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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 54.1924

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Hofmann, Ludwig von: Die Kunst und die wirtschaftliche Not
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https://doi.org/10.11588/diglit.8536#0317

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Die Kunst und die wirtschaftliche Not.

Hier Hegt der Schwerpunkt einer Betrach-
tung, die der Tätigkeit des frei schaffenden
Künstlers ihre besondere Stellung anweist, die
namentlich — um eine aktuelle Frage zu
streifen — der angewandten Kunst gegenüber
festgehalten werden muß, da diese ihre eigene
Aufgabe hat, mit praktischen Zwecken unweiger-
lich sich auseinandersetzen, Bedürfnisse ganz
realer Art befriedigen muß, während die reine
Anschauung, das Element des frei schaffenden
Künstlers, durch solche Rücksichten nur ge-
trübt, seine Tätigkeit aus der ihr allein ange-
messenen Sphäre — der Freiheit von den Ge-
setzen der Notdurft — gerissen wird.

Die ganze Fragestellung, die der angeblich
Spenglersche Satz enthält, ist also derart, daß
wir Künstler sie entschieden ablehnen müssen,
weil wir tief davon überzeugt sind, daß die
Kunst noch immer zu den Lebensnotwendig-
keiten höchsten Ranges gehört in ihrer Eigen-
schaft als wesentliche Erscheinungsform des
menschlichen Geistes. Sie ist ihrem wahren
Begriff nach keine Spielerei und kein Luxus,
sondern eine innere Bereicherung von einzig-
artigem Wert, keine überflüssige Laune der
Schaffenden, keine Unterhaltung für die Lieb-
haber, sondern eine Offenbarung. — Sie ist
weit mehr als ein Schmuck des Lebens, ja bei
einem Blick auf die kurze Spanne der mensch-
lichen Geschichte tritt die überragende Be-
deutung der Kunstdenkmäler, ihre lang an-
dauernde unmittelbar lebendige immer neu be-
fruchtende Wirkung, die den Untergang von
Staaten und Weltreichen, den ewigen Wechsel
der Verfassungen, Regierungsformen, Gesetze,
Gesellschaftsordnungen um Jahrtausende über-
lebt, diese Bedeutung tritt mit solchem tiber-
irdischen Glanz hervor, daß man glauben
möchte, die Kunst sei der eigentliche Sinn des
menschlichen Daseins.

Ich denke, es liegt auch für uns kein Grund
vor, sie abzuschaffen, auch kein zwingender
Beweis für ihren Verfall. Betrachten wir doch
einen Augenblick unbefangen die Summe oder
den Querschnitt der neueren Kunstentwicklung
wie sie uns vorliegt. Unbefangen, d. h. wir

müssen dabei wohl versuchen, den persönlichen
Geschmack etwas beiseite zu schieben, ja wenn
wir uns soweit überwinden können, möglichst
auszuschalten. Er ist eine Tatsache von sehr
beschränkter, rein individueller Wichtigkeit;
als Maßstab zur Beurteilung allgemeiner grund-
sätzlicher Fragen daher schlechterdings unge-
eignet! — Die Bewegung, die wir als neue
Kunst erleben, stellt eine Reaktion von großer
Heftigkeit dar, wie sie in der Geschichte der
Kunst immer wieder eintritt, wenn neue An-
schauungen, neue Forderungen sich dem bishe-
rigen Kunstschaffen entgegenstellen. Als Ver-
fallerscheinung kann ein solcher Vorgang prin-
zipiell niemals angesehen werden 1

Oder sollten, in unserem gegenwärtigen Fall,
alle die Energien, die ganze Vitalität, die wir
der Bewegung doch unmöglich absprechen
können, sollte der tiefe Ernst, mit dem neue
Problemstellungen erfaßt werden, dieses Ringen
um die bedeutsame Form, um die letzte Wirk-
lichkeit, die orgiastische Steigerung der Farbe
zur äußersten Pracht und Ausdrucksfähigkeit,
dieser glühende Wille, das Erlebnis mit vollster
Prägnanz zu gestalten, dieser Mut, sich zur
eigenen Seele zu bekennen, diese Unmittel-
barkeit und unverblümte Offenheit, die Mannig-
faltigkeit, die mächtige Spannung zwischen
polaren Möglichkeiten, die sich daraus ergeben,
selbst dies rücksichtslose, subjektivistische
Draufgängertum mit seinen Brutalitäten und
Ungeheuerlichkeiten, die den Rahmen der Kunst
oft genug zu sprengen drohen: sollte dies alles
nur der Bemühung zu verdanken sein, eine
sterbende Kunst am Leben zu erhalten? Warum
kann man nicht in alledem einen Aufschwung
sehen, die kraftvollen Ansätze und Äußerungen
einer neuen, großen Kunst, die lebendige Erfül-
lung und Gestaltung dessen, was dem Geftihls-
gehalt einer neuen Zeit entspricht? Warum also
sollen wir glauben müssen, am Ende zu sein?
Während doch vor unseren Augen eine ganze
Reihe stärkster Begabungen am Werke sind,
denen jüngere nachzurücken sich anschicken?

Selbst was wir von den eben erwähnten
Brutalitäten, den sogenannten Peitschenhieben,
 
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