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Grimm, Herman; Grimm, Herman [Editor]
Fragmente (Band 1,1) — Berlin, Stuttgart: Spemann, 1900

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https://doi.org/10.11588/diglit.47241#0343
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319

Villa Albani besaß, als ich in Rom noch heimisch war,
ein griechisches Werk, das beim ersten Anblicke für immer in
mein Gedächtniß eindrang. Eine Arbeit edelster Art: ein ver-
wachsener nackter Körper, realistisch genau in Marmor aus-
geführt, und zwischen seinen Schultern der Kopf aufrecht sich
erhebend, aus dessen Antlitz die milde Grazie männlich hohen
Geistes uns entgegen leuchtet. Ein gedankenvolles Haupt. Ein
gütiger Blick. Ein sich zum Lächeln wendender Mund. Heiter-
keit, Zufriedenheit, Ueberlegenheit sichtbar, es ist Jrrthum
hier unmöglich. Wo nun steckt das Eigentliche in diesem
Griechen? Das Unsterbliche, wie Goethe in den letzten Scenen
des „Faust" sagt? (Die „Entelechie" hatte er zuerst setzen
wollen.) Es gibt keine zuverlässigen Bildnisse Leopardi's, aber
zwischen seinem Haupte, um das ewiger Lorbeer sich wölbt,
und dem Reste seines Körpers waltete ein Gegensatz wie bei
der marmornen Gestalt (die man Aesop genannt hat). Nicht
so stark wie bei diesem, immerhin aber hervortretend, und
auch in Leopardi's Stirn haben Gedanken gelebt, die ihn
über die irdischen Entbehrungen hinaustrugen, welche seine
Gestaltung ihm auferlegen mußte.
Ich weiß nicht, ob es einem neueren Bildhauer gelun-
gen wäre, eine so entzückende Versöhnung des Widerstreites
zwischen Kopf und Körper zu bilden, wie dem unbekannten
Griechen einer unbekannten Zeit in dein Werke der Villa
Albani einst gelang. Goethe hat das Problem eines Ringens
zwischen Geist und Körper mehr als einmal dichterisch ge-
formt. In dem Widerstreite zwischen einer glühenden, phan-
tastisch herrschenden Seele mit einem Körper, der zu dem
verworfenen Materiale gehörte, lag Leopardi's Schicksal. Das
ewig Athemlose seines Wesens erklärt sich von diesem einen
 
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