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Bädeker
die Herrschaften, die nach Tcplitz gehen, verlassen hier den
Zug!" erregte ihre ganze Theilnahme. Hier mußte man
sich trennen; Felsing ging mit seiner Familie nach Teplih,
unsere beiden Reisenden wollten direkt nach Prag. Man
nahm Abschied, jenen kurz abgebrochnen, unleidlichen, herz-
losen, der leider auf Eisenbahnen und Dampfschiffen üblich
geworden. Man hat nicht Zeit oder glaubt nicht Zeit zu
haben, sich die Hand beim Abschiede zu schütteln und dem
flüchtigen, geflügelten Abschiedsworte: „Gute Reise!" und
dem Winken des Auges die Versicherung dauernden Andenkens
hinzuzufügen. Alles geht hier mit Dampf unter dem Ein-
flüsse des schrillen Pfiffs. Nach stundenlangem, heitern Zu-
sammensein schreckt er die Herzen, die sich noch auf keine
> Trennung vorbereitet, auseinander; der Schlag wird geöffnet,
nein! aufgerissen; Alles greift nach den Sachen und eilt
der Thür zu und stobt und fliegt auseinander und nimmt
mit sich die unangenehme Empfindung, wie wenn man plötz-
lich und barsch aus süßem Traume geweckt, oder wie wenn
ein anmuthiges Musikstück mitten in dem schönsten Satze mit
einem schrillen, falschen Tone abgebrochen wird.
Aehnliche Empfindungen hatten unsere beiden Reisenden,
als die Familie Felsing nach flüchtigem: „Gute Reise, meine
Herren!" eiligst den Wagen verließ und sich unter dem Ge-
woge der Kommenden und Gehenden verlor. Sie sahen sich
eine Weile gegenseitig wie mit stummen Vorwürfen an. Der
Assessor fand zuerst die Sprache wieder und sagte halb zu
sich selbst, halb zu seinem Gefährten: „Es ist eigentlich ganz
unverantwortlich, einen Ort wie Teplitz so links liegen zu lassen!"
„Ich glaub' cs selbst," erwiderte Letzterer wie in Ge-
danken vertieft, „aber Du trägst die Schuld."
„Wie so?"
„Weil Du, nicht ich, den ganzen Reiseplan gemacht hast
und Reisemarschall und Kassenführer in einer Person bist."
„Gut!" erwiderte der Assessor rasch entschlossen, „ich
werde meinen Schnitzer wieder gut machen. Wir fahren nach
Tcplitz!"
„Aber unser Gepäck!" warf zögernd sein Gefährte ein,
„es wird, fürcht' ich, keine Zeit dazu sein, die Sache zu be-
werkstelligen."
„Ein guter Entschluß bedarf keiner langen Zeit zur
Ausführung. Zwei Minuten genügen mir und zwölf haben
wir." Damit war er mit einem Sprunge aus dem Wagen;
die'Billcts waren zwar bis Prag bereits genommen, indessen
was ist der Verlust von ein paar Thalern bei einer solchen
Veranlassung? Mit Hilfe eines Trinkgeldes war die Sorge
wegen Umpackung des Gepäcks rasch beseitigt, und bald saßen
sie wieder mit der Familie Felsing, die ganz und gar nicht
unangenehm von dieser schnellen Abänderung des Reiseplans
überrascht war, traulich in einem Coupo beisammen und
dampften gen Teplitz mit dem Vorsatze, dort zwei bis drei
Tage zu verweilen. Aber aus den zwei bis drei Tagen
wurden vier, fünf, sechs, ja acht, und Keiner der beiden
Freunde erinnerte an die Weiterreise, ja Jeder fürchtete, der
Andere möchte sie in Anregung bringen. Aber die beiden
junior.
hübschen Nürnbergerinnen hatten auch eine magnetische Kraft
in ihren Augen, die zehn Pfund Eisen hätte in die Höhe
heben können. Was Wunder, daß sie damit zwei preußische
Juristen festhielten, die zwar sonst als etwas widerhaarig
bekannt sind, aber den Magneten schöner Mädchenaugcn um
so williger gehorchen. Und in der That, die Familie Felsing
würde die Abreise dcrbeidenFreunde schmerzlich empfunden haben.
Papa Felsing mußte seiner Kur leben, hatte keine Bekanntschaft in
Teplitz und suchte sic auch nicht. Was hätten die jungen,
lebenslustigen Mädchen, die nnr zur Gesellschaft dcö Vaters
hier waren und weder Bad noch Brunnen der Gesundheit
wegen brauchten, in Teplih anfangen sollen, wenn die beiden,
liebenswürdigen und galanten Ritter sie verließen, die
ihnen die Gunst des Himmels oder dcö Zufalls so unerwartet
zugeführt hatte, die jeden Nachmittag einen unterhaltenden
Ausflug in die paradiesische Umgegend veranstalteten, bald
einen Ritt zu Esel auf de» Milleschauer, bald einen solchen
zu Pferde, — die Mädchen ritten mit eben so viel Gewandt-
heit als Anmuth, — nach dem Kloster Osseg, bald sie mit
einem Morgen- oder Abcndständchen überraschten und jeden
ihrer Tage zu einem genußreichen machten. Und die Wahr-
heit erfordert es zu sagen, die beiden Freunde widmeten sich
ohne alle Verabredung nur dem Dienste der eben so harm-
losen als dankbaren Mädchen. Früh Morgens schon waren
sie an der Seite derselben, wenn sic dem Vater beim Brnnnen-
trinken Gesellschaft leisteten. Später fütterten sie mit ein-
ander die Karpfen im Schloßteichc, und erwarteten dort den
Papa, der nach dem Bade seinen Spaziergang in den schönen
Alleen des Schloßgartcns machte. Mittags aßen sie mit
ihnen gemeinschaftlich in der Stadt London, und nach Tische
ging es zu einem Ausflüge nach irgend einem schönen Punkte,
von dem sie meistens erst spät am Abend zurückkchrten.
So lebten denn die jungen Männer sorglos in den
Tag hinein. Sie blieben die zweite, sie blieben die dritte
Woche dort und wären sicherlich auch noch die vierte ge-
blieben, wenn sich inmittelst nicht ein bedenklicher Umstand j
eingestellt hätte, der mit jedem Tage bedenklicher wurde und
den sonst vor lauter Wohlsein übersprudelndcn Assessor nach-
denklich, ja fast reizbar machte. Eines Abends, eö war just
am Schluste der dritten Woche, kehrten die beiden Freunde
von einem mit der Familie Fclsing veranstalteten genuß-
reichen Auofluge ziemlich spät in die Stadt London, wo sie
Logis genommen, zurück. Der Staatsanwalt warf sich bald
auf's Bett und las zur Vorbereitung auf den Schlaf im
Bädeker, während der Assessor im Zimmer noch nachdenklich
auf- und abging. Es war, als trüge er etwas auf dem
Herzen, was ihm sauer anging auszusprechen. Nach längerem
Zögern sprach er zu seinem Freunde: „Höre, Müller, ich
habe Dir eine interessante Mittheilung zu machen."
„Sprich, ich crtheile Dir das Wort!" entgegnetc laut
gähnend der Angeredete.
„Gut! ich wollte Dir nur sagen, daß wir morgen ab-
reisen müssen!"
„Warum müssen, Otto?" erwiderte sein Freund halb
I
Bädeker
die Herrschaften, die nach Tcplitz gehen, verlassen hier den
Zug!" erregte ihre ganze Theilnahme. Hier mußte man
sich trennen; Felsing ging mit seiner Familie nach Teplih,
unsere beiden Reisenden wollten direkt nach Prag. Man
nahm Abschied, jenen kurz abgebrochnen, unleidlichen, herz-
losen, der leider auf Eisenbahnen und Dampfschiffen üblich
geworden. Man hat nicht Zeit oder glaubt nicht Zeit zu
haben, sich die Hand beim Abschiede zu schütteln und dem
flüchtigen, geflügelten Abschiedsworte: „Gute Reise!" und
dem Winken des Auges die Versicherung dauernden Andenkens
hinzuzufügen. Alles geht hier mit Dampf unter dem Ein-
flüsse des schrillen Pfiffs. Nach stundenlangem, heitern Zu-
sammensein schreckt er die Herzen, die sich noch auf keine
> Trennung vorbereitet, auseinander; der Schlag wird geöffnet,
nein! aufgerissen; Alles greift nach den Sachen und eilt
der Thür zu und stobt und fliegt auseinander und nimmt
mit sich die unangenehme Empfindung, wie wenn man plötz-
lich und barsch aus süßem Traume geweckt, oder wie wenn
ein anmuthiges Musikstück mitten in dem schönsten Satze mit
einem schrillen, falschen Tone abgebrochen wird.
Aehnliche Empfindungen hatten unsere beiden Reisenden,
als die Familie Felsing nach flüchtigem: „Gute Reise, meine
Herren!" eiligst den Wagen verließ und sich unter dem Ge-
woge der Kommenden und Gehenden verlor. Sie sahen sich
eine Weile gegenseitig wie mit stummen Vorwürfen an. Der
Assessor fand zuerst die Sprache wieder und sagte halb zu
sich selbst, halb zu seinem Gefährten: „Es ist eigentlich ganz
unverantwortlich, einen Ort wie Teplitz so links liegen zu lassen!"
„Ich glaub' cs selbst," erwiderte Letzterer wie in Ge-
danken vertieft, „aber Du trägst die Schuld."
„Wie so?"
„Weil Du, nicht ich, den ganzen Reiseplan gemacht hast
und Reisemarschall und Kassenführer in einer Person bist."
„Gut!" erwiderte der Assessor rasch entschlossen, „ich
werde meinen Schnitzer wieder gut machen. Wir fahren nach
Tcplitz!"
„Aber unser Gepäck!" warf zögernd sein Gefährte ein,
„es wird, fürcht' ich, keine Zeit dazu sein, die Sache zu be-
werkstelligen."
„Ein guter Entschluß bedarf keiner langen Zeit zur
Ausführung. Zwei Minuten genügen mir und zwölf haben
wir." Damit war er mit einem Sprunge aus dem Wagen;
die'Billcts waren zwar bis Prag bereits genommen, indessen
was ist der Verlust von ein paar Thalern bei einer solchen
Veranlassung? Mit Hilfe eines Trinkgeldes war die Sorge
wegen Umpackung des Gepäcks rasch beseitigt, und bald saßen
sie wieder mit der Familie Felsing, die ganz und gar nicht
unangenehm von dieser schnellen Abänderung des Reiseplans
überrascht war, traulich in einem Coupo beisammen und
dampften gen Teplitz mit dem Vorsatze, dort zwei bis drei
Tage zu verweilen. Aber aus den zwei bis drei Tagen
wurden vier, fünf, sechs, ja acht, und Keiner der beiden
Freunde erinnerte an die Weiterreise, ja Jeder fürchtete, der
Andere möchte sie in Anregung bringen. Aber die beiden
junior.
hübschen Nürnbergerinnen hatten auch eine magnetische Kraft
in ihren Augen, die zehn Pfund Eisen hätte in die Höhe
heben können. Was Wunder, daß sie damit zwei preußische
Juristen festhielten, die zwar sonst als etwas widerhaarig
bekannt sind, aber den Magneten schöner Mädchenaugcn um
so williger gehorchen. Und in der That, die Familie Felsing
würde die Abreise dcrbeidenFreunde schmerzlich empfunden haben.
Papa Felsing mußte seiner Kur leben, hatte keine Bekanntschaft in
Teplitz und suchte sic auch nicht. Was hätten die jungen,
lebenslustigen Mädchen, die nnr zur Gesellschaft dcö Vaters
hier waren und weder Bad noch Brunnen der Gesundheit
wegen brauchten, in Teplih anfangen sollen, wenn die beiden,
liebenswürdigen und galanten Ritter sie verließen, die
ihnen die Gunst des Himmels oder dcö Zufalls so unerwartet
zugeführt hatte, die jeden Nachmittag einen unterhaltenden
Ausflug in die paradiesische Umgegend veranstalteten, bald
einen Ritt zu Esel auf de» Milleschauer, bald einen solchen
zu Pferde, — die Mädchen ritten mit eben so viel Gewandt-
heit als Anmuth, — nach dem Kloster Osseg, bald sie mit
einem Morgen- oder Abcndständchen überraschten und jeden
ihrer Tage zu einem genußreichen machten. Und die Wahr-
heit erfordert es zu sagen, die beiden Freunde widmeten sich
ohne alle Verabredung nur dem Dienste der eben so harm-
losen als dankbaren Mädchen. Früh Morgens schon waren
sie an der Seite derselben, wenn sic dem Vater beim Brnnnen-
trinken Gesellschaft leisteten. Später fütterten sie mit ein-
ander die Karpfen im Schloßteichc, und erwarteten dort den
Papa, der nach dem Bade seinen Spaziergang in den schönen
Alleen des Schloßgartcns machte. Mittags aßen sie mit
ihnen gemeinschaftlich in der Stadt London, und nach Tische
ging es zu einem Ausflüge nach irgend einem schönen Punkte,
von dem sie meistens erst spät am Abend zurückkchrten.
So lebten denn die jungen Männer sorglos in den
Tag hinein. Sie blieben die zweite, sie blieben die dritte
Woche dort und wären sicherlich auch noch die vierte ge-
blieben, wenn sich inmittelst nicht ein bedenklicher Umstand j
eingestellt hätte, der mit jedem Tage bedenklicher wurde und
den sonst vor lauter Wohlsein übersprudelndcn Assessor nach-
denklich, ja fast reizbar machte. Eines Abends, eö war just
am Schluste der dritten Woche, kehrten die beiden Freunde
von einem mit der Familie Fclsing veranstalteten genuß-
reichen Auofluge ziemlich spät in die Stadt London, wo sie
Logis genommen, zurück. Der Staatsanwalt warf sich bald
auf's Bett und las zur Vorbereitung auf den Schlaf im
Bädeker, während der Assessor im Zimmer noch nachdenklich
auf- und abging. Es war, als trüge er etwas auf dem
Herzen, was ihm sauer anging auszusprechen. Nach längerem
Zögern sprach er zu seinem Freunde: „Höre, Müller, ich
habe Dir eine interessante Mittheilung zu machen."
„Sprich, ich crtheile Dir das Wort!" entgegnetc laut
gähnend der Angeredete.
„Gut! ich wollte Dir nur sagen, daß wir morgen ab-
reisen müssen!"
„Warum müssen, Otto?" erwiderte sein Freund halb
I