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Grimm, Herman; Grimm, Herman [Hrsg.]
Fragmente (Band 1,1) — Berlin, Stuttgart: Spemann, 1900

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https://doi.org/10.11588/diglit.47241#0337
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Und hier leb' ich so hin. Verlassen, dunkel,
Ohne Liebs und Leben. Böse macht mich
Böse Umgebung. Ehrfurcht und alle Tugend
Reiß' ich selber mir aus der Brust und schmiede
Mich zum Verächter der Menschen um: was anders
Lehrt mich die Herde um mich her? Und so fliegen
Diese Jahre der Jugend- kostbare Zeit,
Kostbarer noch als Ruhm und Lorbeer, kostbarer
Als das Leuchten des Tags und das Athmen selber,
Fliegen dahin, und fruchtlos, ohne Genuß
Seh' ich dich so an dieser menschunwürdigen
Stätte zu Grunde gehen, des dürren Daseins
Einzige Blüthe, jugendliches Alter!
Horch, es trägt mir der Wind vom Kirchthurm drüben
Töne herüber: es schlägt! Wie trostreich klang das
Oftmals Nachts in das finstre Zimmer hinein,
Wo ich als Kind, von Schreckensphantomen umlagert,
Sehnlich den Tag erwartete. Hier umgibt mich
Nichts, das nicht irgend ein Bild in mir erweckte —
Süß als Erinnerung, aber der Gegenwart
Bitterkeit fließt hinein — eine Sehnsucht dessen,
Was einst war, sogar vergangener Schmerzen,
Und eine Stimme, die sagt: Du bist gewesen! —
Jener Balcon, von wo der sinkenden Sonne
Ich ins Auge gesehen; die Mauern dort,
Bunt bemalt mit allerlei Thiergestalten,
Alles: Morgen und Abend, über den stillen,
Menschenverlassenen Feldern, boten der Seele
Tausend Entzückungen dar, so lange der mächt'ge
Jrrthum neben mir ging, wo es auch war,
Und mir Märchen erzählte. Hier, im alten
Saale, Winters, wenn der Schnee durch die weiten
Fenster herein schien und der Wind erseufzte,
Jauchzt' ich und jubelte, denn noch däuchte des Lebens
Trank mir süß, und das ekelhafte Geheimnih
Unseres Daseins hatten die Kinderaugen
Nicht errathen: ein unerfahrener Fant,
Sah ich das Leben voll und in fleckenloser
Schönheit vor mir und streckte seinen Reizen
Sehnsuchtsvoll die kleinen Arme entgegen.
 
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