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Das Zeichnen der Primitiven.
schaft nur selten mit einem Hang zur Reflexion (Lionardo — Dürer) oder mit Freude
an der Forschung (Rösel — Merian) verbunden gewesen ist.
Schopenhauers Betrachtungen über das „Verhältnis der anschauenden zur ab-
strakten Erkenntnis" (Welt als Wille und Vorstellung, II, 7) handeln von diesen Dingen
in unübertrefflicher Weise. Es heißt dort: „Vollkommen sicher ist demnach unser Thun
, nur dann, wenn es von einem Begriffe geleitet wird, dessen richtiger Grund, Vollständig-
keit und Anwendbarkeit auf den vorliegenden Fall völlig gewiß ist. Das Handeln nach
Begriffen kann in Pedanterie, das nach dem anschaulichen Eindruck in Leichtfertigkeit
und Thorheit übergehen."
Versuchen wir also, ob es uns gelingen wird, der Scylla zu entgehen, ohne
der Charybdis zu verfallen.
Fehlerqu eilen.
Wo die eigentlich gefährlichen Fehlerquellen zu suchen sind, kann aus den vorher-
gehenden Ausführungen schon erschlossen werden. Sie liegen nicht in minderer Schärfe
des Auges, die sich korrigieren läßt, nicht in .der Ungeschicklichkeit der Hand, die doch
allemal die eingedrillten Formen der Schrift wiederzugeben vermag, sondern in der
mangelnden Fähigkeit, ,,voraussetzungslos" zu sehen, d. h. aus den Sinneseindrücken klare,
reine, ungetrübte Vorstellungen zu bilden und diese so zu Komplexen zu vereinigen, daß
keine inneren Widersprüche entstehen.
Einige auffallende Abweichungen von der Erscheinungstreue, die für das Gedächtnis-
zeichnen der Kinder charakteristisch sind, beeinflussen den zeichnerischen Ausdruck schon
seit Urzeiten der Menschheit. Es wird für uns von Nutzen sein, sie an einer Reihe von
Beispielen kennen zu lernen und die besonderen psychologischen Grundlagen, auf denen
sie im einzelnen Fall entstehen, zu erkennen.
Das Zeichnen der „Primitiven".
1 Soweit wir bis heute erkennen können, treten gleichzeitig mit den ersten sicher
deutbaren Spuren des Menschen der Urzeit auch Zeugnisse für seine künstlerische Tätig-
keit auf. Als um die Mitte des 19. Jahrhunderts das Vorkommen des Menschen im Diluvium
immer mehr zur Gewißheit wurde, erregten die Artefakte, die von ihm herrühren sollten,
Verwunderung, Befremden, ja Mißtrauen. Nach alledem, was man von der primitiven
Kunst der Völker in den Anfängen der Kultur damals wußte, wäre niemand erstaunt
gewesen, wenn als Funde aus der älteren Steinzeit unförmliche, bizarre, fratzenhafte Gebilde
zutage gefördert worden wären. Statt dessen fand man, eingeritzt in Knochen, Geweih-
stücke und Steine, Darstellungen von Tieren, deren Körperverhältnisse so richtig, deren
Stellungen und Bewegungen so treffsicher aufgefaßt waren, daß ihnen als Erzeugnis des-
selben geographischen Kulturgebietes bis in die Tage der romanischen Kunst hinein nichts
Gleichwertiges an die Seite gesetzt werden konnte.
Das Zeichnen der Primitiven.
schaft nur selten mit einem Hang zur Reflexion (Lionardo — Dürer) oder mit Freude
an der Forschung (Rösel — Merian) verbunden gewesen ist.
Schopenhauers Betrachtungen über das „Verhältnis der anschauenden zur ab-
strakten Erkenntnis" (Welt als Wille und Vorstellung, II, 7) handeln von diesen Dingen
in unübertrefflicher Weise. Es heißt dort: „Vollkommen sicher ist demnach unser Thun
, nur dann, wenn es von einem Begriffe geleitet wird, dessen richtiger Grund, Vollständig-
keit und Anwendbarkeit auf den vorliegenden Fall völlig gewiß ist. Das Handeln nach
Begriffen kann in Pedanterie, das nach dem anschaulichen Eindruck in Leichtfertigkeit
und Thorheit übergehen."
Versuchen wir also, ob es uns gelingen wird, der Scylla zu entgehen, ohne
der Charybdis zu verfallen.
Fehlerqu eilen.
Wo die eigentlich gefährlichen Fehlerquellen zu suchen sind, kann aus den vorher-
gehenden Ausführungen schon erschlossen werden. Sie liegen nicht in minderer Schärfe
des Auges, die sich korrigieren läßt, nicht in .der Ungeschicklichkeit der Hand, die doch
allemal die eingedrillten Formen der Schrift wiederzugeben vermag, sondern in der
mangelnden Fähigkeit, ,,voraussetzungslos" zu sehen, d. h. aus den Sinneseindrücken klare,
reine, ungetrübte Vorstellungen zu bilden und diese so zu Komplexen zu vereinigen, daß
keine inneren Widersprüche entstehen.
Einige auffallende Abweichungen von der Erscheinungstreue, die für das Gedächtnis-
zeichnen der Kinder charakteristisch sind, beeinflussen den zeichnerischen Ausdruck schon
seit Urzeiten der Menschheit. Es wird für uns von Nutzen sein, sie an einer Reihe von
Beispielen kennen zu lernen und die besonderen psychologischen Grundlagen, auf denen
sie im einzelnen Fall entstehen, zu erkennen.
Das Zeichnen der „Primitiven".
1 Soweit wir bis heute erkennen können, treten gleichzeitig mit den ersten sicher
deutbaren Spuren des Menschen der Urzeit auch Zeugnisse für seine künstlerische Tätig-
keit auf. Als um die Mitte des 19. Jahrhunderts das Vorkommen des Menschen im Diluvium
immer mehr zur Gewißheit wurde, erregten die Artefakte, die von ihm herrühren sollten,
Verwunderung, Befremden, ja Mißtrauen. Nach alledem, was man von der primitiven
Kunst der Völker in den Anfängen der Kultur damals wußte, wäre niemand erstaunt
gewesen, wenn als Funde aus der älteren Steinzeit unförmliche, bizarre, fratzenhafte Gebilde
zutage gefördert worden wären. Statt dessen fand man, eingeritzt in Knochen, Geweih-
stücke und Steine, Darstellungen von Tieren, deren Körperverhältnisse so richtig, deren
Stellungen und Bewegungen so treffsicher aufgefaßt waren, daß ihnen als Erzeugnis des-
selben geographischen Kulturgebietes bis in die Tage der romanischen Kunst hinein nichts
Gleichwertiges an die Seite gesetzt werden konnte.