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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 54.1924

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Niebelschütz, Ernst von: Chinesische Baukunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.8536#0371

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Chinesische Baukunst.

PROF. RICHARD RIEMERSCHM1D.

»AUS NEBENST. SCHLAFZIMMER«

das Blumenstück mit seiner botanischen Exakt-
heit — das alles ist der praktisch-positivistische
Geist des Nordens, verkörpert durch den
großen Moralisten und Staatsmann der Chi-
nesen. Er bedurfte der Ergänzung, und schon
früh wurde sie ihm zuteil, und zwar aus den
eigensten schöpferischen Kräften des Volkstums
heraus: durch Laotse, den mystischen Denker
und seine je länger je mehr von indischer Weis-
heit durchglühte Alleinheitslehre. Ein rein lyri-
sches Element bemächtigt sich nun der Kunst,
die zum Gefäß seelischer Stimmungen wird
und mit wenigen schwebenden Tuschtönen das
innerste Wesen einer im Winde schwankenden
Bambusstaude oder den Glockenklang eines
fernen Tempels als dichterisches Erlebnis im
Bilde festzuhalten weiß. Konfutse und La-
otse, man kann auch sagen Erde und Himmel,
Norden und Süden, Lebensklugheit und Gott-
sehnsucht — das ist unter verschiedenen Na-
men der Ausdruck der doppelten Seele dieses
Volkes. Es ist, wenn man will, die aus innerer
Not vorgenommene Selbstkorrektur. Der Bud-
dhismus tat dann ein übriges, das Lebensideal
reicher und voller zu gestalten, die mit allem

Chinesischen gegebene Erdfrömmigkeit zu ver-
tiefen und zugleich zu erhöhen. Immer wieder
treten diese beiden Grundzüge, der des prak-
tisch-moralisierenden Realismus und der andere
eines pantheistischen Allgefühls, nebeneinander
auf, fließen aber in den erhabensten Kunst-
werken Chinas ruhig ineinander wie zwei
Ströme, die, aus ganz verschiedenen Richtungen
kommend, sich im weiten offenen Weltmeer
seelisch vereinigen.

Die sakrale Architektur läßt dieses merk-
würdige Doppelseelentum, diesen zur Schlich-
tung in sich selbst gebrachten Widerstreit ent-
gegengesetzter Prinzipien, unschwer erkennen.
In Planung und Aufbau von nüchterner Ver-
standesklarheit, entwickelt der Tempel in seinen
Ziergliedern, namentlich denen der Dachregion,
eine verwegen-phantastische, das ursprünglich
Festgegründete fast wieder aufhebende Orna-
mentik, die in ihrer spielerischen Beweglichkeit
alles Europäische in dieser Gattung weit hinter
sich läßt. Darum wurde die erst mit dem Bud-
dhismus eingeführte, dem konfuzianischen Nor-
den ganz wesensfremde Pagode so schnell in
der chinesischen Tempelarchitektur heimisch,

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