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Dehio, Georg; Bezold, Gustav von
Die kirchliche Baukunst des Abendlandes (Band 1) — Stuttgart, 1892

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https://doi.org/10.11588/diglit.11368#0037
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einer völlig veränderten Grundstimmung. Das stolze und ruhige Ver-
trauen auf die Unerschütterlichkeit des bestehenden Zustandes, das aus
der verschwenderischen Solidität der Römerbauten zu uns redet, ist
nun in sein Gegenteil umgeschlagen. Die altchristliche Baukunst ist
die Kunst eines aufs äusserste übermüdeten Geschlechtes. Sie kargt
und vergeudet zugleich. Die Beraubung und Zerstörung der Ahnen-
werke ist ihr Leben. Wie es möglich ist, dass viele Betrachter hier
Züge von »jugendlicher Frische« begrüssen können, würde uns unbe-
greiflich bleiben, hätten nicht Greisentum und Kindheit eine verhängnis-
volle Aehnlichkeit. Dass aber in dieser dem Alter erliegenden Kunst
von der ehemaligen Grossheit nicht immer noch ein ehrfurchtgebietender
Anteil fortlebe, sind wir gewiss die letzten in Abrede zu stellen.

Und überdies wäre es sehr verfehlt, den Massstab des Urteils
allein dem Vergleich mit dem Vergangenen zu entnehmen. Der zu
der aufsteigenden Linie der Jahrhunderte sich hinüberwendende Blick
erkennt in den Denkmälern der christlichen Frühzeit zugleich die An-
weisung auf ein grosses Neue. Noch nicht dieses Neue selbst, aber
die Vorbereitung dazu. Die antike Baukunst als Ganzes dem Mittel-
alter zu überliefern lag überhaupt nicht in der Macht der Kirche; hätte
sie es vermocht, so wäre die Geschichte um die grossen Erscheinungen
des romanischen und gotischen Stils ärmer geblieben. Anstatt dessen
hat das zur Lehrerin des sich neu gestaltenden Abendlandes berufene
christliche Rom aus der Fülle der Baugedanken seiner Ahnen nur einen
einzigen aufbewahrt und weitergetragen: d. i. den als einheitliche
Innenperspektive gedachten Longitudinalbau. Sie hat diesem Ge-
danken noch keine neue Fassung gegeben , wohl aber in der innigen
Beziehung zu dem, im Altardienste gipfelnden, Kultus ein Lebensprinzip
von vielseitigster Entwicklungsfähigkeit. Der Kirchenbau des abend-
ländischen Mittelalters bewegt sich strikte auf der vorgezeichneten
Linie: er ist wesentlich Geschichte der Basilika. Der Renaissance
— und dürfen wir hinzufügen: der Gegenwart ? — verblieb, den römi-
schen Zentralbaugedanken die hohe Stellung wiederzugeben, die
ihnen gebührt.
 
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