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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 20.1907

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Kesser, Hermann: Neue Schweizer Malerei
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https://doi.org/10.11588/diglit.9555#0303

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JVeue Schweizer Malerei.

Alltag heraustreten, gewaltsam den Un-
zulänglichkeiten der Aufklärung und der
nüchternen grausamen Tatsachen - Sonde
entrückt sein und unsere Phantasie in ein
Land spazieren führen, wo ein ewig blau-
goldner Himmel lacht, wo wundervolle
Blumen gedeihen und Zauberwesen leben,
wo keine Gesetze, keine Erdenenge den
Flügelschlägen des Begehrens Halt ge-
bieten. Die Kunst hat die Allmacht, uns
diese Welt der Wunder vorzutäuschen.
*

In Boecklin erstand einer Zeit, die das
Empfinden für Sage und Romantik aus
allen Winkeln gejagt hatte, der erste
moderne Romantiker, der dieser Sehnsucht
Ruhe gab. Boecklin war es auch, der
dem zweiten Romantiker der Schweiz,
dem in Solln bei München lebenden
Albert Wellt, für sein Künstlerschaffen
das Geleitwort sprach. Albert Welti hat
dem Meister keine Schande gemacht. In
den Tagen aufgewachsen, als Gottfried
Kellers Gestirn zu steigen anfing, hat er
den Eindruck von Kellers Dichtungen als
Leitmotiv auf seinen Weg genommen.

Beinahe übermächtig im Verhältnis

zu seiner Schaffensmöglichkeit ist Weltis
Phantasie. Kellerscher Humor, volks-
tümliche Poesie und eigene Erfindung
verzahnen sich ineinander und geben
Weltis unermüdlich-redseliger Kunst jenen
Herzenston, den so wenige unter den
Romantikern besitzen. Selbst Boecklins
Witz ist manchmal geklügelt und ge-
künstelt. Welti, ein unerschöpflicher
Ideenminiaturist, wirkt nicht so klar wie
Boecklin, aber gerade durch sein In-
einander - Schachteln von tausend Ideen,
also trotz seiner altmeisterlichen Kraus-
heit, erzeugt er die Vorstellung, daß er ein
wirklicher Malerdichter und ein Künstler
von holder Unbefangenheit ist.

Wenn ihm aber auch die Erzählung
alles gilt und er zuweilen seinen Schöp-
fungen Sinngedichte auf den Weg mit-
gibt, wenn er mit Dutzenden von Radie-
rungen nichts weiter geben will, als Illu-
strationen zu dichterischen Einfällen, so
kann sich der gleiche Welti in seinen
Tafelbildern auf Ruhe und Stil besinnen
und das sind dann Höhepunkte seiner
Kunst, wo er in der Farbe an Nieder-
länder wie Eyck, in der Einfalt der Er-

eduard stiefel—zürich. Radierung: »Angst«.

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