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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 3.1898-1899

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Schölermann, Wilhelm: Kunstgewerbliches aus Wien
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https://doi.org/10.11588/diglit.6386#0249

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2i8

Wilhelm Schölermann :

KUNSTGEWERBLICHES AUS WIEN.

T~\as Kunsthandwerk hat in Wien lange
Zeit hindurch vom Ruhm seiner Ver-
gangenheit gezehrt. Wie in der hohen Kunst,
war der Anschluss mit der grossen Bewegung
der neueren Zeit völlig unterbrochen, theil-
weise absichtlich vermieden worden. Die
Ursachen sind mannigfacher Art; im Ganzen
hängen sie mit Wiens Rückgang auf po-
litischem, kommerziellem und industriellem
Gebiete zusammen.

Es war einem Manne vorbehalten, diese
stagnirenden Verhältnisse sozusagen mit einem
Ruck zu ändern und frisches Leben in den
trägen Schneckengang des täglichen Einerlei
zu bringen. Dieser Mann ist Hofrath Arthur
von Scala*). Er brachte uns den »neuen Kurs
von oben«, und den neuen Stil dann auf dem
Umweg über London. Darüber hat man sich
in Wien lange Zeit fürchterlich aufgeregt,
in Wort und Schrift bekämpft und gegen-
seitig aus Versammlungslokalen herausge-
worfen, alles um der unschuldigen englischen
Betten, Stühle und Schränke willen! Gegen
den Museumsdirektor hatte der Wiener Kunst-
gewerbeverein ein förmliches Kesseltreiben
veranstaltet, wobei derartige Dinge zur Sprache
kamen, dass der Erzherzog Rainer sich ver-
anlasst sah, sein Protektorat (beiderseitig)
niederzulegen. Wir wollen nicht nochmals
auf diese bekannten Vorgänge eingehen. Nur
soviel scheint zur Klärung der Anschauungen
nicht unwesentlich: zu welchem Zweck Hess
Herr v. Scala die neuen Möbel, ebenso wie
die alten, zunächst streng kopiren? Gerade
das hat man ihm so übel genommen in den
Kreisen der Kunstgewerbetreibenden Warum?
Waren es wirklich nur ästhetische Gründe,
welche die Gemüther so aufregten? Ach ja,
»die Botschaft hör' ich wohl, allein . . .« —
wir wollen aufrichtig sein. Die kunstgewerb-
lichen Arbeiter waren hier nämlich etliche
Jahrzehnte lang nur auf Renaissance, Spät-
Barock oder »Kongressstil« eingeübt. Das
konnten sie kopiren. Nun sollten sie auf
einmal Chippendale und gar Sheraton dazu
lernen ? Also schon wieder etwas Neues, noch

*) Direktor des »Oesterreichischen Museums für
Kunst und Industrie«.

dazu englisch? Das war eine empörende
Zumuthung! Was sollte denn aus den diversen
älteren Lagern werden, wenn der Geschmack
des Publikums sich vielleicht dem neuen Stil
zuwendete? Sollten diese vielen alten Jahr-
gänge noch älter werden? Der Leser merkt
schon, worauf die Sache hinausläuft. Der
Kunstfreund kann die Geschäftsfrage den
Geschäftsleuten überlassen und der Prinzipien-
frage seine ganze Aufmerksamkeit zuwenden.

Es birgt dieser Import eines fremden
Stils in der That eine scheinbare Gefahr, eine
wirkliche nur dann, wenn die Einheimischen
den richtigen Nutzen daraus nicht zu ziehen
wissen. Hofrath v. Scala betrachtet den eng-
lischen Stil in den Wohnungseinrichtungen
als eine Schule für die Wiener Kunsthand-
werker. Um ihnen exaktes Arbeiten und
ein Gefühl für reinen Stil beizubringen, hält
er das strenge, gewissenhafte Kopiren für das
beste Mittel. »Entweder ordentlich kopiren,
oder etwas Eigenes erfinden; ein nachlässiges
tingefähres Kopiren ist immer vom Uebel«, das
wardie Formel, inweicher Herr v. Scala seine
Anschauung zusammenfasste, als er mir die
zweite von ihm veranstaltete Ausstellung
im Oesterreichischen Museum für Kunst und
Industrie zeigte. Dieser Grundsatz scheint
mir durchaus gesund und unanfechtbar und
in dieser einfachen Formulirung ist er geeignet
manche irrthümliche Vorstellung zu beseitigen,
die man sich vielfach von der Thätigkeit des
neuen Museumsdirektors gemacht hat. Was
hier vor allem Noth thut, ist, dass die Leute
begreifen und empfinden lernen, wie ein
Stil naturgemäss und organisch entsteht; nicht
blind nachahmen, sondern verstehen, darauf
kommt's an. Nachdem die Wiener Kunst-
industrie ganz und gar ins Hintertreffen ge-
rathen war, bedurfte sie einer zielbewussten
Durchsetzerkraft, um Wandel zu schaffen.
Es war keine Zeit mehr zu verlieren. Das
Publikum musste endlich merken, dass etwas
in der Welt da draussen vorging, auch ausser-
halb des Weichbildes von Sankt Stephanus,
auch jenseits des Kahlenberges. — Die anglo-
amerikanischen Möbel haben noch einen
Vorzug: sie sind in ihren einfachen P"ormen
mehr für den Mittelstand berechnet, nicht
übermässig kostspielig. Ein echtes Renaissance-
 
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