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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 32.1913

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Müller, Esther: Geschmack, Erziehung und Charakter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7014#0114

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Geschmack, Erziehung und Cltarakter.

Iii-

■■Ii

ARCHITEKT FRITZ AUG. BREUHAUS - DÜSSELDORF.

BLICK IN DIE DIELE IM HAUSE ERI.ENHOF.
GARTENSTADT MEERERBUSCH B. DÜSSELDORF.

ein Verbrechen an der Seele des Kindes, indem
sie damit das Gift einer falschen Wertung der
Dinge einimpft. Ich habe noch stets beobachtet,
daß Kinder solcher Eltern getreu der erhaltenen
Anweisung ihre Puppen in der geschmack-
losesten Weise ausputzten und auf Puppen an-
derer Kinder, die nicht ähnlich glänzende Lap-
pen umhatten, mit großerVerachtung herabsahen.
Wenn solche Kinder ihre Puppen anziehen, so
geschieht es nicht, um sie zu bekleiden, sondern
um sie auszuschmücken. Die Zierart wird zum
Hauptzweck, über dem alles andere, d. h. die
eigentliche Zweckmäßigkeit, vergessen wird;
das sich selbst und anderen Gefallen wird zur
großen Triebfeder aller Unternehmungen, über
der schließlich alle Selbstgenügsamkeit verküm-
mert. Aus dem Haschen nach dem Effekte
folgt das Affektieren, und der kleine Affe ist
fertig, der heute leider noch so häufig in unseren
gut bürgerlichen Familien gezüchtet wird.

In späteren Jahren treten die Gegenstände
der nächsten Umgebung, wie Möbel, Wand-
schmuck, textile und keramische Gebrauchs-
und Luxusgegenstände, schließlich die „Kunst-

gegenstände" im engeren Sinne, wie Bilder,
Plastiken, in den Kreis der Dinge, an denen sich
der heranwachsende Geschmack übt. Wie auch
hier systematisch jede gesunde Zweckmäßigkeit
geleugnet und eine hohle Scheinkultur aufrecht-
erhalten wird, ist bekannt genug, und in den
Puppenstuben unserer Kinder kann man ihre
Wirkung trefflich studieren. Da zeigt sich die
künftige Hausfrau bemüht, eine imponierende
und protzige Welt des falschen Scheins zu
zaubern. Man mißverstehe mich hier nicht.
Gewiß ist es das Vorrecht des Kindes, sich aus
einem dürftigen Wenig ein glänzendes Alles zu
schaffen. Aber es handelt sich gerade um das
Gegenteil, daß mit einem großen Aufwand an
Mitteln etwas ganz Widersinniges vorgetäuscht
werden soll (z. B. Puppenmöbel, die zwar
äußerst komplizierte Verzierungen haben —
aber keine Schiebladen, keine Türen), wo man
mit weniger etwas Positives hätte herstellen
können. Die falsche Verwendung der Mittel —
nicht ihre Unzulänglichkeit — die Verkennung
der Zweckmäßigkeit, weil irgend eine Neben-
absicht (nämlich zu imponieren) sich in den

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