162 Von Michaelis
„Nichts, nichts Schlimmes, Vefcl. Aber jetzt muß ich
Dir, ehe ich mich völlig auspacke, etwas zeigen, doch zünde
noch eine Kerze an, ich bitte Dich, es muß dazu hell sein,
ganz hell!"
Genovefa ging in banger Bestürzung, ihres Ehehcrrn
Begehr zu erfüllen und eine zweite Kerze zu holen; indessen
hob Herr Laufner die kleine Truhe auf den Tisch, seine Hand
bebte und zitterte, so daß er sie kaum erschließen mochte,
und all seine Kraft mußte er zusammcnnchmcn, um zur Gattin,
als diese mit brennender Kerze zurückkehrte, gelassen sagen
zu können: „Befel, sieh' Dir diese Sachen an, und . .. und
sage mir, hast Du sie je gesehen, oder sind sie Dir ganz
unbekannt?" Mußte es sich doch nun entscheiden, ob trotz
all der anderen Wahrscheinlichkeit sein süßes Hoffen nur ein
eitler Trug gewesen oder nicht.
Befremdet und besorgt schaute Frau Genovefa den Gatten
an, als er ihr das Bündel hinrcichte, cs war in seinem
Wesen eine solche Aufregung, daß sie fast fürchtete, ihr Da-
niel sei draußen in der Kälte hintersinnig geworden und rede
irre; als aber dieser zitternd das Kleidchen auf den Tisch
gebreitet, als sie darauf hingesehen — einen Augenblick stand
sic wie starr, noch ein Blick, und in lautes Weinen brach
sic aus. „Daniel, Daniel! Mein Gott, mein Gott! woher?
woher?" und aufraffte sie das Kleidchen und drückte es an
ihr Gesicht und sank in den Sessel und schluchzte und weinte
laut und heftig. Den Gatten aber durchrieselte cö, wie da-
mals beim ersten Lesen jener Schrift, ein Schauer der Wonne
und namenlosen Entzückens. Nun war der letzte Zweifel
gehoben, und aus' des Mannes Augen strömten unwillkürlich
die Thräncn der Freude und des Mitleids. „Sind sie'ö?"
fragte er mit erstickter Stimme. „Daniel, Daniel," schrie
nun die Weinende auf, „woher? wo fand man sie? wie ist
unser Lenel gestorben? O Gott, o Gott! mein süßes Kind!"
Und Laufner konnte nicht sprechen, so war ihm das Herz
und die Brust voll Wehmuth und Freude, er preßte die
weinende Gattin an seine Brust und rang endlich die Worte
heraus: „Vefel, das Kind.. das Kind, das die Kleider ge-
tragen . . es lebt . . es lebt noch." „Lebt? lebt? Daniel?"
rief sie mit fast kreischender Stimme, krampfhaft umfaßte sie
den Gatten, drängte ihn dann von sich auf Armeslänge und
schaute ihn angstvoll fragend an, die ganze Seele voll freu-
digen Schrecks, voll Furcht und Hoffnung war in ihrem Blick.
„Lebt? Daniel, wo, wo? um Gottcswillen, unser Leuchen! wo?"
„Vefel ... in Straubing . . . fand ich sie. . ." —
„In Straubing? und hast Du sie nicht . . .?" — „Ja, ja
Vefel; ich Hab sic mitgebracht!" „Mitgebracht! O Jesus,
Maria, unser Kind, unser Kind, wo ist sie? wo ist sic? hin,
hin zu ihr!" — „Draußen, draußen, in der Herberge, ich
hole sic gleich!" —„Mein Lcnchcn, mein Leuchen! Ja bring
sie, bring sic, aber wie hast Du sie gefunden — doch bring
sie! Gott, Gott! Ja, das ist ihr Kleidchen, o du armes,
liebes Kind! mein Leuchen, mein Leuchen, aber geh', geh' und
hole sie, mein Kind, mein Kind!" So redete die Frau wirr
und hastig durcheinander, der freudige Schreck dieses uner-
bis Silvester.
wartet hereingebrochcnen Glücks mußte sich Luft machen in
Worten und Thränen, auf und ab rannte sie im Gemach
und fiel immer von Neuem dem Gatten um den Hals, ihn
krampfhaft umschlingend. — „Aber, Vefel," bat der besorgte
Gatte, „sei stark, beruhige Dich. Ich hole sie ja, aber sei
stark." — „Ja, ja, ich will's sein! O mein Lenchen, mein
Lcnchen! Ich kann'ö ja nicht glauben!" und schluchzend sank
sie in den Sessel zurück. Laufner rief Sabinen, die alte,
treue Magd herbei und hieß sic bei der Frau bleiben. Als
Sabine eintrat, ganz bestürzt über des Herrn aufgeregten
Zustand und seine thräncnfeuchten Augen, sprang ihre Herrin
auf, eilte ihr entgegen und rief schluchzend: „Sabel, Sabel,
da, da, sich nur!" und hielt ihr das Kleidchen entgegen.
„Unser Lenchen, unser Lenchen gefunden . . und lebt!" und
die alte, treue Magd stand erschrocken da, und konnte nichts
verstehen und begreifen; als ihr aber Herr Laufner in eiligen,
flüchtigen Worten erklärt, wie sie ihr verlornes Lcnchcn wie-
der gefunden, da brach auch sic in helles Weinen aus und
— im Uebcrmaaß der Empfindung deö Leides wie der Freude
verschwinden alle Schranken — die Frau fiel der Magd um
den Hals und beide weinten vereint.
Laufner aber eilte nun fliegenden Fußes, getragen von
der jubelnden Freude seines Inneren, nach der Herberge zu-
rück, um sein Kind, nun ohne allen Zweifel sein Kind, in'S
Vaterhaus zu holen.
Als er in daS weite düstere Wirthszimmer eintrat und
forschend umherschautc, erhob sich Magdalene, die sich zum
Heerdfeuer und zu der dort beschäftigten Wirthin zurück-
gezogen hatte. Es war dem Kinde in dem öden fremden
Raume recht bange geworden, und die Wartezeit hatte ihr
gar lang dünken wollen; endlich trat der freundliche alte
Herr, ihr Erretter auö banger Sorge und Furcht, in'ö Ge-
mach ein, und verlangend eilte sic ihm entgegen. Laufner
aber schloß sie in die Arme und preßte sie heftig an sich.
Wie oft hatte sein Herz in den letzten Tagen gebrannt, das
liebliche Kind an sich zu ziehen mit den Worten: „Ich bin
ja Dein Vater, Lcnchen, und Du unser langvcrmißtcs, viel-
bewcintes Kind, und daheim findest Du Deine Mutter!"
In den langen Jahren voll Weh und Kummer war sein
Herz mißtrauisch geworden gegen die Huld des Glückes, und
die bange Besorgniß, er könne sich doch noch täuschen, hatte
sich immer wieder hindurchgcdrängt durch die frohe Gewiß-
heit. Nun aber war jeder Zweifel gehoben, die Mutter hatte
ihres Kindes Kleider erkannt. „Lcnchen, Lcnchcn! mein
Lenchen!" rief er mit erstickter Stimme; „was ich schon längst
gehofft, ist nun gewiß: Du bist unser Kind; ich bin Dein
Vater, Lenchen! komm, die Mutter wartet mit Schmerzen
auf Dich!" Magdalene war wie betäubt. Unterwegs, als
der glückliche Vater sein Kind dem elterlichen Hause zuführte,
erzählte er ihr, wie sie vor zehn Jahren ihr Kind verloren,
wie ihm Meister Weiler's Schrift schon habe ahnen lasten,
sic müsse sein verloren Töchtcrlein sein, wie die Mutter nun
die Kleider erkannt, die sic damals getragen, als sic von
Weiler gefunden worden.
„Nichts, nichts Schlimmes, Vefcl. Aber jetzt muß ich
Dir, ehe ich mich völlig auspacke, etwas zeigen, doch zünde
noch eine Kerze an, ich bitte Dich, es muß dazu hell sein,
ganz hell!"
Genovefa ging in banger Bestürzung, ihres Ehehcrrn
Begehr zu erfüllen und eine zweite Kerze zu holen; indessen
hob Herr Laufner die kleine Truhe auf den Tisch, seine Hand
bebte und zitterte, so daß er sie kaum erschließen mochte,
und all seine Kraft mußte er zusammcnnchmcn, um zur Gattin,
als diese mit brennender Kerze zurückkehrte, gelassen sagen
zu können: „Befel, sieh' Dir diese Sachen an, und . .. und
sage mir, hast Du sie je gesehen, oder sind sie Dir ganz
unbekannt?" Mußte es sich doch nun entscheiden, ob trotz
all der anderen Wahrscheinlichkeit sein süßes Hoffen nur ein
eitler Trug gewesen oder nicht.
Befremdet und besorgt schaute Frau Genovefa den Gatten
an, als er ihr das Bündel hinrcichte, cs war in seinem
Wesen eine solche Aufregung, daß sie fast fürchtete, ihr Da-
niel sei draußen in der Kälte hintersinnig geworden und rede
irre; als aber dieser zitternd das Kleidchen auf den Tisch
gebreitet, als sie darauf hingesehen — einen Augenblick stand
sic wie starr, noch ein Blick, und in lautes Weinen brach
sic aus. „Daniel, Daniel! Mein Gott, mein Gott! woher?
woher?" und aufraffte sie das Kleidchen und drückte es an
ihr Gesicht und sank in den Sessel und schluchzte und weinte
laut und heftig. Den Gatten aber durchrieselte cö, wie da-
mals beim ersten Lesen jener Schrift, ein Schauer der Wonne
und namenlosen Entzückens. Nun war der letzte Zweifel
gehoben, und aus' des Mannes Augen strömten unwillkürlich
die Thräncn der Freude und des Mitleids. „Sind sie'ö?"
fragte er mit erstickter Stimme. „Daniel, Daniel," schrie
nun die Weinende auf, „woher? wo fand man sie? wie ist
unser Lenel gestorben? O Gott, o Gott! mein süßes Kind!"
Und Laufner konnte nicht sprechen, so war ihm das Herz
und die Brust voll Wehmuth und Freude, er preßte die
weinende Gattin an seine Brust und rang endlich die Worte
heraus: „Vefel, das Kind.. das Kind, das die Kleider ge-
tragen . . es lebt . . es lebt noch." „Lebt? lebt? Daniel?"
rief sie mit fast kreischender Stimme, krampfhaft umfaßte sie
den Gatten, drängte ihn dann von sich auf Armeslänge und
schaute ihn angstvoll fragend an, die ganze Seele voll freu-
digen Schrecks, voll Furcht und Hoffnung war in ihrem Blick.
„Lebt? Daniel, wo, wo? um Gottcswillen, unser Leuchen! wo?"
„Vefel ... in Straubing . . . fand ich sie. . ." —
„In Straubing? und hast Du sie nicht . . .?" — „Ja, ja
Vefel; ich Hab sic mitgebracht!" „Mitgebracht! O Jesus,
Maria, unser Kind, unser Kind, wo ist sie? wo ist sic? hin,
hin zu ihr!" — „Draußen, draußen, in der Herberge, ich
hole sic gleich!" —„Mein Lcnchcn, mein Leuchen! Ja bring
sie, bring sic, aber wie hast Du sie gefunden — doch bring
sie! Gott, Gott! Ja, das ist ihr Kleidchen, o du armes,
liebes Kind! mein Leuchen, mein Leuchen, aber geh', geh' und
hole sie, mein Kind, mein Kind!" So redete die Frau wirr
und hastig durcheinander, der freudige Schreck dieses uner-
bis Silvester.
wartet hereingebrochcnen Glücks mußte sich Luft machen in
Worten und Thränen, auf und ab rannte sie im Gemach
und fiel immer von Neuem dem Gatten um den Hals, ihn
krampfhaft umschlingend. — „Aber, Vefel," bat der besorgte
Gatte, „sei stark, beruhige Dich. Ich hole sie ja, aber sei
stark." — „Ja, ja, ich will's sein! O mein Lenchen, mein
Lcnchen! Ich kann'ö ja nicht glauben!" und schluchzend sank
sie in den Sessel zurück. Laufner rief Sabinen, die alte,
treue Magd herbei und hieß sic bei der Frau bleiben. Als
Sabine eintrat, ganz bestürzt über des Herrn aufgeregten
Zustand und seine thräncnfeuchten Augen, sprang ihre Herrin
auf, eilte ihr entgegen und rief schluchzend: „Sabel, Sabel,
da, da, sich nur!" und hielt ihr das Kleidchen entgegen.
„Unser Lenchen, unser Lenchen gefunden . . und lebt!" und
die alte, treue Magd stand erschrocken da, und konnte nichts
verstehen und begreifen; als ihr aber Herr Laufner in eiligen,
flüchtigen Worten erklärt, wie sie ihr verlornes Lcnchcn wie-
der gefunden, da brach auch sic in helles Weinen aus und
— im Uebcrmaaß der Empfindung deö Leides wie der Freude
verschwinden alle Schranken — die Frau fiel der Magd um
den Hals und beide weinten vereint.
Laufner aber eilte nun fliegenden Fußes, getragen von
der jubelnden Freude seines Inneren, nach der Herberge zu-
rück, um sein Kind, nun ohne allen Zweifel sein Kind, in'S
Vaterhaus zu holen.
Als er in daS weite düstere Wirthszimmer eintrat und
forschend umherschautc, erhob sich Magdalene, die sich zum
Heerdfeuer und zu der dort beschäftigten Wirthin zurück-
gezogen hatte. Es war dem Kinde in dem öden fremden
Raume recht bange geworden, und die Wartezeit hatte ihr
gar lang dünken wollen; endlich trat der freundliche alte
Herr, ihr Erretter auö banger Sorge und Furcht, in'ö Ge-
mach ein, und verlangend eilte sic ihm entgegen. Laufner
aber schloß sie in die Arme und preßte sie heftig an sich.
Wie oft hatte sein Herz in den letzten Tagen gebrannt, das
liebliche Kind an sich zu ziehen mit den Worten: „Ich bin
ja Dein Vater, Lcnchen, und Du unser langvcrmißtcs, viel-
bewcintes Kind, und daheim findest Du Deine Mutter!"
In den langen Jahren voll Weh und Kummer war sein
Herz mißtrauisch geworden gegen die Huld des Glückes, und
die bange Besorgniß, er könne sich doch noch täuschen, hatte
sich immer wieder hindurchgcdrängt durch die frohe Gewiß-
heit. Nun aber war jeder Zweifel gehoben, die Mutter hatte
ihres Kindes Kleider erkannt. „Lcnchen, Lcnchcn! mein
Lenchen!" rief er mit erstickter Stimme; „was ich schon längst
gehofft, ist nun gewiß: Du bist unser Kind; ich bin Dein
Vater, Lenchen! komm, die Mutter wartet mit Schmerzen
auf Dich!" Magdalene war wie betäubt. Unterwegs, als
der glückliche Vater sein Kind dem elterlichen Hause zuführte,
erzählte er ihr, wie sie vor zehn Jahren ihr Kind verloren,
wie ihm Meister Weiler's Schrift schon habe ahnen lasten,
sic müsse sein verloren Töchtcrlein sein, wie die Mutter nun
die Kleider erkannt, die sic damals getragen, als sic von
Weiler gefunden worden.