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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 42.1918

DOI Artikel:
Bombe, Walter: Was ist Expressionismus? , [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7199#0278

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PH. ROSENTHAL
& CO. A.-G.
SELB, BAYERN.

»TEMPELWEIHE«
MODELL VON
F. LIEBERMANN.

WAS IST EXPRESSIONISMUS?

(FORTSETZUNG UND SCHLUSS.)

In seinem Buche „Expressionismus" weist
Hermann Bahr darauf hin, daß wir dem Eng-
länder Sir Francis Galton, einem Enkel des
Erasmus Darwin, der 1911 starb, heute welt-
bekannt als Begründer der Wissenschaft der
Eugenetik, auch eine Anzahl wertvollster Un-
tersuchungen über das innere Sehen verdanken,
über die Möglichkeit des Sehens mit geschlos-
senen Augen, also nicht auf Grund eines äu-
ßeren Netzhautreizes, sondern vermöge der
Willenskraft des Geistes. In seinem Haupt-
werke „Inquiries into human faculty and its
development" in „Everyman's Library 1883"
erschienen, finden sich höchst merkwürdige
Feststellungen über die Unterschiede zwischen
dem äußeren und dem inneren Sehen. Er weist
da auch auf die Tatsache hin, daß das geistige
Bild zuweilen mehr enthält als das sinnliche,
daß man mit den Augen des Geistes das auf
einmal sehen kann, was wir sonst nur hinter-
einander sehen, z. B. alle 4 Wände eines Zim-
mers, alle 6 Seiten eines Würfels, gewisser-
maßen die ganze Oberfläche abtastend, was
er als eine Art Tastsicht bezeichnet. Wir er-
blicken mit dem Auge des Geistes eine Welt,

die von der realen Umwelt um uns abweicht.
— Das geistige Sehen hat nach Bahr die Kraft,
die Welt nach anderen Gesetzen zu schaffen, als
denen des leiblichen Sehens. Wenn das Auge
des Leibes sich rein passiv verhält, so bedarf
das Auge des Geistes der Nachbilder der Wirk-
lichkeit nur als des Stoffes für seine Kraft, ja,
es findet in der Natur sogar oft ein Hemmnis.

Das geistige Sehen ist, wie Bahr weiter aus-
führt, ein persönlicher Willensakt, eine Vision,
ein inneres Schauen, ein Schauen, nicht auf
einen äußeren, sondern auf einen inneren Reiz
hin, ein Schauen mit geschlossenen Augen, und
trotz des Fehlens äußerer Reize ein Schauen
mit vollkommener Sicherheit.

Schon in Johannes Müllers, des genialen
Lehrers Virchows, Dubois - Reymonds und
Haeckels, 1826 erschienenen Schriften „Phy-
siologie des Gesichtssinnes" und in seiner
kurzen Abhandlung „Über die phantastischen
Gesichtserscheinungen" werden seltsame Vi-
sionen geschildert, die dieser große Physiologe
vor dem Einschlafen mit geschlossenen Augen,
aber auch bei hellem Tage gehabt hat, innere
Gesichte, die er durch Fasten zu einer wun-

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