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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 42.1918

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Kurth, W.: Tizians Venus mit Orgelspieler
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https://doi.org/10.11588/diglit.7199#0061

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Tizians Venus mit Orgelspieler.

CARL STOCK—FRANKFURT.

» KAMINPLATTE IN EISENGUSS«

Zum erstenmale begegnet uns jene ruhende
Gestalt weiblicher Schönheit in der „Venus von
Urbino II. um 1538 (Florenz-Uffizien); Motiv
des Liegens und Körperideal halten sich noch
ganz in der Nähe der maßvollen Kunst Gior-
giones. Als er aber von Rom zurückkehrt und
die unmittelbar ergreifende Macht der Formen
Michelangelos erfahren hat, bricht jene stille
erste Knospe zur vollen Blüte und Reife auf.
Als ob er Michelangelo hätte die Lücke in
seinem großen Werke aufzeigen wollen, schaffte
Tizian um 1546 eine zweite Venus von den
gesteigerten Formen eines satten und reifen
Daseins, das dem Wesen Michelangelos in der
Gestalt der Frau zu bilden versagt war. Mit
jener zweiten „Venus mit dem Amor" (ebenfalls
in den Uffizien in Florenz) stimmt die Venus
auf dem Berliner Bild überein. Es sind dieselben
vollen, fast prallen Formen, dieselben groß-
schwingenden Kurven, dieselbe Lage mit dem
Amor. Doch fehlt jener Uffizien-Venus der
Orgelspieler: ein Motiv, das Tizian bald darauf
in einer Venus in Madrid wiederholte. Das
neue Motiv des Orgelspieler stört aber den
leidenschaftslosen Charakter der Venus- und
Amorgruppe nicht. Amor spricht auf die Göttin
ein, den werbenden Klängen der Musik Gehör
zu schenken, während der Kavalier fragenden
Blicks auf die Antwort wartet.

In der Komposition besitzt das Berliner
Exemplar gegenüber dem berühmten Exemplar
in Madrid Vorzüge, die dem seltsamen Motiv
eine größere Ungezwungenheit sichern. In
Madrid sitzt der Spieler auf dem Bettrand der
Schönen, hier auf der Orgelbank, welche ihm
durch das Herübernehmen des einen Beines
über den Schemel für den Ausdruck des Mo-
ments in der Bewegung größere Lebhaftigkeit

und Freiheit gewährt. Dieselbe jugendliche
Frische umfängt den Kopf das Kavaliers, dessen
Formen: die rötlichblonden Locken, die leicht
gestupste Nase mit der kurzen Oberlippe und
den vollen blühenden Lippen große Ähnlich-
keit mit dem damaligen Kronprinzen, späteren
König Philipp IL, verraten. Das Kolorit dieser
Gestalt ist von jener souveränen Großartigkeit,
die die auflockernde Lokalfarbe in einen zu-
sammenfassenden Goldstrom einzubinden weiß.
Goldgelb in den Beinkleidern, kupferrot in
den Ärmeln, kastanienbraun im Wams; alles
spielt in einer Harmonie von Gold mit der trun-
kenen Seligkeit eines Pinsels, der mehr schreibt
als Flächen modelliert. Dieses Gold zieht in
die Landschaft hinein, den Hügel zum Schloß
hinauf. Und im Gegensatz zur goldenen Harmo-
nie das kalte Stahlgrau der Orgelpfeifen und
in der Ferne das tiefe Blau der Berge. Größer
und reicher in den einzelnen Gegensätzen
brausen die vollen Farbakkorde auf der Seite
der Schönen. Wie eine verhaltene Glut unter
der Asche glimmt das Rot des Samtmantels,
um alle leuchtende Pracht dem Körper der
Venus zuzuleiten. Dunkelgrün spielt das Futter
des Mantels hinein, und das Weiß des Leinen-
zeugs perlet und glitzert wie Kristall und gibt
mit seinem Gegensatzwerten der Haut einen
weichen Charakter. Das große freie Tempera-
ment dieses Koloristen weiß, daß durch die
Ökonomie der Gegensätze höhere Wirkungen
des Stofflichen erzielt werden können, als durch
alle Bravour der Mittel. Nur in dem pracht-
vollen Hund bricht der ganze Mutwillen von
Tizians Pinsel durch und amüsiert sich mit der
Erregtheit des Tieres. Ganz al prima schreibt
er hier ein Stück Natur herunter, die treibende
Kraft des Lebens enthüllend.

DR. W. KURTH.
 
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