LI Grabungs- und Forschungsgeschichte (Ursula Quatember)
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Erste Konzepte für Wiederaufbauten antiker Gebäude entstanden in Griechenland und Italien
bereits im 19. Jahrhundert117. Die zugrunde liegenden Vorstellungen und angewandten Methoden
variierten jedoch sehr. So galten etwa die auf der Akropolis zwischen 1895 und 1939 von Niko-
laos Balanos ausgeführten Maßnahmen lange Zeit als vorbildlich118. Seinen Prämissen zufolge,
sollten antike Werkstücke wieder an ihren ursprünglichen Platz versetzt werden, und Ergänzun-
gen aus neuem Material nur dort vorgenommen werden, wo aus statischen Gründen unbedingt
nötig119. Diese Ersatzstücke sollten nach Balanos in der Regel aus modernen Materialien gefertigt
werden, für Architrave hingegen sei auch Marmor zulässig. Der massive Einsatz von Eisen und
Stahlbeton führte durch die mit diesen Materialien verbundene Korrosion jedoch langfristig zu
konservatorischen Problemen, die seit den späten 1970er Jahren wiederum intensive Restaurie-
rungsmaßnahmen an den Bauten der Akropolis erforderten120. Aus heutiger Sicht spiegelt der
Einsatz dieser damals neuen Materialien durch Balanos auch eine gewisse optimistische Grund-
haltung gegenüber den modernen Technologien wider, wie sie auch für die 1950er Jahre und
den Wiederaufbau des >Hadrianstempels< in Ephesos noch charakteristisch war. Ihre negativen
Auswirkungen sollten sich mit entsprechender zeitlicher Verzögerung auch an diesem Bauwerk
zeigen121.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Italien und Griechenland weitere Wiederaufbauten
umgesetzt, so beispielsweise an der Villa Hadriana in Tivoli122 oder an zahlreichen Tempeln in
Griechenland unter der Leitung von Anastasios Orlandos123. Während in der Villa Hadriana zahl-
reiche Hinzufügungen aus Kunststein vorgenommen wurden, verfolgte Orlandos sowohl auf der
Akropolis als auch an anderen Stätten in Griechenland - anders als sein Vorgänger Balanos - ein
Konzept von Natursteinergänzungen, die sich den vorhandenen Bruchflächen weitgehend anpass-
ten. In den Jahren 1953-1956 wurde auf der Agora von Athen die Attalos-Stoa rekonstruiert,
wobei man wieder nach vollkommen anderen Prämissen arbeitete: Es handelt sich um ein neu
errichtetes Gebäude, das auf einer theoretischen Rekonstruktion beruht und dessen Bauglieder
nach alten Steinmetztechniken aus pentelischem Marmor neu gearbeitet wurden. Im Vorder-
grund stand dabei nicht eine Veranschaulichung des antiken Baubefunds, sondern die Schaf-
fung von Museums- und Depoträumen für die auf der Agora stattfindenden Ausgrabungen. Die
Geschossdecken bestehen deshalb aus Stahlbeton und das Raumkonzept berücksichtigt moderne
Anforderungen wie beispielsweise Toilettenanlagen124. Es ist davon auszugehen, dass Miltner
über all diese Arbeiten unterrichtet war, auch wenn er - vielleicht abgesehen von der Attalos-
Stoa, zu der zahlreiche Berichte publiziert worden waren - vermutlich nicht über Detailwissen
verfügte. Wie der Versuch, Naturstein für Ergänzungen zu verwenden, zeigt125, waren ihm die
an unterschiedlichen Orten angewandten Methoden jedenfalls bekannt. Die Entscheidung, am
>Hadrianstempel< eisenbewehrten Beton zu verwenden, ist - gerade auch angesichts der seither
entstandenen Schäden - im Kontext ihrer Zeit und vor dem Hintergrund der verfügbaren Materi-
alien zu bewerten126. Das Konzept des Wiederaufbaus ist klar von Leitlinien geprägt, wie sie etwa
besonders bemühte.«, Miltner 1956, 51 bzw. gleichlautend Miltner 1957c, 19. s. dazu auch Wiplinger 1990, 329;
Schmidt 1993, 209 f. Abb. 246 (dort fälschlich K. H. Göschl zugeschrieben); Wohlers-Scharf 1995, 261.
117 Zu einem allgemeinen Überblick der historischen Entwicklung s. Schmidt 1993, bes. 59-121.
118 Balanos 1938; vgl. dazu auch Schmidt 1993, 81-87.
119 Balanos 1938, 9.
120 Vgl. die diesbezüglichen internationalen Tagungen: Erechtheion 1977; Malluchu-Tufano 1985 und die Publikati-
onsserie »Study for the Restoration of the Parthenon«, herausgegeben vom griechischen Kuhurministerium.
121 Vgl. dazu Kap. II.2.
122 Aurigemma 1962, bes. 72 f. zu dem >Teatro marittimo< und 100-126 mit Abb. zu dem >Canopos<; Schmidt 1993,
123 f.
123 Schmidt 1993, 127-135.
124 Zu dem Wiederaufbau der Attalos-Stoa s. Thompson 1949a, 124-140; Thompson 1949b, 226-229; Thompson
1950, 316-326; Thompson 1951, 49-53; Thompson 1952, 85 f.; Thompson 1954, 55-57; Thompson 1955,
59-61; Thompson 1956, 66-68; Thompson 1957, 103-107. Zusammenfassend s. Schmidt 1993, 221-224.
125 s. o. Kap. 1.1.3.
126 So auch Schmidt 1993, 125 f.
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Erste Konzepte für Wiederaufbauten antiker Gebäude entstanden in Griechenland und Italien
bereits im 19. Jahrhundert117. Die zugrunde liegenden Vorstellungen und angewandten Methoden
variierten jedoch sehr. So galten etwa die auf der Akropolis zwischen 1895 und 1939 von Niko-
laos Balanos ausgeführten Maßnahmen lange Zeit als vorbildlich118. Seinen Prämissen zufolge,
sollten antike Werkstücke wieder an ihren ursprünglichen Platz versetzt werden, und Ergänzun-
gen aus neuem Material nur dort vorgenommen werden, wo aus statischen Gründen unbedingt
nötig119. Diese Ersatzstücke sollten nach Balanos in der Regel aus modernen Materialien gefertigt
werden, für Architrave hingegen sei auch Marmor zulässig. Der massive Einsatz von Eisen und
Stahlbeton führte durch die mit diesen Materialien verbundene Korrosion jedoch langfristig zu
konservatorischen Problemen, die seit den späten 1970er Jahren wiederum intensive Restaurie-
rungsmaßnahmen an den Bauten der Akropolis erforderten120. Aus heutiger Sicht spiegelt der
Einsatz dieser damals neuen Materialien durch Balanos auch eine gewisse optimistische Grund-
haltung gegenüber den modernen Technologien wider, wie sie auch für die 1950er Jahre und
den Wiederaufbau des >Hadrianstempels< in Ephesos noch charakteristisch war. Ihre negativen
Auswirkungen sollten sich mit entsprechender zeitlicher Verzögerung auch an diesem Bauwerk
zeigen121.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Italien und Griechenland weitere Wiederaufbauten
umgesetzt, so beispielsweise an der Villa Hadriana in Tivoli122 oder an zahlreichen Tempeln in
Griechenland unter der Leitung von Anastasios Orlandos123. Während in der Villa Hadriana zahl-
reiche Hinzufügungen aus Kunststein vorgenommen wurden, verfolgte Orlandos sowohl auf der
Akropolis als auch an anderen Stätten in Griechenland - anders als sein Vorgänger Balanos - ein
Konzept von Natursteinergänzungen, die sich den vorhandenen Bruchflächen weitgehend anpass-
ten. In den Jahren 1953-1956 wurde auf der Agora von Athen die Attalos-Stoa rekonstruiert,
wobei man wieder nach vollkommen anderen Prämissen arbeitete: Es handelt sich um ein neu
errichtetes Gebäude, das auf einer theoretischen Rekonstruktion beruht und dessen Bauglieder
nach alten Steinmetztechniken aus pentelischem Marmor neu gearbeitet wurden. Im Vorder-
grund stand dabei nicht eine Veranschaulichung des antiken Baubefunds, sondern die Schaf-
fung von Museums- und Depoträumen für die auf der Agora stattfindenden Ausgrabungen. Die
Geschossdecken bestehen deshalb aus Stahlbeton und das Raumkonzept berücksichtigt moderne
Anforderungen wie beispielsweise Toilettenanlagen124. Es ist davon auszugehen, dass Miltner
über all diese Arbeiten unterrichtet war, auch wenn er - vielleicht abgesehen von der Attalos-
Stoa, zu der zahlreiche Berichte publiziert worden waren - vermutlich nicht über Detailwissen
verfügte. Wie der Versuch, Naturstein für Ergänzungen zu verwenden, zeigt125, waren ihm die
an unterschiedlichen Orten angewandten Methoden jedenfalls bekannt. Die Entscheidung, am
>Hadrianstempel< eisenbewehrten Beton zu verwenden, ist - gerade auch angesichts der seither
entstandenen Schäden - im Kontext ihrer Zeit und vor dem Hintergrund der verfügbaren Materi-
alien zu bewerten126. Das Konzept des Wiederaufbaus ist klar von Leitlinien geprägt, wie sie etwa
besonders bemühte.«, Miltner 1956, 51 bzw. gleichlautend Miltner 1957c, 19. s. dazu auch Wiplinger 1990, 329;
Schmidt 1993, 209 f. Abb. 246 (dort fälschlich K. H. Göschl zugeschrieben); Wohlers-Scharf 1995, 261.
117 Zu einem allgemeinen Überblick der historischen Entwicklung s. Schmidt 1993, bes. 59-121.
118 Balanos 1938; vgl. dazu auch Schmidt 1993, 81-87.
119 Balanos 1938, 9.
120 Vgl. die diesbezüglichen internationalen Tagungen: Erechtheion 1977; Malluchu-Tufano 1985 und die Publikati-
onsserie »Study for the Restoration of the Parthenon«, herausgegeben vom griechischen Kuhurministerium.
121 Vgl. dazu Kap. II.2.
122 Aurigemma 1962, bes. 72 f. zu dem >Teatro marittimo< und 100-126 mit Abb. zu dem >Canopos<; Schmidt 1993,
123 f.
123 Schmidt 1993, 127-135.
124 Zu dem Wiederaufbau der Attalos-Stoa s. Thompson 1949a, 124-140; Thompson 1949b, 226-229; Thompson
1950, 316-326; Thompson 1951, 49-53; Thompson 1952, 85 f.; Thompson 1954, 55-57; Thompson 1955,
59-61; Thompson 1956, 66-68; Thompson 1957, 103-107. Zusammenfassend s. Schmidt 1993, 221-224.
125 s. o. Kap. 1.1.3.
126 So auch Schmidt 1993, 125 f.