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Dehio, Georg; Bezold, Gustav von
Die kirchliche Baukunst des Abendlandes (Band 1) — Stuttgart, 1892

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https://doi.org/10.11588/diglit.11368#0246
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Zweites Buch: Der romanische Stil.

Ebensoviel ärmer als jener war es aber an frischen aufstrebenden
Kräften, an dem Sauerteig neuer das Volksbewusstsein erregender
Vorstellungen. Dort ein täglicher Eroberungskampf um die Güter
der Humanität, hier ein gedankenlos bequemer Besitz.

Diese an der Kultur im ganzen sich darbietenden Beobachtungen
wiederholen sich genau im einzelnen in der Architekturgeschichte.
Immer ist namentlich das im Auge zu behalten: während im Norden
in der romanischen Epoche es sich allermeist um Neubauten handelt,
sei es Ersetzung dürftiger Erstlingsbauten durch würdigere Monumental-
werke, sei es, der raschen Zunahme der Bevölkerung und dem Wachs-
tum der kirchlichen Institute nachgehend, um Neugründungen auf
jungfräulichem Boden: so war Italien seit Jahrhunderten mit Kirchen-
gebäuden wohlversorgt, und die Beweggründe, die im späteren Mittel-
alter wieder massenhaft neue Stiftungen hervorbrachten — Steigerung
des kirchlichen Sinnes, Gründung neuer Orden, Ruhmsinn der Kom-
munen oder einzelner Reichen —, spielten noch keine grosse Rolle
in der vor den Kreuzzügen liegenden Epoche. Im grossen und ganzen
ist bis dahin die Bauthätigkeit sehr viel seltener auf neue Unterneh-
mungen, als auf das Erhalten und Nachbessern des Vorhandenen
gerichtet. Nachlässigkeit in der Ausführung dieser Art Arbeiten oder
erneute Unfälle durch Feuersbrünste, Erdbeben, Krieg Hessen die
Notwendigkeit der Restaurierung oft in kurzen Fristen wiederkehren,
und so war die Gestalt vieler, um nicht zu sagen der meisten, Ge-
bäude fortwährend gleichsam im Fluss begriffen. Die Neigung, alte
Werkstücke wiederzuverwenden, lag den Italienern vom sinkenden
Reiche her im Blut. Oft waren damit Veränderungen der allgemeinen
Anlage verbunden, ebenso oft aber lag das Verhältnis umgekehrt, d. h.
die allgemeinen Bestimmungen wurden beibehalten und die Einzel-
heiten erneuert. Welche unendlichen Schwierigkeiten daraus für die
geschichtliche Einordnung der Monumente erwachsen, liegt auf der
Hand. In der That steht bis zur Höhe des Mittelalters, wo ein festerer
Zug in die Entwickelung kommt, die baugeschichtliche Chronologie
Italiens auf so schwachen Füssen, wie die keines anderen Landes1).

') Anderer Meinung offenbar ist der neueste Bearbeiter der italienischen Bau-
geschichte im Mittelalter, Oskar Mothes. Er hat die Zeitfolge geradezu zum leitenden
Prinzipe der ganzen Anordnung gemacht, so zwar, dass er jedes Gebäude danach in
seine Bestandteile auseinanderlegt, um sie an dem durchlaufenden annalistischen Faden
wieder aufzureihen. Die überraschende Sicherheit in der Bestimmung der betreffenden
Jahre gewinnt er dadurch, dass er von den zufällig erhaltenen und ihm bekannt gewor-
denen Baunachrichten so viel als irgend möglich mit dem aktuellen Gebäude in Ver-
bindung bringt. Die auf diese Weise gewonnene chronologische Reihe sieht natürlicher
 
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