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Deutsche Gesellschaft für Christliche Kunst [Hrsg.]
Die christliche Kunst: Monatsschrift für alle Gebiete der christlichen Kunst u. der Kunstwissenschaft sowie für das gesamte Kunstleben — 16.1919/​1920

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Handel-Mazzetti, Hermann von: Die Hungertücher und ihre historische Entwicklung[2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.55380#0234

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210

DIE HUNGERTÜCHER UND IHRE HISTORISCHE ENTWICKLUNG


ST. JAKOBUS IN BAD KISSINGEN. ERWEITERUNG DURCH EINEN AN DEN ALTEN TURM ANGEGLIEDERTEN
ZENTRALBAU. VGL. QUERSCHNITT S. 211 UND INNENANSICHT S. 212. — Text S. 208

DIE HUNGERTÜCHER UND IHRE
HISTORISCHE ENTWICKLUNG
Von HERMANN HANDEL-MAZZETTI
(Schluß)
Als das älteste in der Literatur erwähnte
L Hungertuch tritt uns das velum Optimum
des Hartmod von St. Gallen entgegen, welches
von seiner Schwester Richlin kunstvoll ge-
stickt war (9 Jahrh.). Eine ebenso reich gestickte
Arbeit scheint das Fastentuch im Dome
von Canterbury (1214) und das speciosissi-
mum velum von Auxerre gewesen zu sein
(14. Jahrh.). Von besonderem Interesse ist die
Beschreibung von vier solchen Vorhängen,
welche uns der Catalogus Abbatum S. Afrae
et Udalrici in Augsburg um die Mitte des
12. Jahrhunderts überliefert hat. Welche
Fülle von Motiven belehrenden und erbauen-
den Inhaltes kamen zur Darstellung! Das
erste beschreibt das Leben der beiden Schutz-
heiligen Augsburgs und zeigt die vier Spender
des Werkes. Der zweite Teppich enthielt
in 9 Reihen übereinander angeordnet die
9 Chöre der Engel und 9 Personifikationen
von Tugenden nebst ihren hervorragendsten
Vertretern aus dem Alten und Neuen Bunde
z. B. Jungfräulichkeit — Muttergottes, Wahr-
haftigkeit — St. Johann der Täufer, Gehor-
sam — Abraham, Unschuld — Abel. Der

dritte Teppich zeigte, der Armenbibel weit
vorauseilend, Bilder des Neuen Bundes und
Vorbilder einander gegenübergestellt, wäh-
rend das vierte Tuch die leiblichen Werke
der Barmherzigkeit, die 6 Tage der Schöpfung
und die 6 Lebensalter des Menschen vorführte.
Vielleicht ein Rest eines Hungertuches
dürften die mit leichten Farben auf gröberer
Leinwand gemalten Heiligenfiguren aus dem
12. Jahrhundert sein, welche als die mutmaß-
lich älteste Leinwandmalerei der Rheinlande
in der Sakristei der Apostelkirche in Köln
aufbewahrt, vor einigen Jahrzehnten einem
Brande zum Opfer fielen. Zu Münster in
Westfalen ist ein romanisches Hungertuch
nachweisbar, wenigstens erzählt die Chronik,
daß die Feinde des im Jahre 1306 gestorbe-
nen Bischofs Otto von Rietberg Spottverse
auf denselben in das Hungertuch gestickt
hätten. Auf der Ausstellung kunstgewerb-
licher Altertümer in Düsseldorf (1880) war
ein großes Leintuch mit Passionsdarstellungen
von Heiligenfiguren aus dem 14. Jahrhundert
zu sehen, welches aus dem Kloster Alten-
berg stammt und von einer Sophia Hade-
wigis Lucardis verfertigt war. Bei diesem
und zwei ähnlichen Arbeiten im Dome zu
Brandenburg und dem Kloster Lüne ist es
unsicher, ob es sich um Fastentücher oder
auffallend große Altartücher handelt.
 
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