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Grimm, Herman; Grimm, Herman [Editor]
Fragmente (Band 1,1) — Berlin, Stuttgart: Spemann, 1900

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https://doi.org/10.11588/diglit.47241#0107
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Philoktet gegenüber auffällt. Manchem dürfte der Gedanke
aufsteigen, dies Werk des Sophokles sei ans das Goethe's
von Einfluß gewesen. Aber ich wende mich Nachforschungen
dieser Art bei großen Dichtern und Künstlern immer mehr
ab, da fortschreitende Erfahrung mich in dem Glauben be-
festigt, alles menschlich Große und Schöne sei den bevorzugten
Vertretern der Menschheit als angeborenes Erbtheil von An-
fang an mitgegeben worden:
Neoptolem wird von Odysseus zu Philoktet gebracht, der
beim Zuge der Griechen nach Troja, weil seine Wunde uner-
träglichen Gestank verbreitete, auf einer wüsten Insel ausgesetzt
worden war. Ohne die Geschosse des Herakles aber, mit
denen der Leidende sein Leben fristet, kann Troja nicht ge-
wonnen werden, und Neoptolem ist ausersehen worden, sie,
wie es auch sei, dem armen Kranken abzunehmen. Philoktet's
völliges Vertrauen zum Sohne Achill's macht es diesem un-
möglich, die ihn: gewordene Aufgabe, von deren Erfüllung
das Heil der griechischen Armee abhängt, auszuführen. Sopho-
kles bringt den Zwiespalt in der Seele des edlen Jünglings
weniger ausführlich als Goethe die inneren Kämpfe Iphi-
geniens auf die Bühne. Tief ergriffen, vergessen wir die
Jahrtausende, die uns heute von Sophokles trennen. Und
so schwindet Iphigeniens Seelengual gegenüber für uns
Goethe's eigne Person hinweg und die endliche Entscheidung
.Iphigeniens als ihrer eigenen Richterin nimmt unsere höchste
Theilnahme hin. Das ist Goethe's Wille gewesen: deshalb
hat er in zartzugespitzten Reden und Widerreden Alles erschöpft,
was hier zur Sprache kommen mußte. Und daher ist Goethe's
Iphigenie, wie er zuletzt sie gestaltete, zur Richterin ihrer und
unserer Gefühle geworden. Als Königstochter, als Priesterin
 
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