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Göbel, Heinrich; Göbel, Heinrich [Hrsg.]
Wandteppiche (II. Teil, Band 1): Die romanischen Länder: Die Wandteppiche und ihre Manufakturen in Frankreich, Italien, Spanien und Portugal — Leipzig, 1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.16360#0318
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Tours. Touraine. Grenzgebiete

Flaschen mit dem kostbaren Saft, eine überweist er der Gemeinde von Tours, die
zweite den Glaubigen von Angers, die dritte der Kirche von Candes.

Im Vordergründe kniet Sankt Martin in vollem Ornate; ein Geistlicher hält den
schweren Mantel; mit einem Messer sticht der Heilige in die Erde, das Märtyrerblut
sprudelt empor; zur Aufnahme stehen vier (nicht drei) phiolenartige Gefäße bereit.
Die beiden Sarkophage sind mit Tüchern verhüllt, die das Hoheitszeichen der Le-
gion tragen. Geistliche — ein Mönch hält das große Yortragskreuz — und Laien
wohnen in Andacht der heiligen Handlung bei. Im Hintergrunde vollzieht sich die
Bergung der Märtyrerleichen, unmittelbar nach dem blutigen Ende der Glaubens-
zeugen. Engel balsamieren die Leichname und hüllen sie in Laken mit dem Kreuzes-
zeichen. Zur Rechten erhebt sich eine reizvoll durchgeführte Burganlage, hinter
einem Hügel lugen Türme und Mauern einer Stadt. Die Folge zeigt eine so starke
Verwandtschaft mit der Stephanusgeschichte im Musöe de Cluny, daß dieselbe, zum
mindesten eine eng liierte Werkstätte in Frage kommt. Der Behang besitzt eine
Länge von 4,40 m und eine Höhe von 2,37 m; er geht in seinen Abmessungen über
die üblichen Chorstuhlbehänge hinaus. Die St. Martinuslegende findet eine dritte (65)
Bearbeitung in der Folge von Montpezat bei Cahors (Tarn-et Garonne), deren Ent-
stehung in den Beginn der dreißiger Jahre des 16. Jahrhunderts fällt. Der Stifter ist
Jean Desprez de Montpezat, der in den Jahren von 1519 bis 1539 die Würde eines
Bischofs von Montauban bekleidete. Sein Neffe Antoine de Lettes führt 1521 Lyette, die
Erbin der Schoßherrschaft Fou (bei Chätellerault) heim und läßt sich in Poiteau — die
Touraine liegt in unmittelbarer Nachbarschaft — nieder. Die verwandtschaftlichen Be-
ziehungen des Kirchenfürsten zu der Touraine genügen naturgemäß nicht zur Zuschrei-
bung der dritten Martinusserie an ein Atelier der Loire. Die Folge war mehrfach
Gegenstand literarischen Interesses. Angeblich (66) soll die Serie die genaue Kopie
einer Gemäldereihe darstellen, die einst Bischof Jean d'Auriole der Sankt Martins-
kirche zu Montpezat verehrte, die jedoch bereits in den religiösen Kämpfen des
Jahres 1551 der Vernichtung anheimfiel. Stilistische Gründe machen die Behauptung
nicht gerade wahrscheinlich. Die uns überkommene Folge umfaßt fünf Behänge mit je
drei Episoden, sie mißt in der Höhe 1,83 m, in der Gesamtlänge 23,88 m und trägt
verschiedentlich das Wappen des Stifters. Schriftbänder, weiße gotische Buchstaben
auf rotem Grunde, erläutern zu Häupten der Episoden die durch Renaissancesäulen
oder Pfeiler getrennten Darstellungen.

Die Serie beginnt mit der bekannten Mantellegende — vor dem Tore von Amiens
teilt der ritterliche Heilige seinen Mantel und deckt die Blöße eines Bettlers —; im
Geiste erscheint ihm der Heiland „der war gekleidet mit dem Stücke seines
Mantels, das er dem Armen hatte gegeben". Es folgen entsprechend den Schilderun-
gen der Legenda aurea das Zusammentreffen mit den beiden Räubern in den Alpen
(67), die Einsetzung als Bischof von Tours, die Zerstörung des heidnischen Tempels,
das Baumwunder, die Heilung eines Gelähmten, die Austreibung eines Dämons, die
Gesundung des Aussätzigen durch den Kuß des Heiligen, der schlimme Sturz durch
die Tücke eines Teufels, die Genesung durch die Gnade der Madonna, die Entlarvung
des Satans, der vorgibt Christus zu sein, die wundersame Errettung aus dem bren-
nenden Kloster durch die Kraft des Gebetes, das Handschuhwunder und die Messe.

Wenn auch die Abbildung, die Charles de Grandmaison seinem Aufsatz in der
Röunion des soeiötes des beaux-arts des däpartements beigibt, herzlich schlecht ist —
andere Abzüge waren nicht zu erlangen —, so verrät sie doch immerhin die starke
Verwandtschaft mit den vorbesprochenen Serien, — namentlich was die Architektur
und die Behandlung der Gewänder betrifft.

Etwa in der gleichen Zeitspanne wie die Martinusfolge zu Angers entstand die Ge-
schichte der Heiligen Gervasius und Prothasius in der Kathedrale zu Mans. Der Stifter
war der aus Angers gebürtige Kanonikus Martin Guerande, der als Sekretär des Kar-
dinals Philippe de Luxembourg und seines Neffen Francois de Luxembourg, der die
Würde eines Bischofs von Mans bekleidete, eine einflußreiche Stellung im Domkapitel

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