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Grimm, Herman; Grimm, Herman [Editor]
Fragmente (Band 1,1) — Berlin, Stuttgart: Spemann, 1900

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https://doi.org/10.11588/diglit.47241#0076
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schmerzliche Betrachtung. Iphigeniens Rede wird zagender.
Hülfsbedürftig blickt sie umher. Tiefe Stille erfüllt die Luft.
Sie kenut zu gut dieses Schweigen des fremden Landes. In
Griechenland hätte sie das Geflüster des Waldes selbst ver-
standen ! Zögernd wendet sie sich um, steigt die letzten Stufen
zum Tempel empor und verschwindet zwischen seinen gewaltigen
Säulen. So schlösse der erste Aufzug.
Iphigeniens Monolog ist eins der herrlichsten Stücke
menschlicher Dichtung. Seine Entstehung zu verfolgen, schafft
innersten Einblick in die Werkstätte des Goethe'schen Geistes.
Zuerst schrieb er:
Du hast Wolken, gnädige Retterin,
Den Unschuldigen einzuhüllen
Und auf Winden ihn dem ehernen Geschick
Aus dem schweren Arm über Meer und Erde
Und wohin dir's gut dünkt, zu tragen!
So der erste Theil der Bitte, in der Iphigenie, Diana
an das erinnernd, was sie einst für sie gethan, ihr andeutet,
was sie nun von ihr erhoffe.
Weiter betet sie:
Du bist weise und siehst das Zukünftige —
Und das Vergang'ne ist dir nicht vorbei!
Enthalte vom Blute meine Hände,
Denn es bringt keinen Segen;
Und die Gestalt des Ermordeten erscheint
Auch dem zufälligen Mörder zur bösen Stunde.
In diesem zweiten Theile ihrer Rede bescheidet sich
Iphigenie schon, etwas weniger von Diana zu erflehen. Im
dritten aber wendet sie sich fast nur an sich. Sie erbittet
nichts, sie reflectirt. Sie erinnert sich daran, wie Tantalus
für die kurze Weile, die er mit den Göttern den Himmel
theilen durfte, zu ewigen Qualen verdammt ward. Der dritte
 
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