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Bohde, Daniela; Vecellio, Tiziano [Ill.]
Haut, Fleisch und Farbe: Körperlichkeit und Materialität in den Gemälden Tizians — Emsdetten, 2002

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https://doi.org/10.11588/diglit.23216#0212
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21 0 DER LEIDENDE KÖRPER

Vorhaltungen und wurde nun zu Tode geprügelt. Sein Kult breitete
sich im Frühchristentum nur zögerlich aus, erst im 8. Jahrhundert
wurde er als Pestheiliger angerufen. Diese Funktion gewann er nicht
etwa dadurch, daß er Pestkranke heilte, sondern wegen des Pfeilmar-
tyriums. Denn der Pfeil versinnbildlichte bereits in der Antike und im
Judentum, wie die Pest schlagartig die Menschen heimsuchte und
niederstreckte.492

Daß der durch die Pfeile Gefolterte in vielen Gemälden wie ein
junger Ephebe aussah, versuchte Henry Siegrist durch eine spezifi-
sche Form der Antikenrezeption zu erklären: In dem von Pfeilen
durchbohrten Märtyrer stecke der pfeilschießende Gott Apoll. Dies
habe seinen Grund darin, daß Apollon nicht nur das Unheil mit den
Pfeilen schicke, sondern als Heilgott auch davon befreie. Allein ein
solcher antiker Ursprung Sebastians schien Siegrist zu erklären,
warum dieser im Quattrocento zum schönen nackten Jüngling
wurde. So viel kann seine suggestive These jedoch nicht leisten. Denn
weder weist er die Kontinuität des Apollonkultes in der Sebastians-
verehrung im Frühchristentum nach, noch zeigt er in der Sebastians-
ikonographie der Renaissance eine spezifische Rezeption des anti-
ken Apoll auf.493 Bei der Antikisierung seines Leibes bediente man
sich genauso anderer antiker Figuren und rezipierte Marsyasstatuen,
den liegenden Jüngling der Niobiden, Bacchus oder Laokoon. Die
Armhaltungen Sebastians, die verschiedenen Beinstellungen und
sein jugendlicher Körper sind nicht maßgeblich von der antiken Apol-
lonikonographie bestimmt.494

Dennoch ist Siegrists Idee einer Inversion vom Pfeilschießen-
den zum von Pfeilen Gemarterten nicht gänzlich aufzugeben, da die
Verkehrung der Positionen ein wesentliches Element im Sebastians-
kult war: Der Märtyrer Sebastian wurde der Patron der Schützen, und
man verehrte das Folterinstrument als Reliquie. Eine besondere Art
der Annäherung an die Reliquie könnte man auch darin sehen, daß
Perugino zwei Gemälde auf einem Pfeil im Hals des Heiligen sig-
nierte.495
 
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