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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 26.1910

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Michel, Wilhelm: Bravour
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https://doi.org/10.11588/diglit.7378#0035

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gänzlich fehlen. Denn das muß man beachten,
daß das Feuer und die Schwungkraft der Pinsel-
führung sehrwohl den Meister verraten können,
den Meister, der sein Darstellungsmittel der-
artig beherrscht, daß er es in der Leidenschaft
des Schaffens sehr frei und großzügig hand-
haben kann. Die Pinselbravour des alten Rem-
brandt ist etwas Bewunderungswürdiges, aber
es ist höchste Divination und seherische Be-
geisterung, was ihn in seinem „SaulundDavid",
in seinem Homerbildnis, in seinem Bildnis des
Bürgermeisters Sixt die Farbe mehr hinwühlen
als hinstreichen läßt.

Uns aber ist, wie gesagt, die Bravour, die
geistreiche Pinselphrase zum Sonderwert ge-
worden ; wo die innere Nötigung dazu fehlt,
wird sie affektiert, und was alle die jungen
Maler fürchten wie die Pest, das ist: zu ver-
raten, daß ihnen die Bewältigung ihrer Auf-
gabe Schwierigkeiten gemacht hat, daß sie
sich ernstlich um das Problem haben bemühen
müssen. Großzügigkeit um jeden Preis! Man
soll den Eindruck gewinnen, als habe sich der

Künstler vor lauter Temperament und blitzen-
den Einfällen gar nicht mehr helfen können.
Nüchterne brave Malersleute stellen sich, als
wären sie und der Pinsel berauscht, und in
mancher Hinsicht erinnert dieses Tun an das
Gebaren der „Sturm- und Drang"-Generation,
die sich bei bravster und redlichster Gesinnung
an barocken, wütenden und tänzerischen Ge-
berden sinnloser Leidenschaft nicht genug tun
konnte. Auch an gewisse Schreibunarten des
neuesten Deutschland wird man erinnert: wie
der Pinsel, so muß auch die Feder geistreich,
sarkastisch und schneidig sein. Der Einfall, das
forsche, witzige Herunterbürsten, die skizzen-
hafte und gewissermaßen explosive Darstel-
lungsweise beherrschen die Schreiber so gut
wie die Maler.

Die Folge davon ist eine jammerswürdige
Armut an tieferem Gehalt, eine Armut, die
sich immer mehr in ihrer gottverlassenen Nackt-
heit offenbart, je länger man ein solches Bild
um sich hat. Bei Leistungen solcher Art sieht
man sich nicht hinein, sondern immer mehr

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