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Grimm, Herman; Grimm, Herman [Editor]
Fragmente (Band 1,1) — Berlin, Stuttgart: Spemann, 1900

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https://doi.org/10.11588/diglit.47241#0265
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Mann ist die Gegenwart nur der Abschluß einer abgethanen Ver-
gangenheit, auf die die Zeit des Aufhörens der Arbeit gefolgt ist.
Für das Kind soll die Gegenwart vielmehr der Beginn einer
neuen Entwickelung sein, für die mitzuwirken es einst berufen
sein wird. Es lernt diese Gegenwart zuerst kenuen, weil ihr
Inhalt, ihre Hülfsmittel und Ziele das Wichtigste sind, was
gelernt werden kann. Dies der Grund, weshalb in der Sexta
der Anfang des Kaiserreiches zuerst als etwas behandelt wird,
das keine Vorgeschichte hat. Mit zunehmendem Verständnisse
erst erfährtderKnabe, welche Entwickelung unter den sechs Königen
stattfand. Wiederum aber so, als fange damit seine Welt
an. Dann erst wird ihm der Blick geöffnet auf die in der
Ferne liegenden Anfänge Deutschlands. Er lernt wiederum
neue Zeiten kennen. Er hat nun tausend Jahre deutscher Ent-
wickelung in geistigem Besitze. Jetzt erst wird die römische
und endlich die griechische Welt ihm aufgeschlossen. Wer
möchte dies ein Rückschreiten nennen? Es ist ein geistiges Em-
porklimmen, wo auf jedem Ruhepunkte die Aussicht sich
erweitert.
Wie trübselig dagegen, wenn überall nur an die letzte
Phase der historischen Personen angeknüpft würde, da deren
Emporkommen innerhalb ihrer Epochen vielmehr zu schildern
ist. Als ein ungeheures Leichenfeld würde die Welt vor dem
Kinde sich ausbreiten. Jede Biographie trüge den Charakter
einer Grabschrift. Alle Freude, die dem beginnenden Menschen
aus der Hoffnung auf ein unbestimmtes, aber sicheres Glück
zuströmt, würde sich in die resignirte Erwartung unausbleib-
lichen Unterganges verkehren.
Unsere Zeit unterscheidet sich darin von der Epoche, die
wir hinter uns haben, daß die früher in der Vergangen-
Herman Grimm, Fragmente. 16
 
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