Vorhang
angehoben und sieht der Vergewaltigung aus der Perspektive des
Angreifers zu. Tarquinius hat der überraschten Frau schon sein Knie
zwischen die Schenkel gedrängt, ergreift mit der linken Hand ihren
rechten Arm und führt mit seiner rechten den Dolch gegen sie. An die
Kissen gedrückt, hat Lucretia ihren rechten Arm ausweichend erho-
DER EROTISCHE KÖRPER
Vergewaltigungsszene bisher kaum als Thema eines eigenständigen
Tafelbildes genutzt worden war. Häufigerwaren narrative Zyklen, ins-
besondere auf Florentiner cassoni, die die Geschichte der römischen
Matrone von ihrer Vergewaltigung durch den Etruskersprößling Tar-
quinius, über ihren Selbstmord bis zu der Vertreibung der Etrusker-
könige aus Rom darstellten. Daneben gab es Einzelbilder von Lucre-
tia, die im Begriff ist, sich das Messer in die Brust zu stoßen. Die Ver-
gewaltigung selbst, beziehungsweise der Moment, in dem Tarquinius
Lucretia mit dem Dolch bedroht, wurde fast ausschließlich in der
Druckgraphik dargestellt, auf die Tizian auch für seine Komposition
zurückgriff.432 Tizian ließ selbst 1571 von Cornelius Cort die Kompo-
sition für Philipp II. nachstechen. Weil das Gemälde einen engeren
Bildausschnitt zeigt als die Graphik, vermutet man, daß es beschnit-
ten ist.433
Eine zweite Version, die das Cambridger Gemälde nur wenig va-
riiert, wird heute in Bordeaux aufbewahrt und ist in einem erbärmli-
chen Zustand (Abb. 39). Allein die Röntgenaufnahmen bezeugen, daß
Tizian zumindest an der Anlage des Gemäldes beteiligt war.434 Eine
weitere, eventuell nicht ganz vollendete Fassung befindet sich in der
Wiener Akademie. Hier ist schon vom Bildausschnitt her allesauf das
Wesentliche reduziert: die Vergewaltigung einer Frau (Abb. 38).435
Das Gemälde für Philipp II. (Abb. 37) bietet den Anblick auf
Lucretias Bettstatt. Der Hintergrund ist von Bettvorhängen ver-
schlossen, davor sieht der Betrachter direkt auf das Lager mit seinen
grünen Decken und den weißen Kissen, an die Lucretia gelehnt ist.
Der Betrachter ist scheinbar wie Tarquinius in das Schlafgemach der
Römerin eingedrungen und kann jetzt verfolgen, wie Tarquinius sie
angreift. Eine weitere Figur am linken Bildrand hat den Vorhang
angehoben und sieht der Vergewaltigung aus der Perspektive des
Angreifers zu. Tarquinius hat der überraschten Frau schon sein Knie
zwischen die Schenkel gedrängt, ergreift mit der linken Hand ihren
rechten Arm und führt mit seiner rechten den Dolch gegen sie. An die
Kissen gedrückt, hat Lucretia ihren rechten Arm ausweichend erho-